1.1 Zur Fragestellung
Alfred Goetze hat in seinem Aufsatz über die Ursprünge des Begriffs ‚lutherisch‘ aus dem Jahre 1903 die Namen der Glaubensparteien im Zeitalter der Reformation mit Fahnen verglichen, um die man sich im Kampf sammelt. Auch wenn dieses etwas pathetische Bild heutzutage eher unpassend erscheint, so trifft es doch einen sehr wichtigen Punkt. Es macht darauf aufmerksam, dass Namen nicht immer nur Schall und Rauch sind, wie der Volksmund so gerne behauptet, sondern dass man ihnen in bestimmten Bereichen eine erhebliche Bedeutung beimessen muss. Gerade in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Entstehung der religiösen Parteien im 16. Jahrhundert war das Wort eine scharfe polemische Waffe. Die Begriffe, mit denen man die eigene und die gegnerische Partei belegte, waren mit bestimmten Konnotationen versehen und drückten aus, wie man sich selbst gerne sah und was man von den Anderen dachte. Dabei gingen die Ansichten naturgemäß sehr weit auseinander. Bestimmte Wendungen springen auch dem heutigen Betrachter noch als ‚unfreundlich‘ ins Auge, z. B. wenn Luther und seine Anhänger ‚Häretiker‘ genannt oder die Verfechter der Gegenposition in einer Schrift aus der Zeit des Augsburger Interims als ‚Gottlose‘ bezeichnet wurden.
Doch auch bei Begriffen, die aus heutiger Sicht zunächst harmlos klingen, darf man sich nicht täuschen lassen. Der päpstliche Legat Campeggio schlug beispielsweise 1530 für den Schlussabschnitt der Confutatio die Unterscheidung zwischen ‚altgläubigen Ständen‘ und ‚Neugläubigen‘ vor, Namen, die auch heute noch als neutral gedachte Bezeichnungen immer wieder in der Forschungsliteratur auftauchen. Doch im 16. Jahrhundert, als alles Neue eher suspekt war und man Veränderungen als Rückkehr zu vergangenen, besseren Zeiten verkaufte, barg diese Unterscheidung erhebliches Konfliktpotential. Die schon seit den frühen 20er Jahren als ,Neugläubige‘ Titulierten waren damit folglich überhaupt nicht einverstanden und kündigten auf dem Speyrer Reichstag von 1529 an, man werde noch sehen, wilchs die neue oder christenliche alte lere und di rechte messe seind. Die Confessio Augustana war dann ein entsprechender Versuch nachzuweisen, dass bej vns nichts weder mit der lere noch Ceremonien angenomen ist, Das eintweder der heiligen schrift oder gemeiner Christlichen kirchen Zuentgegen were, dass vielmehr die Gegenpartei in ihrem Verständnis von der Messe eine gar vnerhorte newigkeit, Inn der kirchen Leren eingeführt habe. Der Begriff ‚Neugläubige‘ traf also eine empfindliche Stelle, während ‚Altgläubige‘ im Verständnis jener Zeit der eindeutig ehrenvollere Titel war. Nicht umsonst fand die von Campeggio favorisierte Schlussvariante der Confutatio, vielleicht auf Betreiben Kaiser Karls V., der zu diesem Zeitpunkt auf Ausgleich bedacht war, keinen Eingang in die endgültige Fassung.
Diese Episode verweist auf die besondere Bedeutung, die man den konfessionellen Selbst- und Fremdbezeichnungen beimaß. Es war nicht etwa so, dass man dem Kind einfach nur einen Namen geben musste, sondern die entsprechenden Nomenklaturen brachten sehr viel mehr zum Ausdruck. In ihrer ursprünglichen Funktion dienten sie primär der Selbstdarstellung einer Religionspartei, indem sie das jeweilige Programm sozusagen in Kurzform vermittelten. Hinter einem solchen schlagkräftigen Namen konnte man seine Anhängerschaft sammeln und eine entsprechende Gruppenidentität herausbilden. Im Sinne der Propaganda verbreitete man scheinbar gottgegebene Erkenntnisse über die eigene und die gegnerischen Konfessionen, die die eigene Klientel davon überzeugen sollten, der einzig richtigen Glaubensgemeinschaft anzugehören. In erster Linie geschah dies durch Abgrenzung nach außen, da letztendlich kaum etwas so gut zusammenschweißt, wie ein gemeinsames Feindbild. Mit der Vermittlung des eigenen Selbstverständnisses ging also beinahe automatisch eine möglichst diffamierende Darstellung des Gegners einher. In Reinform wurde das in theologischen Flugschriften und Traktaten praktiziert, in denen man auf die Gegenseite keinerlei terminologische Rücksicht zu nehmen brauchte. Hier konnte man ruhig vom Leder ziehen und sich gegenseitig beschimpfen. Allerdings unterband dies zugleich jede Möglichkeit einer sinnvollen Kommunikation zwischen den Konfessionen. Wollte man auf gleicher Augenhöhe miteinander verhandeln und auf eine Verständigung hinarbeiten, war eine derartige Terminologie also vollkommen ungeeignet; man musste vielmehr Begriffe finden, unter die beide Seiten ihr Siegel setzen konnten. Im Laufe der 1520er Jahre waren die Stände, die der Reformation zuneigten, zu einer nicht mehr ignorierbaren Größe geworden, so dass genau diese Frage virulent wurde, wie man bei offiziellen Anlässen, v. a. auf den Reichstagen, miteinander umzugehen hatte, ohne durch Beleidigungen oder Missverständnisse jede Verständigungsmöglichkeit von vornherein zu unterbinden. Sollte das Reich als Ganzes handlungsfähig bleiben, war die Entwicklung entsprechender terminologischer Kompromisse unumgänglich. Besonders die Bedrohung durch das Osmanische Reich erforderte die Zusammenarbeit aller Reichsstände, aber auch innere Reformen, wie die Organisation des Reichskammergerichts, die Reichspolizeiordnung, eine gemeinsame Münzordnung etc., wären ohne eine überkonfessionelle Verständigung zum Scheitern verurteilt gewesen. Man hatte also die fast unmögliche Aufgabe zu bewältigen, Kommunikation zwischen Gegnern zu fördern, die sich im Prinzip unversöhnlich gegenüberstanden.
Aus diesen ersten Beobachtungen wird bereits deutlich, dass wir es mit verschiedenen Ebenen im Gebrauch der Terminologie zu tun haben. Bislang sind wir auf eine theologisch-publizistische Ebene gestoßen, zu der die Flugschriften und andere polemisierende Texte gehören, und auf eine amtliche bzw. offizielle Ebene, auf der die politische Kommunikation stattfand. Die offizielle Ebene, hier in erster Linie die Institution des Reichstags, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen wird, lässt sich weiter untergliedern, denn die Reichstagsakten stellen keine homogene Größe dar, sondern ein Konglomerat verschiedenster Quellen mit ganz unterschiedlichen Produzenten, Adressaten und Intentionen. Auch hier ist wiederum ein je nach Textsorte unterschiedlicher Gebrauch der Terminologie zu erwarten. So konnten etwa die evangelischen Stände im Rahmen der internen Kommunikation zwischen Fürst bzw. Reichsstadt und ihren Gesandten am Reichstag in Fragen der konfessionellen Selbst- und Fremdbezeichnung wesentlich freier agieren als beispielsweise in einem Schreiben an den Kaiser oder in der Diskussion mit katholischen Ständen, wo jede Bedeutungsnuance des eigenen und gegnerischen Namens eine Rolle spielte.
In diesen Textsorten wird nun abhängig von Gebrauchsebene und zeitgenössischem Hintergrund jeweils eine andere Form von Wissen vermittelt und vorausgesetzt. So diente das Medium der theologischen Flugschriften durch die Weitergabe religiöser Inhalte, wie bereits erwähnt, primär der Abgrenzung und Festigung der eigenen Gemeinschaft sowie der entsprechenden Vermittlung solcher Positionen an breitere Bevölkerungsschichten. Amtliche Dokumente konnten je nach Kommunikationszusammenhang einmal in ähnlicher Weise wirksam werden oder aber unter anderen Umständen versuchen, solche Eindeutigkeiten gerade zu umspielen bzw. ganz zu vermeiden, um die Möglichkeit zu fruchtbarer Kommunikation aufrechtzuerhalten. In diesem Bereich war eher pragmatisches Wissen um politische Abläufe und Kommunikationszusammenhänge gefragt. Der in den jeweiligen Situationen verwendete Name kann dabei gleichsam als Träger der entsprechenden Informationen in sehr verdichteter Form angesehen werden. Die im Zuge derartiger Positionskämpfe entstandenen Nomenklaturen vermögen daher in ihren nach Textsorte, zeitgenössischem Hintergrund, Adressat und Intention verschiedenartigen Nuancierungen interessante Auskünfte über den Stand der Gruppenbildung zu geben. Die entsprechenden amtlichen und theologisch-publizistischen Texte wurden zu Trägern und Vermittlern des konfessionellen Selbstverständnisses mit jeweils unterschiedlichem, der Situation und den Adressaten angepassten Informations- und Kommunikationszweck.
Aus diesen Beobachtungen ergeben sich für die vorliegende Arbeit mehrere Fragestellungen. Zunächst werde ich unter diachroner Perspektive untersuchen, wie sich die Terminologie der konfessionellen Selbst- und Fremdbezeichnung auf den verschiedenen Ebenen entwickelte, wobei die amtliche Ebene, auf der sich die Entstehung der offiziellen Bezeichnungen für die einzelnen Konfessionen vollzog, im Mittelpunkt stehen wird, während die theologisch-publizistische Ebene als Vergleichsschablone dient. Dabei ist von Interesse, wie sich diese Ebenen gegenseitig beeinflussten, inwiefern also die Schriften der Theologen Auswirkungen auf den offiziellen Sprachgebrauch hatten und welche Partei sich dort wie weit mit ihren eigenen Vorstellungen durchsetzen konnte, also die besten Möglichkeiten bewahrte, um über den Namen ihr Programm zu transportieren. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls zu fragen, welche Strategien auf amtlicher Ebene entwickelt wurden, um Konflikte zu vermeiden, Kommunikation zu fördern und terminologische Kompromisse zu ermöglichen. Hier wird besonders auf etwaige sprachliche Unterschiede zwischen der Ebene offizieller überkonfessioneller Kommunikation und interner Kommunikation innerhalb einer Religionspartei zu achten sein. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den drei großen bis 1648 reichsrechtlich anerkannten und durch Anhänger unter den Ständen auf dem Reichstag vertretenen Konfessionen der Katholiken, Lutheraner und Reformierten. Bezeichnungen für reformatorische Kleingruppen, wie etwa die Täufer, die zudem keine Klientel unter den Ständen besaßen, können nur am Rande berücksichtigt werden.
Nach einigen Anmerkungen zur Forschungsgeschichte und zum heutigen konfessionellen Sprachgebrauch ist in einem ersten Schritt eine genaue Klassifizierung des zugrunde liegenden Quellenmaterials notwendig. Die Methode der Textsortenanalyse ermöglicht dabei eine Unterscheidung der einzelnen Dokumente nach Funktion, Adressat, Produzent und jeweiliger Kommunikationssituation. Auf der Basis der hier erstellten Einteilung werden anschließend Texte aus verschiedenen Gebrauchsebenen zu ihren konfessionellen Selbst- und Fremdbezeichnungen befragt, zunächst ausgewählte Flugschriften der theologisch-publizistischen Ebene, anschließend verschiedene amtliche Textsorten, untergliedert nach dem Grad ihrer Öffentlichkeit.
Der in diesem Zusammenhang zu betrachtende Zeitraum ist nach vorne hin auf den Tag genau begrenzt. Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 bilden dabei nicht nur den Auftakt zur Reformation, sondern auch den Beginn des entsprechenden theologischen Schrifttums, in dessen Rahmen in den folgenden Jahren die ersten Bezeichnungen für die sich allmählich bildenden religiösen Parteien entstanden. Auf offizieller Ebene begann diese Entwicklung zunächst mit den päpstlichen Verurteilungsbullen. Der Wormser Reichstag von 1521 befasste sich dann erstmals auf Reichsebene mit diesem Thema. Bis zur reichsrechtlichen Anerkennung der Lutheraner im Augsburger Religionsfrieden von 1555 blieb die jeweils verwendete Terminologie in ständiger Bewegung. Peter Blickle gliedert diesen Zeitraum in insgesamt drei Phasen. In den Jahren bis zum Augsburger Reichstag 1530 fand zunächst die territorialstaatliche Verfestigung der Reformation statt; hier entwickelten sich die Fürsten zu den eigentlichen Trägern dieser Bewegung. Neben den Eckpunkten 1521 und 1530 sind besonders die beiden Speyerer Reichstage von 1526 mit der berühmten Formel, jeder solle es mit der Religion so halten, wie er es sich vor Gott und Kaiser zu verantworten getrauen könne, und von 1529 mit der Protestation der lutherischen Stände von Bedeutung. Die zweite Phase wurde nach Blickle durch die militärische Auseinandersetzung um die Reformation geprägt und reicht von der Gründung des Schmalkaldischen Bundes 1...