1 Die subjektive Perspektive auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit
Die Feststellung, dass sich Deutschland unter den Bedingungen von aktueller und vergangener Migration in einem Wandlungsprozess zu einer polykulturellen und multilingualen Gesellschaft befindet, ist nicht neu. In den vergangenen Jahren wurde in zahlreichen Studien und Publikationen auf Deutschlands Status als Einwanderungsland verwiesen, dessen Bevölkerungsstruktur sich nicht erst seit der Anwerbung von so genannten Gastarbeitern differenziert hat (vgl. Maas 2005). Gleichzeitig geht im gesellschaftlichen Diskurs mit diesem Befund jedoch häufig eine negative Bewertung der Einwanderungssituation einher, die sich exemplarisch etwa an den Begriffen „Parallelgesellschaft“ oder „Desintegration“ festmachen lässt (Halm/Sauer 2006: 18; vgl. auch Eichinger/Plewnia/ Steinle 2011 mit Beiträgen zu dem Thema Mehrsprachigkeit und Integration) und die sich nicht zuletzt auch in einem „monolingualen Habitus“ (Gogolin 2008; vgl. auch Tracy 2011 zum „Primat der Einsprachigkeit“) in den Bildungsinstitutionen manifestiert. Bei dem Versuch, diese kontrovers diskutierten Begriffe zu erklären, wird häufig darauf verwiesen, dass MigrantInnen der ersten, aber auch der folgenden Generationen in der Kultur und auch der Sprache ihres Heimatlandes verhaftet blieben. Viele MigrantInnen aber, so stellt etwa Spohn 2006 heraus, verstehen sich als „zweiheimisch“, leben also zwischen den Welten, die sich oftmals nur schwer miteinander vereinbaren lassen. Sie müssen sich, ohne auf vorgefertigte Konzeptionen und Kategorien zurückgreifen zu können, eine transnationale Identität (vgl. etwa Jacquemet 2005) erst erschließen und beziehen sich bei der Konstruktion einer solchen hybriden Identität auf Elemente der Kultur und Sprache des Herkunfts- sowie des Einwanderungslandes (vgl. Badawia 2002; 2003; Erfurt 2003).
Sprache kommt bei der Aushandlung eines solchen polykulturellen oder hybriden Selbstverständnisses von MigrantInnen (vgl. etwa Hinnenkamp 2002; 2007) eine zentrale Rolle zu. Nicht nur linguistische, sondern auch etwa soziologische (etwa Tertilt 1996) und pädagogische (siehe Fürstenau 2005; 2009; Gogolin/Krüger-Portratz/Neumann 2005) Ansätze befassen sich daher mit dem Thema der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit und verweisen immer wieder auf den zentralen Zusammenhang von Sprache und Identität (Ohm 2008). Aus linguistischer Perspektive werden bei der Frage nach der sprachlichen Konstruktion von Identität im Kontext von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit etwa Praktiken wie Codeswitching (Auer 1998; 2000; Hinnenkamp 2005; 2010), Sprachwahlpräferenzen (Aslan 2004; Cindark 2004; Cindark 2011), Ethnolekte (Androutsopoulos 2011; Auer 2003; Dittmar 2010a; Keim 2011; Wiese 2003, im Besonderen zu prosodischen Eigenschaften siehe Kern 2008; Kern/Selting 2006a, b), rituelle Beleidigungen (Günthner 2011), das Etablieren der Kategorie „MigrantIn“ (Keim 2005) und anderer gruppeninterner Benennungspraktiken (Bierbach/Birken-Silvermann 2007), aber auch Ethnolektstilisierungen (Androutsopoulos 2001a, b; Deppermann 2007a, b; Keim 2002a) bzw. der Erwerb des Türkischen durch nicht-türkische Jugendliche (Dirim/Auer 2002; 2004) untersucht, wobei sowohl geschrieben- wie auch gesprochensprachliche Praktiken von Mehrsprachigkeit fokussiert werden können (Androutsopoulos 2006a, b). In einigen der hier nur überblicksartig und exemplarisch genannten migrationslinguistischen Studien finden sich zudem Analysen von (ethnographischen) Interviews, in denen die bilingual aufgewachsenen SprecherInnen ihr eigenes Sprach(misch)verhalten reflektieren und bewerten. So wird auch die subjektive Perspektive multilingualer SprecherInnen auf ihre Sprachnutzung zunehmend in den Blick genommen, wenn mit dem methodischen Instrument der Sprachbiographie (Fix/Barth 2000; Franceschini 2002; Tophinke 2002) Reflexionen und Einstellungen der multilingualen SprecherInnen zum Erwerb und zur Nutzung mehrerer Sprachen erhoben und ausgewertet werden.
Die hier vorliegende Untersuchung über Spracheinstellungen zu Mehrsprachigkeit von vietnamesisch-stämmigen Frauen und Männern in Deutschland gliedert sich in dieses Forschungsfeld ein und geht mit einem gesprächsanalytischen Ansatz den Fragen nach, wie die deutsch-vietnamesisch mehrsprachig Aufgewachsenen in der narrativen Rekonstruktion ihrer sprachbiographischen Erinnerungen Spracheinstellungen zu Mehrsprachigkeit verbalisieren und wie sie in und mit diesen Spracheinstellungsäußerungen sprachliche Räume konstruieren, innerhalb derer sie sich eine Position zuweisen und damit eine mehrsprachige Identität (vgl. Block 2008) herstellen. Im Folgenden sollen zunächst verschiedene Desiderate bei der Erforschung von Sprachbiographien und Spracheinstellungen mehrsprachiger SprecherInnen in Deutschland dargestellt werden, um hieraus im Anschluss die forschungsleitenden Fragen für die vorliegende Untersuchung abzuleiten.
dp n="17" folio="3" ? 1.1 Zum Forschungsfeld der germanistischen Migrationslinguistik
Auch wenn sich die germanistische Migrationslinguistik in den vergangenen Jahrzehnten methodisch und thematisch zunehmend ausdifferenziert hat, lassen sich in Hinblick auf die bislang fokussierten Untersuchungsgruppen zwei Desiderate ausmachen: So können die Befunde zu multilingualen Sprachbiographien und Spracheinstellungen ergänzt werden durch die Erforschung sprachlicher Verfahren bislang noch nicht in den Blick genommener Gruppen. Frühe Arbeiten in diesem Bereich haben sprachliche Praktiken von „GastarbeiterInnen“ etwa aus Italien und der Türkei zum Gegenstand (exemplarisch Keim 1978; 1984; Di Luzio/Auer 1984; 1986); auch die Mehrsprachigkeit der vor allem in Großstädten aufwachsenden zweiten und dritten Generation wird in migrationslinguistischen Studien zum Untersuchungsgegenstand gemacht (Aslan 2004; Cindark 2004; 2011; Dirim/Auer 2004; Keim 2006; 2007; 2011; Wiese 2003; 2012). Mit dem Ende der Sowjetunion wächst zudem das linguistische Interesse an russlanddeutschen Sprachbiographien (Amelina 2008; Anstatt 2011; Berend 2011; Meng 1995; 2001; Meng/Protassova 2003; Roll 2002). Diese exemplarisch genannten Untersuchungen nehmen somit die größten Zuwanderungsgruppen Deutschlands in den Blick (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009), orientieren sich zugleich jedoch vornehmlich an solchen Einwanderungsgruppen, die häufig in Zusammenhang mit Sprach- und Integrationsproblemen genannt werden (siehe etwa Wiese 2011a zum Thema „doppelte Halbsprachigkeit“). Mit dieser Schwerpunktbildung wird also nur ein Ausschnitt der mehrsprachigen Praktiken in Deutschland und der jeweiligen Einstellungen der SprecherInnen zu diesen Praktiken erfasst; neuere Arbeiten werfen in diesem Zusammenhang die Frage auf, inwiefern LinguistInnen selbst zu „Ideologiemaklern“ (Androutsopoulos 2011: 100) werden und somit zur Perpetuierung dieser mehrsprachigkeitsbezogenen negativen Sprachideologien beitragen (siehe auch Androutsopoulos 2010). Zwar finden sich auch erste Untersuchungen zu mehrsprachigen SprecherInnen aus anderen EU-Ländern (Fürstenau 2005; 2006; Ricker 2000b) sowie Sprachbiographien mehrsprachiger SprecherInnen aus Übersee (Du Bois 2007; 2010; Du Bois/Baumgarten 2008), jedoch bleibt die gesamte Gruppe ostasiatischer MigrantInnen in der Migrationslinguistik nahezu vollständig unbeachtet (eine Ausnahme ist etwa Heller 2012). Die vorliegende Untersuchung zu Sprachbiographien und Spracheinstellungen mehrsprachig aufgewachsener vietnamesisch-stämmiger Frauen und Männer in Deutschland versteht sich somit als Ergänzung der bisherigen linguistischen Forschung zu multilingualen Sprachbiographien in Deutschland.
Ein weiteres Desiderat im Forschungsfeld der germanistischen Migrationslinguistik lässt sich daraus ableiten, dass sich ein Großteil der aktuellen migrationslinguistischen Studien auf sprachliche Praktiken und Einstellungen von Jugendlichen bzw. Adoleszenten der zweiten Generation bezieht (exemplarisch etwa Auer 2003; Bierbach/Birken-Silvermann 2004; Deppermann 2007a; Hinnenkamp 2000; Keim 2002a; 2005; Keim 2007; Keim/Knöbl 2007; Wiese 2012; vgl. auch Bucholtz/Skapoulli 2009). Die Auswahl dieser Altersgruppe wird meist dadurch begründet, dass die Adoleszenz eine identitätsrelevante Umbruchzeit darstellt (vgl. etwa Deppermann/Schmidt 2003, Schwitalla 2010: 231). Werden die Spracheinstellungen und mehrsprachigen Praktiken postadoleszenter bzw. erwachsener SprecherInnen untersucht, so handelt es sich hierbei meist um MigrantInnen der ersten Generation, die also nicht im Kindes- oder Jugendalter in Deutschland aufgewachsen sind (exemplarisch Erfurt/Amelina 2008; Ricker 2000a; 2000b; Du Bois 2010). Ansätze, die im Längsschnitt verfolgen, wie sich individuelle Spracheinstellungen und Reflexionen über Sprachverhalten im biographischen Verlauf ändern, stehen bislang noch aus (vgl. Androutsopoulos 2001c: 74). In der hier vorliegenden Untersuchung sollen dagegen Sprachbiographien und Spracheinstellungen von postadoleszenten SprecherInnen der 1,5. und der zweiten Generation, die in Deutschland zweisprachig aufgewachsen sind, fokussiert werden: Die interviewten vietnamesisch-stämmigen Frauen und Männer sind im Alter zwischen 21 und 29 Jahren. Somit wird die sprachliche Rekonstruktion von Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit aus einer zeitlich von der Adoleszenz als Phase der Identitätsfindung abgetrennten biographischen Perspektive untersucht.
1.2 Zur situativen Einbindung von Spracheinstellungsäußerungen
Wie nun ist der Gegenstandsbereich der in den Sprachbiographien verbalisierten Spracheinstellungen zu migrationsbedingter Mehrsprachigkeit zu konzeptionalisieren? Der methodische Zugang zu Spracheinstellungen, als ein zentraler Bereich der Laienlinguistik (vgl. Antos 1996; Niedzielski/Preston 2000), erfolgte bislang über verschiedene Instrumentarien. Schriftliche Befragungen verbunden mit der Aufforderung, Einschätzungen auf einer Likert-Skala vorzunehmen, oder matched-guise-Erhebungen (vgl. Garrett 2010) stellen dabei gängige methodische Verfahren dar. Aber auch die Verbalisierung von Spracheinstellungen in Gesprächen und Interviews wird in einigen Untersuchungen zum Gegenstand gemacht (vgl. Preston 1994; Plewnia/Rothe 2011; Heinz/Horn 2013).
In einer grundlegend kognitiven Ausrichtung werden Einstellungen, und spezifischer Spracheinstellungen, verstanden als „predispositions to respond to (speakers of) specific language/speech styles and language situations with a certain type of (language) behavior“ (Vandermeeren 2005: 1319). In den oben genannten Untersuchungssettings soll also auf Einstellungen im Sinne eines relativ stabilen mentalen Konzepts bzw. einer mentalen Prädisposition geschlossen werden. Wie aber geht man in bei einer solchen Konzeptualisierung von Einstellungen mit intraindividueller Variabilität über verschiedene Untersuchungszeitpunkte um (wenn also die gleiche Person zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten unterschiedliche Angaben zu ihren sprachbezogenen Einstellungen macht)? Selbst wenn man mit Preston 2010c in diesen Fällen nicht davon ausgeht, dass sich die individuellen Spracheinstellungen zwischen den Untersuchungszeitpunkten geändert haben, sondern stattdessen erhebungssituationsinduzierte Einflüsse annimmt, bleibt unsicher, wie man die jeweiligen situationalen Einflüsse so identifiziert, dass gesichert auf die mental verfestigt zugrundeliegende, tatsächliche Einstellung geschlossen werden kann. Im Sinne der Discursive Psychology kann also gefragt werden: „How can we tell, for example, which expression is the ‚genuine‘ one, and which is merely ‚normative‘? “ (Potter/Wetherell 1987: 54)
Neue, an diesen Fragen der Discursive Psychology angelehnte Ansätze zur Erforschung von Spracheinstellungen begreifen Einstellungen entsprechend als von den jeweiligen Äußerungsbedingungen geprägte Produkte, die in der Interaktion mit anderen hervorgebracht und aus diesem Grund auch in diesem Geneseprozess beobachtet und analysiert werden müssen (vgl. Dailey-O’Cain/Liebscher 2011b; Laihonen 2008; Tophinke/Ziegler 2002; 2006; Ricker 2003; Winter 1992; Liebscher/Dailey-O’Cain 2009). Spracheinstellungsäußerungen müssen bei ihrer Analyse somit immer an den jeweiligen Gesprächskontext zurückgebunden werden, in dem und für den sie entstanden sind. Dieses interaktionale Vorgehen trägt also der Tatsache Rechnung, dass Spracheinstellungen in Interaktionen entstehen, dort zirkulieren und auch bearbeitet werden.
The study of language attitudes-in-interaction begins with the premise that attitudes are not static, i.e. they are not fixed in the minds of individuals and easily retrieved. Instead, they are constructed in interactions through negotiation with interactants, in specific circumstances and with specific interactional intentions. Thus, language attitudes are context dependent in at least two ways: they emerge within the context of the interactional structure, and they are expressed under the influence of the situational context […]. (Liebscher/Dailey-O’Cain 2009: 217)
Die vorliegende Arbeit versteht sich dieser diskursiv-konstruktivistischen Modellierung von Spracheinstellungen entsprechend als ein Beitrag zu der Frage, inwieweit die ProbandInnen die Formulierung von mehrsprachigkeitsbezogenen Einstellungsäußerungen im Rahmen der narrativen Rekonstruktion ihrer Sprachbiographien auf die jeweiligen Interaktionsbedingungen anpassen. Hieraus ergibt sich, dass eine Rückbindung an die Teilnehmerkonstellation und die sprachlich zu bearbeitenden kommunikativen Aufgaben in dem jeweiligen Erhebungskontext, hier: an das Instrument des narrativ-sprachbiographischen Interviews, erfolgen muss.
1.3 Das sprachbiographische Interview als Interaktion
Bei der Erforschung der Mehrsprachigkeitssituation in Deutschland nehmen qualitative Verfahren in der bisherigen linguistischen Migrationsforschung einen großen Raum ein (vgl. etwa Meng 2001; Keim 2007; Hinnenkamp 2000; 2005). Ein Instrument für die Erhebung von Sprachbiographien, das sich in sozialwissenschaftlichen, aber auch linguistischen Studien etabliert hat, ist das narrative Interview (vgl. Küsters 2009; Schütze 1977; 1983; 1987). Den interviewten Personen soll hierbei möglichst viel Raum und Zeit geboten werden, um ihre eigene Sprachbiographie erzählend darlegen zu können; die InterviewerInnen sollen das Interaktionsgeschehen lediglich unter dem Prinzip der Zurückhaltung (Schütze 1984: 79) steuern.
Zwar werden Interviewpassagen in den meisten Studien zu Sprachbiographien und Spracheinstellungen in transkribierter Form wiedergegeben, jedoch beziehen sich viele Analysen meist nur auf die inhaltliche Seite des Gesagten (vgl. exemplarisch Dirim/Auer 2004: 135). Das Interview wird somit vornehmlich als Informationsquelle, weniger aber als Interaktion und soziale Praxis verstanden (siehe auch Talmy 2010; 2011; Talmy/Richards 2011). Die sprachliche Ausgestaltung (Welche sprachlichen Mittel nutzen die SprecherInnen, um über ihre Sprachgewohnheiten zu reflektieren?) und der interaktionale Kontext dieser Äußerungen (Wie werden Spracheinstellungsäußerungen in dem jeweiligen Gesprächskontext durch die InterviewerInnen oder die Interviewten selbst relevant gemacht?) werden bei den Analysen von Interviewsequenzen größtenteils nicht betrachtet. Eine systematische interaktionale und gattungsspezifische Analyse von sprachlichen Verfahren bei der Formulierung von Spracheinstellungen zu migrationsbedingter Mehrsprachigkeit multilingualer SprecherInnen ist bislang also ein Forschungsdesiderat geblieben. In der vorliegenden Untersuchung wird das sprachbiographisch-narrative Interview dagegen mit dem Konzept der kommunikativen Gattungen (Günthner/Knoblauch 1994; Luckmann 1997) gefasst und entsprechend den methodischen Prinzipien der Konversations- bzw. Gesprächsanalyse untersucht; bei den zur Formulierung von Spracheinstellungsäußerungen verwendeten sprachlichen Mitteln wird im Sinne der Interaktionalen Linguistik (Selting/Couper-Kuhlen 2000; Couper-Kuhlen /Selting 2001) nach ihrer jeweiligen kommunikativen Funktion und ihrer sequentiellen Einbettung gefragt.
1.4 Sprachliche Konstruktion von deutsch-vietnamesischen Sprachräumen
Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, anhand eines Korpus von sprachbiographischen narrativen Interviews mit vietnamesisch-stämmigen Frauen und Männern die in diesem Kontext hervorgebrachten Äußerungen von Einstellungen über Mehrsprachigkeit in ihrer interaktionalen Einbettung und sprachlichen Ausgestaltung zu untersuchen. Die methodische Grundannahme ist also, dass Spracheinstellungen, die in der Interaktion mit anderen geäußert werden, in Rückbezug an diesen Entstehenskontext ausgewertet werden müssen. Die Analyse von Spracheinstellungsäußerungen kann somit nicht von ihrer funktionalen Einbindung in den Gesamtkontext des Interviews abstrahiert werden; entsprechend muss ebenso in den Blick genommen werden, welche sprachbiographischen Erlebnisse die Interviewten in ihren Narrationen rekonstruieren. Spezifisch soll untersucht werden, wie die Interviewten in ihren Spracheinstellungsäußerungen Sprachräume konstruieren, in denen sie sich selbst eine Position als mehrsprachige SprecherInnen zuweisen (vgl. Liebscher /Dailey-O’Cain 2013). Die erhobenen sprachbiographischen Interviews werden also als Interaktionen verstanden, in dem die Interviewten (in Interaktion mit der Interviewerin) ihre Identität als mehrsprachiges Individuum sprachlich konstruieren. Folgende Fragen sind somit für die vorliegende Untersuchung analyseleitend:
- – Welche kommunikativen Aufgaben müssen die Interviewten im Interaktionskontext des sprachbiographisch-narrativen Interviews bearbeiten? Welche sprachlichen Verfahren nutzen die Interviewten zur Bearbeitung dieser kommunikativen Aufgaben?
- – Welche sprachlichen Mittel verwenden die Interviewten bei der Formulierung ihrer Spracheinstellungsäußerungen in der Interviewinteraktion?
- – Wie betten die Interviewten ihre Spracheinstellungsäußerungen sequentiell in den bisherigen Interviewverlauf ein?
- – Inwieweit sind Spracheinstellungsäußerungen in Bezug auf die zu ihrer Verbalisierung verwendeten sprachlichen Mittel und den sequentiellen Aufbau durch den Gesprächskontext „Interview“ beeinflusst?
- – Welche sprachlichen Räume konstruieren die Interviewten bei der narrativen Rekonstruktion ihrer sprachbiographischen Erlebnisse als vietnamesisch-deutsch zweisprachig Aufgewachsene? Wie werden diese sprachlichen Räume strukturiert?
- – Welche Position innerhalb dieser Räume schreiben sich die Interviewten selbst zu; wie stellen die also eine Identität als mehrsprachiges Individuum im Kontext des Interviews her?
Im Anschluss an eine theoretische Aufarbeitung zu Modellierungen von Spracheinstellungen im Rahmen der Laienlinguistik und zu Ansätzen der sprachlichen Konstruktion von Identität (Kapitel 2) wird im dritten Kapitel das Erhebungsinstrument des sprachbiographisch-narrativen Interviews eingeführt und methodisch im Hinblick auf einen gesprächs- und konversationsanalytischen Zugang reflektiert. Kapitel 3 beinhaltet außerdem die Vorstellung der Untersuchungsgruppe vietnamesisch-stämmiger Frauen und Männer in Deutschland sowie die Beschreibung des für diese Arbeit erhobenen Interview-Korpus. Die folgenden Analysekapitel befassen sich mit der sprachlichen Bearbeitung der kommunikativen Aufgaben im Interview (Kapitel 4 zu Verfahren der Strukturierung, Rezipientenorientierung und Erinnerungsarbeit) und mit der sprachlichen Ausgestaltung von Spracheinstellungsäußerungen (Kapitel 5 zu Verfahren sprachlicher Vagheit und Explizitheit). In einem weiteren Analyseschritt wird dann untersucht, welche Sprachräume die Interviewten in ihren Sprachbiographien konstruieren und wie sie diese in ihren Erzählungen strukturieren (Kapitel 6). Das abschließende Kapitel 7...