Schreiben an den Grenzen der Sprache
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Schreiben an den Grenzen der Sprache

Studien zu AmĂ©ry, KertĂ©sz, SemprĂșn, Schalamow, Herta MĂŒller und Aub

  1. 360 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
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Schreiben an den Grenzen der Sprache

Studien zu AmĂ©ry, KertĂ©sz, SemprĂșn, Schalamow, Herta MĂŒller und Aub

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Über dieses Buch

Die im Band untersuchten Autoren bezeugen Auschwitz und den Massenmord an den europĂ€ischen Juden (KertĂ©sz, AmĂ©ry), das Lager zur Deportation von WiderstandskĂ€mpfern (SemprĂșn), den Gulag (Schalamow), die Erfahrung einer stalinistischen Diktatur (MĂŒller) und die französischen Lager, in denen die spanischen Republikaner interniert wurden (Aub). Sie zeugen von unterschiedlichen Diktaturerfahrungen, den Texten liegen unterschiedliche Fassungslosigkeiten und Versehrtheiten zugrunde. Ihnen gemeinsam ist, dass ihr Schreiben von der Erinnerung an durch Gewalt angetanes Leid ausgeht. Sie suchen eine Sprache, die sowohl die Ästhetisierung als auch den Automatismus vermeidet, die das Vergangene nicht als vergangen behandelt und beruhigend als ĂŒberwunden vermittelt, sondern den Spuren und Narben nachgeht und die noch offenen Wunden bloßlegt.
Ausgangsfragen des Bandes sind: Wie wird Erinnerung an Gewalt und Schmerz in Literatur verwandelt? Welche Mittel literarischer Konstruktion werden dabei entwickelt? Wie wird mit Sprache sowohl das Subjekt neu konstituiert wie auch Versehrtheit bekundet? Inwiefern ist Erinnerungsliteratur auch auf Zukunft bezogen? Die Untersuchung folgt diesen Spuren und entwickelt daraus eine den Autoren eigene Poetik.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783110384703

1 Unsagbar/sagbar

1.1 Sagen, was man nicht sagen kann

1.1.1 Erinnerungsbilder und ErzÀhlperspektive

Imre Kertész, NobelpreistrÀger von 2002, erhielt 2004 auch die Goethemedaille. In seiner Dankesrede beschreibt er eine Szene, die ich an den Anfang stellen möchte, weil sie als erzÀhltes Erinnerungsbild zugleich vom ErzÀhlen ausgeht und darin eine Poetik des ErzÀhlens aufweist.
Es geht um ein Bild, das er sich, wie er sagt, als Erinnerung bewahrt hat:
Eines meiner Bilder zum Beispiel: Ich sitze in eine Decke gehĂŒllt im FrĂŒhjahr 1945 auf dem tragbaren Abort, der vor der Krankenhausbaracke in Buchenwald aufgestellt war, ganz so wie der Herzog von VendĂŽme, als er den Bischof von Parma empfing. Mein Kiefer bearbeitete ein amerikanisches Kaugummi. Mein Blick schweift gelangweilt umher zwischen den Typhusbaracken gegenĂŒber und den etwas entfernteren, noch offenen MassengrĂ€bern, in denen mit Löschkalk ĂŒbergossene Leichen wie Holzscheite liegen. Plötzlich werde ich auf eine unglaubliche Szene aufmerksam. Vom HĂŒgel her nĂ€hert sich eine Gesellschaft von Damen und Herren. Röcke flattern im Wind. Feierliche DamenhĂŒte, dunkle AnzĂŒge. Hinter der Gesellschaft einige amerikanische Uniformen. Sie erreichen das Massengrab, verstummen, stellen sich langsam um das Grab herum auf. Die HerrenhĂŒte werden einer nach dem anderen abgenommen. TaschentĂŒcher werden hervorgeholt, ein, zwei Minuten völlige Bewegungslosigkeit. Dann kommt wieder Leben in das erstarrte Gruppenbild. Die Köpfe wenden sich den amerikanischen Offizieren zu, die Arme werden erhoben und beteuernd ausgebreitet, fallen wieder am Körper zurĂŒck, werden von neuem erhoben. Die Köpfe werden verneinend geschĂŒttelt. [
] Ich verstehe das stumme Schauspiel auch so. Sie wussten gar nichts, niemand wusste irgendwas.6
Eigentlich handelt es sich um zwei Bilder, die zu einer Mikrosequenz ausgearbeitet sind. Am Anfang steht das Bild, das KertĂ©sz von sich selbst hat: ein Bild der Erinnerung, in dem er sich selbst sozusagen von außen sieht, mit Augen, die er sich nur einbilden kann. Was er als Erinnerungsbild aufruft, ist ein bewusst ausgearbeitetes Sprachbild; es wird mit Sprachmitteln konstruiert und entspricht bestimmten Strategien. In diesem Erinnerungsbild sieht der Autor sich in einer sehr unwĂŒrdigen Situation; der Leser kann nur entsetzt sein. Der Sitzende wird aber als gelangweilt beschrieben, womit der Horror als AlltĂ€glichkeit dargestellt und damit nur noch entsetzlicher wird. Außerdem wird der auf dem Abort sitzenden Figur eine historische Parallele zugesprochen, durch die sie in eine ironisch behandelte historische Reihe mit etwas dubiosen Figuren, aber immerhin mit Figuren der Geschichte gesetzt wird. Die skurrile Szene des ungeniert auf seinem Nachttopf sitzenden Herzogs von VendĂŽme wird in den Memoiren des Marquis de Saint-Simon referiert. Und nun, nachdem der Protagonist im schmerzlichen Erinnerungsbild sozusagen mit schwarzem Humor und gewisser Groteske rehabilitiert ist, und zwar durch eine ErzĂ€hlstimme und einen Blick, der gleichsam ‚von außen‘ schaut, kommt es zum zweiten Bild, das eher eine Sequenz ist. Es handelt sich um einen historisch dokumentierten und sehr bekannten Vorgang: Die BĂŒrger Weimars wurden nach der Befreiung Buchenwalds in das Lager gefĂŒhrt, um zu sehen, was dort in ihrem Namen geschehen war. Die Szene wird mit den Augen der auf dem Abort sitzenden Figur, mit den Augen des Opfers beschrieben. Aber indem sie als eine Stummfilmszene geschildert wird, in der die Figuren wie Marionetten erscheinen, die keine Sprache besitzen, sondern nur ĂŒber GegenstĂ€nde (HĂŒte, TaschentĂŒcher) Gestalt gewinnen und nur ĂŒber ihre Gesten gedeutet werden, wirken die Figuren durchaus grotesk. Das Opfer nimmt ihnen die Stimme, könnte man sagen, um selbst zu sprechen. Nun wird die RealitĂ€t aus der Sicht des Leidenden beschrieben, die möglichen Worte der gestikulierenden Figuren sind von Anfang an desavouiert.
KertĂ©sz bringt dieses Bild als ein Erinnerungsbild zum Ausdruck, an das er sich hĂ€lt, um den Schmerz wach zu halten: „Denn, damit er dauert, braucht der Schmerz seine Requisiten. So wie die Leidenschaft, verkommt auch er ohne das lebende Objekt. Ich hatte solche Requisiten in Form von Bildern in mir bewahrt.“7 Die Perspektive des Blickes von außen verweist nicht nur auf die Perspektive, aus der erzĂ€hlt wird. Sie distanziert auch vom eigenen Leiden, verweist auf die Unbeschreibbarkeit. Der ErzĂ€hler kann nur erzĂ€hlen, indem er sich aus sich selbst herausnimmt, um von außen zu schildern. Schreiben steht somit im Kontext von Schmerz und von Erinnerung, die wach gehalten werden mĂŒssen. Sie werden durch Bilder reflektiert, die von Blicken bedingt sind und, sprachlich vermittelt, ErzĂ€hlperspektiven bestimmen – Bilder, die Augenblicke beschwören sollen, sie prĂ€sent machen sollen im Dienste einer Erinnerungsstrategie, eines argumentativen Verfahrens. Im geschilderten Augenblick zeigt sich das Visuelle und Zeitliche, das auf beide Medien verweist, Bild und Schrift. Im gerade kommentierten Bild wechselt dementsprechend auch die ErzĂ€hlzeit ins PrĂ€sens. Nur das (banale) Kaugummi-Kauen markiert eine Vergangenheit, steht fĂŒr die Erinnerung; es ist das einzige Verb im PrĂ€teritum.
Evozierte Bilder, Blicke, Augenblicke: Kunst ist da, um den Augenblick neu zu erschaffen, schreibt Kertész auch. Die Existenzgrundlage des Romans ist die verlorene Zeit:
Gerade weil sie verloren ist. Und weil man dem vergangenen Ich nicht wieder begegnen kann. Ich verstand, wenn ich gegen mein vergÀngliches Ich und gegen die stÀndige Wandelbarkeit der SchauplÀtze ankÀmpfen wollte, musste ich mir, mich auf mein schöpferisches GedÀchtnis verlassend, alles von neuem erschaffen.8
Das GedĂ€chtnis, und mit ihm das Wachhalten der Erinnerung, steht hier in einem produktiven Kontext – in dem von Imagination und Schöpfung. Auch das Erinnern ist vorwiegend narrativ, wie der Roman. Bilder sind Momente, Augenblicke, in denen SimultaneitĂ€t, Gleichzeitigkeit veranschaulicht wird. In diesem Fall geht es auch um die SimultaneitĂ€t von Tragik und Groteske, die im Bild zum Thema wird. Bilder besitzen eine eigene Logik: Ihre Sinnerzeugung funktioniert nicht prĂ€dikativ nach der Ordnung der gesprochenen oder gelesenen SĂ€tze; sie wird in der Wahrnehmung realisiert. Diese Wahrnehmung ist von der SimultaneitĂ€t gezeichnet; sehr unterschiedliche Elemente werden gleichzeitig gesehen. Der in der Zeit ablaufende Diskurs wird gewissermaßen aufgehoben, es dominiert die SimultaneitĂ€t der Wahrnehmung. Diese ermöglicht die Gleichzeitigkeit von Kontrasten und Oppositionen wie zum Beispiel Tragik und Groteske. Es handelt sich bei den mit Sprachmitteln konstruierten Bildern um SimultaneitĂ€tseffekte, die in der ErzĂ€hlung eine eigene FinalitĂ€t erfĂŒllen. Sie lassen die ErzĂ€hlung still stehen und markieren damit einen Einsatz. In diesem Fall konstruiert das Sprachbild aber geradezu eine eigene ErzĂ€hlung, es wird zu einer MikroerzĂ€hlung, indem es zu einer Bildsequenz ausgearbeitet wird. Bei dieser Bildsequenz geht es um die Konstruktion eines Schreibens, das weitgehend von der eigenen Biographie bestimmt ist, und diese wiederum ist von der Erfahrung des Lagers bestimmt.
Ein Schreiben, das sich um die verlorene Zeit dreht, ist in der klassischen Moderne exemplarisch von Proust formuliert worden. Man muss sich nun fragen, wie es um solch ein Schreiben steht, wenn die beschriebene Zeit in die Erfahrung des ‚radikal Bösen‘ fĂŒhrt. Was nimmt es sich vor und warum? Welche ErzĂ€hlstrategien baut es auf? Eine erste Antwort gibt KertĂ©sz, wenn er sein Schreiben als vom Schmerz bedingt erklĂ€rt und darum jene Requisiten braucht, die seinen Schmerz und damit das Schreiben am Leben halten – seine Erinnerungsbilder. Vorausgesetzt wird die Notwendigkeit des Schreibens, eines Schreibens, das die Notwendigkeit des Zeugnisses bekundet, des Bewusstseins, dass die Überlebenden den zivilisatorischen Skandal der Lager bekunden mĂŒssen und auch im Namen derjenigen sprechen mĂŒssen, die ihn bis in die letzten Konsequenzen erlitten haben und ausgelöscht worden sind. Aber dieses Schreiben ist auch ein Instrument der AktivitĂ€t: Schreiben macht das passive Opfer zum aktiven Subjekt, das die Wirklichkeit benennen kann. Dieses Schreiben ist also ein immerwĂ€hrender Prozess, der nie zu Ende gehen kann; dafĂŒr muss der Schmerz erhalten bleiben, damit sich das Schreiben nicht automatisiert und die RealitĂ€t flach geschrieben wird, damit sich die Leser nicht der Beruhigung hingeben können, das Skandalon „Auschwitz“ aufgelöst zu haben. Bei einem PodiumsgesprĂ€ch mit Herta MĂŒller formulierte es Ruth KlĂŒger, auch Auschwitz-Überlebende, sachlich und lakonisch folgendermaßen: „Wir wollen den Leuten erzĂ€hlen, was damals passiert ist. Aber wir wollen nicht, dass sie dabei eine allzu gute Zeit haben.“9 Das Offenlassen der Wunde ist notwendig, könnte man sagen. Denn, so auch Ruth KlĂŒger: „Das wirklich Geschehene, selbst wenn es so unwahrscheinlich ist, wie der Holocaust es war, will gedeutet und dargestellt werden, einfach deshalb, weil es stattgefunden hat.“10
Auch in der Autobiographie von Jorge SemprĂșn Schreiben oder Leben steht ein Blick, eine visuelle Szene, am Anfang. Das erste Kapitel heißt „Der Blick“. Es schildert eine Szene aus der Befreiung Buchenwalds, als drei Offiziere in britischer Uniform eintreffen und auf Jorge SemprĂșn zukommen. Die Autobiographie beginnt mit folgenden SĂ€tzen: „Sie stehen vor mir, mit aufgerissenen Augen, und ich sehe mich plötzlich in diesem schreckenstarren Blick: ihrem Entsetzen. Seit zwei Jahren lebe ich ohne Gesicht. Kein Spiegel in Buchenwald. [
] Aber ich interessierte mich nicht fĂŒr diese Details. [
] Sie sehen mich an, mit verstörten Augen voller Grauen.“11
Die ErzĂ€hlfigur wird mit den Augen der Anderen gesehen, beschrieben durch die Wirkung, die der Protagonist auf sie ausĂŒbt: das Grauen. Der Protagonist ĂŒberlegt noch, woran es liegen mag, dieses Grauen. An seinem ausgemergelten Aussehen? Verschiedene Hypothesen werden nacheinander an ihren Blicken gemessen („Aber sie sind nicht ĂŒberrascht, nicht beunruhigt. In ihren Augen lese ich blankes Entsetzen“) und anschließend verworfen: „Es bleibt also nur mein Blick, schließe ich daraus, der sie derart beunruhigen kann. Es ist das Grauen meines Blicks, das der ihre offenbart, von Grauen erfĂŒllt. Wenn ihre Blicke ein Spiegel sind, dann muss ich einen irren, verwĂŒsteten Blick haben.“12
Der Blick, das Entsetzen der Anderen, dient dazu den eigenen Zustand zu schildern; ein Blick von außen, der aber von der ersten Person aus beschrieben wird: aus der ErzĂ€hlperspektive des Protagonisten, der so von außen auf sich selbst schließen kann, der sich ĂŒber die Augen der Anderen beschreiben kann.
Die Anderen sind ein fundamentales Element in der Konstruktion der eigenen IndividualitĂ€t, die immer ĂŒber Kommunikation und in einem bestimmten sozialen Rahmen geschieht. Im Falle von KertĂ©sz’ „Augenblicksbild“ wird den Anderen, der deutschen Öffentlichkeit, die Stimme entzogen. Im Falle von SemprĂșn handelt es sich um die Befreier, und was sich aus dem Bild herauskristallisiert, ist eine fundamentale Situation der Kommunikationsnotwendigkeit und gleichzeitig der Nichtkommunikation. Die Offiziere sind entsetzt, man mĂŒsste ihnen also etwas erklĂ€ren. Die Kommunikation zwischen ihnen und der ErzĂ€hlfigur erweist sich jedoch zunĂ€chst einmal als unmöglich:
Er sieht mich an, verstört vor Entsetzen.
Was ist? Sage ich Àrgerlich, zweifellos schroff. Setzt Sie das Schweigen des Waldes so in Erstaunen? [
]
Sie hatten nichts gemerkt, das Schweigen nicht gehört. Offensichtlich bin ich es, der sie entsetzt, nichts anderes.
– Keine Vögel mehr, sage ich, meinen Gedankengang fortsetzend. Der Rauch des Krematoriums hat sie vertrieben, sagt man. Niemals Vögel in diesem Wald [
].
Sie hören zu, beflissen, versuchen zu verstehen.
– Der Geruch von verbranntem Fleisch, das ist es!
Sie zucken zusammen, sehen einander an. Mit nahezu greifbarem Unbehagen. Einer Art Schluckauf, Brechreiz.13
Der Anfang des Werkes bereitet die BĂŒhne, auf der das ErzĂ€hlte stattfinden soll, und thematisiert sowohl die Notwendigkeit als auch die Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit dieses ErzĂ€hlens. Eine Grundidee der GesprĂ€chsanalyse ist, dass ein GesprĂ€ch vermittelt wird durch die ganze Haltung, sprachlich und körperlich, in die man den Anderen, den GesprĂ€chspartner, einbezieht; man schafft einen gemeinsamen Raum fĂŒr das GesprĂ€ch, so dass das Zustandekommen einer ErzĂ€hlung immer interaktiv konstituiert wird. In gesprĂ€chsanalytischer Terminologie ausgedrĂŒckt, vermittelt SemprĂșn mit seiner Szene eine multimodale Sicht auf die Interaktion.14 Mit dieser Szene stellt er aber auch gewissermaßen eine eigene Poetik des ErzĂ€hlens bereit: Über die Blicke wird die ErzĂ€hlperspektive bestimmt, ĂŒber die Sprache die Nichtkommunikation. DafĂŒr wird auch ein literarischer Verweis gemacht: Dass keine Vögel im Wald singen, kann durchaus auch auf die im Walde schweigenden Vögelein von Goethes „Wanderers Nachtlied“ hindeuten, und damit wird die Nachbarschaft von Weimar und Buchenwald, die sowohl in Schreiben oder Leben wie in verschiedenen Romanen SemprĂșns, zum Beispiel in Was fĂŒr ein schöner Sonntag, thematisiert wird, in ihr unheimliches Licht gestellt.
Gerade die Unmöglichkeit der Kommunikation macht die Notwendigkeit des ErzĂ€hlens akut, ist die Voraussetzung fĂŒr das, was dann kommt: die ErzĂ€hlung. Es geht also nicht darum, dass die Worte fehlen, es wird nicht die Unsagbarkeit des Geschehenen thematisiert oder gar das Ende der ReprĂ€sentation. Nicht die Unmöglichkeit oder Undarstellbarkeit der Lagererfahrung wird gezeigt, sondern die Notwendigkeit des ErzĂ€hlens und die BemĂŒhung um die Darstellung, die Perspektive, aus der sie geschehen soll, und die Paradoxie, in der sie stattfinden muss.

1.1.2 „Man ĂŒberlebte nicht“: Folter und Sprache

Dieses Erlebnis ist nicht salonfĂ€hig. Neulich sprachen wir hier in Göttingen beim Nachtisch von EngpĂ€ssen, die wir erlebt haben, etwa ein Aufzug, der steckenbleibt, Tunnel, die zu lang sind [
], wir sprachen ĂŒber alles, was klaustrophobisch wirken kann, und auch, schon nĂ€her an meiner Erfahrung, von den Luftschutzkellern in der Kindheit einiger der Anwesenden. Ich hatte meine Fahrt im Viehwagon anzubieten und habe natĂŒrlich unentwegt daran gedacht, aber wie soll ich das beisteuern?15
Ruth KlĂŒger, österreichische JĂŒdin, die als Kind in verschiedene Konzentrationslager, unter ihnen Auschwitz, deportiert wurde, hat an klaustrophobischen Erinnerungen ihre Fahrt im Viehwagon zum Konzentrationslager anzubieten, nur: Wie kann man das ĂŒberhaupt erzĂ€hlen? Es ist,...

Inhaltsverzeichnis

  1. linguae & litterae
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. 1 Unsagbar/sagbar
  7. 2 Jean Améry: Erinnerungsrecherche,Sprachexperiment
  8. 3 Imre Kertész: Unsagbarkeit, AtonalitÀt undVision
  9. 4 Jorge SemprĂșn: Erinnerung, Autobiographie undAutofiktion
  10. 5 Warlam Schalamow: Prosa als erlittenesDokument
  11. 6 Herta MĂŒller: Autofiktion, Bildlichkeit undErinnerung
  12. 7 Max Aub: Gegen den rĂŒckwĂ€rtsgewandtenFatalismus
  13. 8 Zum Schluss
  14. Bibliographie
  15. Dank