1 Wilhelm von Humboldt 1798. Zu Goethes ›Herrmann und Dorothea‹ und der Problematik einer dichterischen Aktualität
Verstehen setzt das schon einmal Erkannte voraus. Im Gegenstand objektiviert sich, woran Dichtung und Interpretation anschließen können. Zwischen ihnen vermittelt eine Rationalität, die gleichwohl ihre ästhetische oder hermeneutische Eigenart bewahrt. Wie kann man diesen Vorgang näher charakterisieren? Oft hat man es sich in der Interpretationsgeschichte leicht gemacht und das Gemeinsame in einem dritten, im weiteren Sinn ›kulturellen‹ Raum gesucht – dabei beginnen die Schwierigkeiten des Verstehens erst, wenn sowohl der Autor als auch der Interpret auf jeweils ihre Weise diesen ihnen durchaus geläufigen Raum verlassen und negieren, um ihre Ziele zu erreichen.
Doch wie weit reicht die ästhetische Rationalität, mit der die Interpretation rechnen kann? Die methodische Kritik setzt die ästhetische voraus, und in das Verstehensproblem dringt das Problem ästhetischer Wertung ein. Die philologische Kritik mag dabei über die Grenzen der Werke hinaus gehen, um sie so zu bestimmen – sie gewinnt aus den Umwegen, die zu nehmen sie sich genötigt sieht, den Standpunkt, um auch die eigenen Vorstellungen, Werte, Institutionen und deren Grenzen zu analysieren. Indem man fragt, wie Goethe etwa benutzt wurde, tritt man in Distanz zum eigenen kulturellen Rahmen, um zu rekonstruieren, was Goethes Werke ursprünglich wollten, und man prüft kritisch, wie weit Goethe dabei ging.
Allgemeine kulturelle Ansichten besitzen für Literaturwissenschaftler gemeinhin eine große Anziehungskraft und wirken in das Fach hinein, überschreiten also Grenzen, die über die Kritikfähigkeit des Interpreten wachen. Die nötige Dialektik wird selten ausgespielt: Das Resümee von außen, das den Zusammenhang will, das auch an die kulturelle und die ethische Verantwortung erinnert und schließlich mit der Literatur Verbindung hält, sollte innen zerlegt und erneuert werden. Doch in der Geschichte der Interpretation halten die Trennungen gerne vor. Lange hat eine enge, spezialisierte und daher erfolgreiche Philologie sich eingekapselt und die eigenen ästhetischen Urteile verdrängt. Auch das war kulturell verankert. Fehlt diese Dialektik, kann man immerhin – von heute aus – die Frage an das Werk richten, ob es selbst genügend ästhetische Kraft besitzt, um sich, hätte man diese seine Kraft nur gewürdigt, gegen eine Interpretationsgeschichte zu wehren, deren Voraussetzungen das Werk in zumindest abstrakter Weise kennen und vorwegnehmen kann.
Daher kehre ich im folgenden – mit historischen und systematischen Absichten – zu den Anfängen der deutschen Literaturwissenschaft zurück, zu Wilhelm von Humboldt,1 dessen Vorschlägen kein institutioneller Erfolg beschieden war. Humboldt hat auf den ästhetischen Eigensinn geachtet, der das Werk von allgemeinen Ansichten entfernt, die in den Blick kommen, je nachdem welche Grenzen es zieht. Es sind Ansichten in der Form, die das Werk ihnen gibt. Humboldt versucht zwei Wege geltend zu machen, die dieser Eigensinn nehmen kann, um sich durchzusetzen, und begründet beide philosophisch. Zum einen achtet er auf die Gattungsgestalt, zum anderen begründet er sprachlich: in den Wörtern eines literarischen Werks dessen Unübersetzbarkeit. Auf prägnante Weise und individuell, sei es in der Gattung oder in den Wörtern, bringe der Dichter jeweils seine Bildungswelt auf einen Punkt.
Diese beiden Wege möchte ich durch zwei Beispiele verdeutlichen und gegeneinander abwägen. Humboldt legt in seiner Abhandlung über Goethes Epos ›Herrmann und Dorothea‹, die im Jahr 1799 erscheint,2 Kants ästhetische Kritik aus und prüft, ob Goethes Gattungsinterpretation der antiken Kunst gewachsen ist. Eine Ordnung stehe der anderen gegenüber, und Ruhe sei ihr jeweiliger Sinn. Doch Humboldt erkennt Goethes besondere, historische, moderne Situation. Die empirische Negation einer philosophischen Erwartung zeigt ihm, wie unmöglich Goethes Projekt ist. Humboldt scheitert in dem Versuch, Kants ›Natur‹, die sich im Epos realisiere, mit Goethe und seiner Bildung gleichzusetzen. Ebenso bemerkt er bei seiner Übersetzung des ›Agamemnon‹ von Aischylos, die er gleichzeitig beginnt, aber erst viel später veröffentlicht (1816),3 daß die fremden Wörter des Dichters ihn in der Praxis zwingen, einen vorgefaßten, totalen Bildungssinn zu individualisieren. Die Einzigartigkeit des Sinns, den die Wörter in ihrer Zeit erreichen, verhindern in dieser Sicht, sie später platt zu aktualisieren. Die Sprachpraxis drängt dabei stärker auf Individualität als eine (enttäuschte) philosophische Erwartung.
›Bildung‹ fördert auf diese Weise den Sinn für die historische Partikularität der Werke. Man nimmt ihr diesen Blick, wenn man sie in einem anthropologischen Sinn versteht oder als allgemeinen Wertekosmos interpretiert. Die Versuchung einer unmittelbaren Verständigung ist seit jeher groß, da ›Bildung‹ nicht nur den Schaffensprozeß prägt, sondern auch zur – unerhört reflexiven – Leitvorstellung der Philologie damals wird. Humboldts Analysen zeigen, daß Dichtung und Philologie sich jeweils innerhalb ihrer eigenen Logik von der gemeinsamen Leitvorstellung, die rasches Einverständnis verspricht, abkehren müssen, um zu der Besonderheit zu gelangen, die eine literarische Hermeneutik voraussetzt und einlösen will. Im ›Wort‹ ist das vielleicht eher zu leisten als in der Gattung. Daß Humboldt systematisch darauf verzichtet und sowohl für die Gattungsanalyse als auch für die Übersetzung Verfahren findet, das Anarchische der Bildung zu heilen, sei es sozialutopisch oder im Rhythmus der Übersetzung, hat durchaus strategische, bildungspolitische Gründe. Goethe macht es ihm auf seine Weise vor.
Die Gattung angesichts des Bildungsprogramms
Ein erfolgreiches Werk, ein Werk, dessen Sinn mit dem Geschmack seiner Leser eine lange Zeit übereinstimmt, das aber heute den Interpreten langweilt oder lachen macht, weckt den Verdacht, es besitze wenig ästhetischen Eigensinn – Eigensinn, der das Werk sowohl vor der modischen Begeisterung wie auch vor dem nicht weniger modebedingten Vergessen schützen hätte können. Ist Goethes ›Herrmann und Dorothea‹, 1796/97 entstanden, ein solches Werk? Die Geschichte Herrmanns, der sich in Dorothea verliebt, die vor den politischen Wirren im Gefolge der französischen Revolution geflohen ist, scheint in reiner Weise die Werte des deutschen Bürgers zu spiegeln und sowohl die Familienideologie wie seinen frankreichfeindlichen Patriotismus zu bestätigen: Herrmann versöhnt seine ökonomischen Interessen mit seiner Liebe durch die Ehe und schützt diese Ehe in der abgeschlossenen, ruhigen Welt einer deutschen Kleinstadt. ›Herrmann und Dorothea‹ wurde »zu einem Hausbuch des deutschen Bürgertums«4 im 19. Jahrhundert; die Germanisten sahen darin bis zum Ersten Weltkrieg das Hauptwerk Goethes.5 Danach geriet das Epos zusehends in Vergessenheit.
Die Rezeption hat sich stets auf die Gattungsfrage konzentriert. Geschichtsphilosophische Gedanken stehen in der Forschungstradition neben Anweisungen zum Metier und versuchen oft dieses zu begründen – mit Recht achtet man auf das Metier, denn im Metier selbst hat Goethe zu Philosophie und Ästhetik Stellung genommen (freilich bleiben die Begründungen und inwiefern sie berechtigt sind auf einem anderen Brett). Goethes folgender Satz enthält das und steht daher meist im Mittelpunkt: »Eine Haupteigenschaft des epischen Gedichts ist, daß es immer vor und zurück geht, daher sind alle retardierenden Motive episch.« 6 Der Satz fällt in einem Brief an Schiller aus dem Jahr 1797; im selben Jahr faßt Goethe in dem kurzen Text ›Über epische und dramatische Dichtung‹ die gemeinsame Gattungsdiskussion zusammen. Goethe leitet den Gegensatz von der »Natur des Menschen«7 her, ein philosophischer Standpunkt, und scheidet zwischen Rhapsoden und Mimen (Schauspielern) – die Gattungen folgten ihnen. Ein Rhapsode würde das Epos vortragen, als ob es vergangen wäre, er hätte den Überblick, während der Schauspieler das Drama vorantreibe, unruhig ob des noch ungewissen Ausgangs. Der Rhapsode wird »nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm überall folgen«8.
Die Gattung von ›Herrmann und Dorothea‹ zu bestimmen, ist seit jeher schwierig. Davon zeugen die verschiedenen Versuche bis auf den heutigen Tag: man sprach anfangs von Idylle (Klopstock), bürgerlicher Epopöe (Humboldt), idyllischem Epos (Hegel). Der Wechsel des sujets erfülle angesichts veränderter historischer Verhältnisse die Gesetze der Gattung; in seinen ›Vorlesungen über die Ästhetik‹ argumentiert Hegel: »Die epische Poesie hat sich deshalb aus den großen Völkerereignissen in die Beschränktheit privater häuslicher Zustände auf dem Lande und in der kleinen Stadt geflüchtet, um hier die Stoffe aufzufinden, welche sich einer epischen Darstellung fügen könnten. Dadurch ist denn besonders bei uns Deutschen das Epos idyllisch geworden«9. In dem Maß jedoch, in dem das Bürgertum historisch zum Erfolg eilt, sieht die Goetheforschung in der Gattung die Möglichkeit, den Bildungsgehalt des Werks zu kommentieren. Das Epos Homers, an das Goethe, vorzüglich in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, anknüpft, soll sowohl der Nobilitierung des Bürgerlichen als auch der Abkehr davon gedient haben. Der Unterschied zwischen Nobilitierung und Abkehr schwindet in den Deutungen dahin, die darauf achten, daß der Stil Homers etwas Fremdes in den Stoff trage. Goethe habe, so Wilhelm Scherer in seiner ›Geschichte der deutschen Litteratur‹ (1883), die »Deutschen ihre eigene häusliche Welt mit den Augen Homers ansehen«10 gelehrt. Friedrich Gundolf hingegen interpretiert die ›italienische und klassische‹ Darstellung später als Distanz gegenüber dem bürgerlichen Gegenstand.11 Insgesamt finden die Verfahren selbst: etwa die Gliederung nach Gesängen, der Hexameter, feste Formeln (»die kluge, verständige Hausfrau«, oder »Doch der Vater fuhr auf und sprach die zornigen Worte«) nur in zweiter Linie Beachtung, etwa als Zeugnis eines Könnens, das wenig wiege angesichts des ›Seelenadels‹ (Gundolf). Paul Michael Lützeler konstatiert Elemente aller Genres und bescheidet sich mit dem Wort von einer ›gemischten Gattung‹; dabei hat er auch Handwerkliches im Sinn und achtet auf die dramatischen Elemente, die in das Epos eingehen: die knappe Fabel, der szenenhafte Aufbau, Dialoge und die Spannung auf das »potentiell tragische Ende« hin.12 Doch jenseits der rhetorisch-stilistischen Figuren konzentriert er sich auf die ästhetische Behandlung der Materie selbst und leitet die Modernität des Werks von den Widersprüchen her, die es prägen.13 Doch tatsächlich bringt das Werk Ruhe in die entfalteten Gegensätze. Verzichtet es nach der epischen Form, die kaum mehr als ein Gewand ist und selten anders gewürdigt worden ist, durch seine ›Bildung‹ auf eine weitere Art der Kritik?
Die Schlüssigkeit jener Deutungen entscheidet sich historisch. Sie gehen zwar von Goethes Unterscheidung zwischen Material und Formgebung aus, prüfen aber nicht hart genug, welchen Wert diese Unterscheidung für die Interpretation des Werks hat. Worin besteht Goethes eigener formaler Wille, von dem er im Briefwechsel mit Schiller ausgeht, angesichts der ideologischen Zugeständnisse, die er selbst einräumt und ihn Zweifel an der Qualität äußern lassen? »In Herrmann und Dorothea habe ich, was das Material betrifft, den Deutschen einmal ihren Willen getan und nun sind sie äußerst zufrieden. Ich überlege jetzt ob man nicht auf eben diesem Wege ein dramatisches Stück schreiben könnte? das auf allen Theatern gespielt werden müßte und das jedermann für fürtrefflich erklärte, ohne daß es der Autor selbst dafür zu halten brauchte.«14 Die Frage, wie eigensinnig die von ihm gewählte Form ist, und was unter Form zu verstehen sei, damit diese Frage sinnvoll wird, muß die Gattungsanalyse leiten. Verbindet man nun herkömmlich den Begriff ›Epos‹ mit dem Begriff der ›Bildung‹, der einer normativen Ästhetik entspringt und bürgerlichen Sinn trägt, so könnte man auf die potentiell ungebärdige Form der Bildung achten. Der Eigensinn des Epischen muß sich angesichts der Dialektik der Bildung erweisen. Sie ist der Probierstein.15
Die Frage ›Erweist sich die Gattung angesichts der Bildung als eigensinnige Form?‹ hat Wilhelm von Humboldt, der die erste große Studie über ›Herrmann und Dorothea‹ schrieb, selbst schon gestellt. Mehr noch, er hat sie im intellektuellen Verkehr mit Goethe und Schiller entwickelt. ›Herrmann und Dorothea‹ war, als es entstand, schon Gegenstand der Literaturwissenschaft: Goethe schreibt an Humboldt, »daß es Ihnen mit angehört und Sie also eine Art von Neigung wie zu einer eignen Arbeit gegen dasselbe fühlen müssen. Es ist nicht eine Höflichkeit, die ich hier sage, denn Sie wissen selbst, wie sehr wir in dem Kreise, in dem wir nun schon eine Zeitlang zusammen leben, uns wechselseitig auszubilden unaufhörlich gearbeitet haben.«16 Humboldt schreibt seine zweihundert Seiten starke Abhandlung ›Ästhetische Versuche. Erster Theil: Über Göthe’s Herrmann und Dorothea‹ ein Jahr nach dem Werk und bringt sie 1799 zur Veröffentlichung. Schiller erkennt schon nach der ersten Lektüre des Manuskripts die epochale Bedeutung, die die Abhandlung in der Geschichte einer ästhetischen Kritik von Literatur besitzt, un...