1 Einleitung
„Die Bedeutung der Atlantik-Pacifik-Eisenbahn für das Reich Gottes“ – so lautet der Titel einer von dem Missionswissenschaftler Carl Heinrich Christian Plath im Jahre 1873 herausgegebenen Festschrift für Friedrich August Gottreu Tholuck. Die Schrift stellt eine Reflexion über die als „Weltereignis“ verstandene Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn dar und setzt sie in Bezug zu Christentum und Kirche. Dies geschieht mit Hilfe des Reich-Gottes-Begriffs, der für Plath für die intensive und extensive Verbreitung allgemein des christlichen Glaubens bzw. in institutionalisierter Form der Kirche steht. Die Verbreitung des Christentums – die durch den Bau der Eisenbahn neue Möglichkeiten hat – ist für Plath demnach gleichbedeutend mit der Förderung des Reiches Gottes. Intention seiner Abhandlung ist es
daran zu erinnern, der christliche Glaube sei auch in dem Sinne Universalreligion, daß das Universum mit allem, was es in sich begreift, seiner Verbreitung und seinem Fortbestande den wesentlichsten Vorschub leisten müsse, und wie insbesondere jeder einzelne Zweig menschlichen Arbeitens und Wirkens von ihm Förderung erfahren hat und weiter erfährt, so fördert derselbe umgekehrt in einer Art von Dankbarkeit die großen Zwecke, welche durch das Christenthum verfolgt werden.
Plaths Vorstellung vom Reich Gottes ist in seiner Gleichsetzung mit Christentum und Kirche zwar undifferenziert – gleiches gilt für manche seiner Schlussfolgerungen – doch ist die Themenwahl seiner Abhandlung bemerkenswert und verdeutlicht die Präsenz des Begriffs im Denken seiner Zeit: Plath verwendet den Reich-Gottes-Begriff mit großer Selbstverständlichkeit, die ebenso auffällt wie die Tatsache, dass er ihn auf eine technische Innovation anwendet. Lebensweltliche Phänomene werden somit in wechselseitiger Abhängigkeit vom Reich Gottes erschlossen. Plath legt die von ihm wahrgenommene Verflechtung von Christentum und Gesellschaft, Welt und menschlichem Handeln in derselben dar und fordert –argumentativ gestützt durch den Reich-Gottes-Begriff – nachdrücklich ihre Intensivierung. Daraus resultiert die Annahme eines Ineinanderwirkens von Gott und Mensch, wie die Titulierung der Eisenbahn als „Gottesgabe“ zeigt, die von den Menschen aktiv ergriffen wurde und nun – so Plaths Forderung – auch für die Zwecke des Reiches Gottes genutzt werden solle. Mit der Reflexion über den Eisenbahnbau wird Kritik am modernen Selbstverständnis des Menschen und damit allgemein am Zeitgeist geäußert, zeigt sich doch in ihm ein Mangel an Bewusstsein vom Reich Gottes. Damit ist Plaths Schrift ein charakteristisches Zeugnis für die Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs seiner Zeit, und zwar sowohl was die theologische als auch was die kulturdeutende Anwendung desselben betrifft. In seiner konkreten Themenwahl wie auch in der Durchführung gibt Plath ein eher ungewöhnliches Beispiel für das Aufgreifen der Reich-Gottes-Idee; gerade als ein solches bestätigt es jedoch Althaus’ These, dass die neuere Geistesgeschichte eine Geschichte des Reich-Gottes-Gedankens sei. Der Reich-Gottes-Begriff ist ein v. a. im 19. Jahrhundert vielfach verwendeter Begriff, der nicht nur fundamentale Bedeutung für die Theologie dieser Zeit hat, sondern darüber hinaus in Philosophie, Literatur und Staatstheorie der Zeit rezipiert wird. Zudem erfolgt seine Aufnahme nicht nur in wissenschaftlichen Diskursen, sondern auch in öffentlichen Debatten, er findet seinen Reflex in den persönlichen Glaubenserfahrungen der Zeit wie auch in politischen Überzeugungen. Ihn aus theologischer Perspektive mit seinen Verflechtungen in die Kultur der Zeit hinein näher zu erschließen, hat sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe gemacht.
Zunächst gilt es, den Untersuchungsgegenstand näher einzugrenzen. Zu diesem Zweck werden (a) die Voraussetzungen für die theologische Aufnahme des Begriffs im 19. Jahrhundert dargelegt, die dazu führen, dass er als zentrales Element in theologische Entwürfe der Zeit (ersichtlich an Apostrophierungen als „Zentralgedanke“ oder „höchste Idee“) integriert ist. Dies beinhaltet eine kurze Reflexion über das Theologumenon „Reich Gottes“ als solches wie auch eine knappe Darstellung seiner inhaltlichen Neuprägung durch Pietismus und Aufklärung, letztere vertreten durch Kant. Die sich anschließende (b) Darstellung des gegenwärtigen Forschungsstands zum Reich-Gottes-Begriff verdeutlicht die Absicht dieser Arbeit ebenso wie (c) die Explikation der dieser Arbeit zugrunde liegenden These. Schließlich erfolgt (d) die Darlegung der Vorgehensweise, aus der sich die Grobgliederung in drei rekonstruierende Kapitel sowie eine darauf basierende Perspektivenerweiterung in der Schlussbetrachtung begründet.
(a) Der Begriff des Reiches Gottes ist ein zentrales Theologumenon, das eher als eine Art Leit- oder Grundgedanke, z. T. mit metaphorischer Kraft, zu verstehen ist, denn als ein fest gefügter und inhaltlich klar umrissener Terminus. Abhängig von den kulturellen Gegebenheiten wurde und wird der Reich-Gottes-Begriff inhaltlich jeweils sehr unterschiedlich gefüllt und wird so zu einem Spiegel seiner Zeit. So stellt auch Althaus fest: „Wer uns verraten hat, wie er das ‚Reich Gottes‘ bestimmt, der hat damit ohne weiteres schon ausgesprochen, wie er über die Geschichte und die Kultur denkt, worin er den Beruf der Menschheit und das Ziel der Geschichte sieht.“ Diese Weite des Begriffs ermöglicht es demnach, eine Verständigung über das Selbst, die Welt wie auch Gott durch denselben zu vollziehen, wodurch seine konkrete inhaltliche Ausführung erfolgt. Dies führt zu der Entstehung verschiedener Ideen oder Modelle vom Reich Gottes, also umfassender Vorstellungen desselben, die in einen weiteren theologischen Zusammenhang – zu nennen sind hier insbesondere Gotteslehre, Anthropologie, Eschatologie und Ethik – eingebettet sind.
Auch wenn es im Laufe der Kirchengeschichte stets Phasen gab, in denen die Vorstellung vom Reich Gottes besonders stark rezipiert wurde, so hat doch das Aufgreifen derselben im Pietismus sowie durch Kant ganz wesentlich auf die breite Aufnahme des Reich-Gottes-Gedankens und ihre modernen Ausgestaltungen im 19. Jahrhundert gewirkt. Aus der Traditionslinie des Pietismus lassen sich – bei aller Vielfalt der mit diesem Begriff bezeichneten Phänomene – doch zwei Hauptgedanken ausmachen, die für die Wirkungsgeschichte der Reich-GottesVorstellung relevant sind; diese sind in unterschiedlichen pietistischen Strömungen beheimatet, weisen jedoch eine Verbindung zueinander auf. So kann als ein wichtiges Merkmal unter Aufnahme des Titels einer Schrift Speners die „Hoffnung künftig besserer Zeiten“ benannt werden. Mit dieser Zukunftshoffnung, die eine Erneuerung der Kirche auf Erden erwartet, geht oft eine Wiederbelebung sowie Umprägung des Chiliasmus einher: Die Hoffnung bezieht sich nicht auf ein nahes Weltende, sondern auf ein innerweltliches Friedensreich, das in Verbindung mit der Wiederkunft Christi im Diesseits durchgesetzt wird. Dieses eschatologische Geschehen wird von Gott selbst erwartet; die Hoffnung darauf hat wiederum unmittelbare Auswirkungen im Leben der Menschen, indem sie zur aktiven sozialethischen Wirksamkeit der Menschen führt, die durch das Schlagwort der „Arbeit am Reich Gottes“ gekennzeichnet wird. Dieser pietistisch-heilsgeschichtliche Chiliasmus, der auf Spener selbst zurückzuführen ist, aber auch stark im württembergischen Pietismus beheimatet ist, hat in Bengel seinen prominentesten Vertreter.
Weiterhin gehen grundlegende neue Deutungsmuster des Reich-Gottes-Gedankens auf Kant zurück. Entscheidend hierfür ist die von ihm vollzogene Identifikation von höchstem Gut und Reich Gottes: „Die Lehre des Christenthums, […] giebt […] einen Begriff des höchsten Guts (des Reichs Gottes), der allein der strengsten Forderung der praktischen Vernunft ein Gnüge thut.“ Diese wechselseitige Begriffsbestimmung hat nachhaltigen Einfluss auf die Theologie und insbesondere auf die theologische Deutung des Reiches Gottes. Dies impliziert eine (teilweise) Aufnahme sowohl der moralphilosophischen als auch der geschichtsphilosophischen Gehalte, die Kant dem so bestimmten Begriff des höchsten Gutes beilegt. Hierzu gehört die Deutung desselben als moralisches höchstes Gut des Einzelnen, das mit Gottes Hilfe erreicht werden kann –, und zwar in Form einer Verbindung von Tugend und Glückseligkeit; es tritt zugleich die Deutung des Begriffs als eine – aufgrund geschichtlicher Entwicklung und damit in Gemeinschaft zu erstrebende (jedoch nicht zu erreichende) – ethische Gemeinschaft hinzu, die gleichbedeutend ist mit dem Reich Gottes auf Erden. Indem dieses auch durch gemeinschaftliche Kräfte nicht zu erreichen ist, ist es Gegenstand religiöser Hoffnung. Somit verbinden sich diese individuelle sowie geschichtliche Deutung des höchsten Gutes in einem dritten Gedanken zur Bestimmung des höchsten Gutes: Die Notwendigkeit der geschichtlichen Realität des höchsten Gutes kann nur dadurch erfüllt werden, dass dieses als Reich Gottes auf Erden von Gott selbst gestiftet ist. Innerhalb dieser geschichtlichen Realität ist dann individuelles Handeln, aber auch gemeinschaftliches Streben und damit geschichtliche Entwicklung notwendig – aber auch möglich. Im so verstandenen Begriff des Reiches Gottes bei Kant deutet sich an, dass ein Transzendenzbezug desselben zwar weiterhin gegeben ist, dieser aber gegenüber dem traditionellen theologischen Verständnis weitaus geringer ausgeprägt ist und einem (auch) immanenten Verständnis des Reiches Gottes Platz macht.
Die dargelegten pietistischen und aufklärerischen Gehalte des Reich-Gottes-Gedankens bereiten die breite Aufnahme des Begriffs in der Folgezeit sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht vor. Insbesondere seine Bestimmung zwischen zu erhoffendem und ethisch zu erreichendem Gut sowie, damit in Zusammenhang stehend, zwischen Immanenz und Transzendenz, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, ist rezeptionsgeschichtlich prägend. Unter dem Einfluss der Theologie Schleiermachers – das Reich Gottes ist für ihn das „alles unter sich befassende Bild“ im Christentum, für das sowohl das Wirken Christi als auch die sittliche Aktivität des Menschen konstitutiv sind, die wiederum beide in den Gedanken der göttlichen Weltregierung integriert sind – sowie der Aufnahme von Vorstellungsgehalten u. a. des Deutschen Idealismus, der romantischen Philosophie, der Empfindsamkeit wie auch verschiedener Staatstheorien der Zeit, bilden sich während des 19. Jahrhunderts verschiedene theologische Ansätze heraus, in denen die Reich-Gottes-Idee implizit oder explizit zum tragenden Element systematisch-theologischer Konzeptionen wird. Diese fundamentale Bedeutung führt dazu, dass ihr ein besonders umfassender theologischer Bedeutungsgehalt zukommt: Aussagen über das Reich Gottes bringen Grundlegendes über das Verständnis Gottes, des Menschen und der Welt zum Ausdruck. Für die Theologen des 19. Jahrhunderts, die den Reich-Gottes-Gedanken berücksichtigen, ist charakteristisch, dass sie alle drei Bereiche, insbesondere auch den der Welt, sowie den Zusammenhang dieser drei Bereiche bedenken. Konkret bedeutet dies: Indem vom Reich Gottes die Rede ist, wird über Gott selbst, seine Eigenschaften sowie sein Handeln etwas ausgesagt; auch die Christologie steht hierbei in wechselseitigem Zusammenhang mit der Reich-Gottes-Vorstellung. Da das Reich Gottes das von Gott gesetzte Ziel für den Menschen beschreibt, wird im Rahmen der Reich-Gottes-Idee über den Menschen als solchen, seine Stellung in der Welt und seine Bestimmung, aber auch über seine Verpflichtung und seine Aufgabe reflektiert; er wird als religiöses und sittliches Wesen näher beschrieben. Damit hängt zusammen, dass auch das soziale Gefüge, in dem der Mensch steht, in dieser Zeit beachtet wird; die Welt wird also aus der Perspektive des Reiches Gottes thematisiert, und zwar so, wie sie sich in dieser Zeit darstellt. Hierzu gehört die Beschäftigung mit Gemeinschaftsformen wie Familie, Kirche und Staat ebenso wie mit der Betätigung von Menschen im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich sowie mit der Gestaltung dieser Bereiche, die auf das Reich Gottes bezogen sind.
(b) Der Reich-Gottes-Gedanke des 19. Jahrhunderts ist ein in der aktuellen systematischen Forschungsliteratur weitgehend unbeachtetes Feld; gleiches gilt für die Eschatologie dieser Zeit, die ein verwandtes Thema ist. Als einzige neuere Monographie, die sich mit dem übergreifenden Zusammenhang der Reich-Gottes-Idee im 19. Jahrhundert beschäftigt, ist diejenige Christian Walthers mit dem Titel Typen des Reich-Gottes-Verständnisses zu nennen, die aus den sechziger Jahren stammt. Sie ist zu lesen vor dem Hintergrund, dass sich die Dialektische Theologie dezidiert von einem ihrem Verständnis nach einseitig ethisierten und säkularisierten Reich-Gottes-Gedanken abwendet. Walther benennt gleich im Einleitungsteil die dem entsprechende hermeneutische Voraussetzung seiner Untersuchung, nämlich dass aufgrund des Einflusses der Philosophie – insbesondere des Deutschen Idealismus – auf Theologie und Kirche des 19. Jahrhunderts eine Säkularisierung des Reich-Gottes-Begriffs stattgefunden habe, woraus „eine gefährliche Neigung, den Menschen und sein sittliches Vermögen wie aber auch die staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen zu hypostasieren“ resultiere. Pauschal weist er somit bereits in der Einleitung das Reich-Gottes-Verständnis dieser Zeit dezidiert als falsch zurück. Damit vollzieht er eine Perspektivenverengung, die notwendigerweise zu folgendem abschließenden Urteil führen muss: „Den auf sich selbst gerichteten ...