1Reparaturarbeiten am Gemeinsinn
1.1Eine historische Momentaufnahme – Drei Kriegsfilme zur Jahrtausendwende
Seit Mitte der 1970er Jahre war der Kriegsfilm Hollywoods fast identisch mit Filmen über den Vietnamkrieg. Erst um die Wende zum neuen Jahrtausend sind große Hollywoodproduktionen entstanden, die sich erneut auf den Zweiten Weltkrieg beziehen: SAVING PRIVATE RYAN von Steven Spielberg aus dem Jahr 1998 erzählt von den ersten Tagen der Invasion in der Normandie; Terrence Malicks THE THIN RED LINE, ebenfalls aus dem Jahr 1998, und John Woos WINDTALKERS von 2002 rekurrieren auf unterschiedliche Etappen des Pazifikkriegs. Waren die Vietnamfilme zuvor auf die wahrscheinlich größte moralische Krise der Vereinigten Staaten im vergangenen Jahrhundert bezogen, bezeichnet der Zweite Weltkrieg als historischer Topos der Nation das genaue Gegenteil. In diesem Krieg errangen die USA nicht nur die unangefochtene militärisch-ökonomische, sondern – trotz Hiroshima und Nagasaki – auch die moralisch-politische Führung der westlichen Welt.
Der Gedanke lag deshalb nahe, dass diese Hinwendung zum Zweiten Weltkrieg politisch motiviert war: Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts galt es noch einmal – so die verbreitete Überzeugung –, sich des moralischen Kredits zu versichern, den die Vereinigten Staaten in der größten moralischen und menschlichen Katastrophe dieses an Katastrophen reichen Jahrhunderts errungen hatten. Jedenfalls setzte mit diesen Filmen noch vor den Anschlägen auf das World Trade Center und den bald darauf folgenden Kriegen in Afghanistan und Irak eine neue Diskussion um die mediale Darstellung des Krieges und deren kultureller und politischer Funktion ein. In gewisser Weise reicht diese Diskussion bis in die Gegenwart. Sie wird angetrieben von immer neuen medialen Erscheinungsformen der Kriegsführung, in denen die verschiedenen Kriege Gestalt gewinnen.
Das Interesse an den Bildern des Krieges ist zum einen unmittelbar ein Effekt der medialen Erscheinungsformen gegenwärtiger Kriege. Zum anderen wurde gerade mit Blick auf die Jahrtausendwende deutlich, dass selbst die größten Verbrechen und Katastrophen der Menschheit – der Holocaust, die Weltkriege, die Atombombe – im selben Maße als Erinnerungen verblassen, wie die Zeitzeugen sterben. Die Kriegsfilme und die Kriegsfilmdiskussion sind, zumal in Europa, deshalb eng mit der Diskussion um kollektive Erinnerung und kulturelles Gedächtnis verbunden.
Entsprechend drehte sich die Diskussion um den Kriegsfilm – ausgelöst nicht zuletzt von den genannten Filmen – zuvörderst um die Frage nach den Medien und den Praktiken eines kollektiven Gedächtnisses. Vor allem an SAVING PRIVATE RYAN wurde die Erinnerungspolitik Hollywoods diskutiert. Spielberg hatte bereits mit SCHINDLER’S LIST (SCHINDLERS LISTE, USA 1993) einen Film präsentiert, der historische Zeugnisse des Holocaust als melodramatische Inszenierung des Genrekinos in das populäre Geschichtsbild Hollywoods einfügte. Auch SAVING PRIVATE RYAN stellt sich als ein prägnantes Re-Arrangement geschichtlicher Fakten und Bilddokumente dar. Dabei mag es nicht in erster Linie um historisches Wissen oder um kulturelle Formen des Erinnerns gegangen sein; gerade Spielbergs Historienfilme wurden als Beispiele eines postklassischen Blockbusterkinos diskutiert, welches – im Zeichen der Posthistorie – das ästhetische Erleben an die Stelle historischen Bewusstseins setze.8 Doch scheint es mir wenig sinnvoll, Geschichte in dieser Weise den spektakulär inszenierten Erinnerungsakten entgegenzustellen. Ein Bild der Geschichte bleibt auch dann noch an poetische Verfahren seiner Produktion und Präsentation gebunden, wenn es den Prozeduren der Wissenschaft unterworfen ist.
Tatsächlich führen SAVING PRIVATE RYAN, WINDTALKERS und THE THIN RED LINE eine je höchst spezifische Auseinandersetzung mit den medialen Faktoren und poetischen Verfahren, denen sich das geschichtliche Bild vom Zweiten Weltkrieg verdankt; ein Bild der Geschichte, das ganz überwiegend durch fotografische und filmische Dokumente geprägt wurde. Dabei greifen die genannten Filme nicht nur im Sujet, sondern auch in der Anordnung des dramatischen Konflikts auf die Stereotypen und szenischen Standards zurück, in denen der klassische Kriegsfilm Hollywoods über drei Jahrzehnte hinweg das Bild dieses Krieges modellierte. Jedenfalls ist diesen Filmen – im Unterschied etwa zu Produktionen wie PEARL HARBOR (Michael Bay, USA 2001) oder WE WERE SOLDIERS (Randall Wallace, WIR WAREN HELDEN, USA/D 2002) – gemeinsam, dass sie sich mehr noch als auf den historischen Ort auf die Bilder und Dokumente beziehen, die selbst einer vergangenen Zeit angehören. SAVING PRIVATE RYAN etwa lehnt sich vordergründig an die Großproduktion THE LONGEST DAY (Ken Annakin/ Andrew Marton/ Bernhard Wicki/ Darryl F. Zanuck, DER LÄNGSTE TAG, USA) aus dem Jahr 1962 an; vor allem aber bezieht sich der Film auf die zahllosen Filmdokumente, die bei der Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie entstanden sind.
Diesen Rekurs auf vorgängige Bilddokumente verstehe ich keineswegs als eine selbstgenügsame postmoderne Poetik des Pastiche; die Filme setzen sich vielmehr mit den audiovisuellen Bildern als den zirkulierenden Zeugnissen einer in der Erinnerung der lebenden Generation verblassenden geschichtlichen Katastrophe auseinander. Wie sich dieses im Einzelnen darstellt, will ich an drei filmanalytischen Skizzen zeigen. Ich beginne mit Spielbergs SAVING PRIVATE RYAN und wende mich im Anschluss John Woos WINDTALKERS und schließlich Terrence Malicks THE THIN RED LINE ZU.
SAVING PRIVATE RYAN: Die sentimentale Szene des Kriegergedenkens
Eine Familie, drei Generationen … Eltern, Kinder, Enkel. Ein Gräberfeld, endlos, von keinem Horizont begrenzt. Die Montage formt eine Impression, die schon in der Architektur des Soldatenfriedhofs angelegt ist. Grabmal um Grabmal reiht sich in diagonaler Aufstellung aneinander; jedes für sich zählbar, ergeben sie doch in der Zusammenschau ein Bild der buchstäblichen Zahllosigkeit der Toten. Die weißen Mahnmale sind so gleichförmig wie die Uniformen der Soldaten und halten als einzige Differenz lediglich die zwischen christlichem Kreuz und jüdischem Davidstern fest.
Eine Großaufnahme zeigt das Gesicht des Kriegsveteranen: Sie leitet die Rückblende ein, die mit dem Ereignis beginnt, das in dem Grabfeld zahllose steinerne Zeugen hat: das große Sterben von Omaha Beach. Das Sounddesign, der Lärm der Landungsboote, schließt die Zuschauer bereits in den Bildraum ein, noch bevor die Laderampen aufschlagen und die Infanteristen vorne in den Booten dem feindlichen Feuer preisgegeben werden.
Ohne hinführende Handlung, mit einem Paukenschlag ist das Thema gesetzt, das in den nächsten 20 Minuten inszeniert wird: Die ersten Reihen der Soldaten sterben als lebende Schutzschilde, die den Nachfolgenden Schritt für Schritt, Reihe um Reihe das Vorrücken auf den mit Minen und Sperrzäunen bestückten Strand ermöglichen. Der Truppenkörper drängt an Land, während die einzelnen Soldaten zerfetzt und zerschossen den Preis entrichten, der diese Bewegung ermöglicht.
In den ersten 20 Minuten zieht SAVING PRIVATE RYAN alle Register audiovisueller Rhetorik, die das Kino für seine Schlachtbeschreibungen entwickelt hat, um diese Ungeheuerlichkeit in Szene zu setzen. Eine Montage dissoziierter Raum-und Geräuschperspektiven entfaltet den Raum einer chaotischen Wahrnehmung; die Kamera bewegt sich zwischen diffus zugeordneten Blicken, dicht über oder unter Wasser, wie ein Schwimmender – oder ein Ertrinkender; mal geblendet vom aufspritzenden Wasser; mal lassen verschmierte Blutspritzer das Objektiv selbst sichtbar werden. Die Szenerie löst sich vom Blick, wird distanziert, wie durch eine Glasscheibe betrachtet. Auch die Geräuschebene setzt sich aus einer vielperspektivischen Impression zusammen, die sich zwischen der Taubheit des ins Wasser stürzenden Soldaten und dem ohrenbetäubenden Lärm von Explosionen bewegt.
Abb. 2: Das Gesicht (SAVING PRIVATE RYAN) (Farbabb.: s. Anhang).
Schließlich öffnet sich die Geräuschperspektive auf die Leere eines dumpfen Hallraums; sie wirkt wie die Selbstwahrnehmung körperlicher Innengeräusche, wenn man sich die Ohren zuhält. Tatsächlich ist dieser nach außen sich abschließende Hallraum die erste klar einem individuellen Körper zuzuordnende Perspektive. Das Schlachtengetümmel wird zu einem Horrorfilm: stumme Schreie, einschlagende unhörbare Schüsse, lautlose Granatexplosionen, zerfetzte Körper. Man sieht das Gesicht des Protagonisten: a shell-shocked face.
Die Inszenierung der Szene ist insgesamt darauf ausgerichtet, die größtmögliche Diskrepanz zwischen der Perspektive eines in das Kampfgeschehen orientierungslos eingeschlossenen leiblichen Individuums und der kinematografischen Schlachtbeschreibung zu entfalten. Das paralysierte Gesicht verbindet die eine Perspektive mit der anderen.
Eingeschlossen in den Donner der Geschütze, dann in die Stille dieses fremden Körpers, entfaltet sich für den Zuschauer eine eigentümliche Form der subjektiven Perspektive; er empfindet sich physisch ganz nah dabei und gewahrt sich zugleich in absoluter Distanz – als das Gegenüber eines shell-shocked face. Die Kamera simuliert den zersplitternden Blick einer überforderten Wahrnehmung und hält doch die Position des souveränen Zuschauers aufrecht.9 Was dem Truppenkörper nur unter größten Leiden und Opfern gelingt, ist diesem mühelos möglich: Er durchquert sehend und hörend die Raumsimulation des chaotischen Wahrnehmungsbewusstseins eines von Schrecken und Schmerz geblendeten und gelähmten Körpers; er findet einen ersten narrativen Halt, wenn er das Gesicht des Stars, Tom Hanks, mit dem dumpfen Hallraum verbindet, der ihn im Kinosessel umschließt (gleichsam die Innenansicht des shell-shocked face). Ein Dialog bahnt sich an; zunächst noch stumm, dann gibt es den ersten Wortwechsel. Nach und nach formiert sich aus dem Horrorszenario eine Handlungsfiguration: „Wie knackt man die Bunkerstellung dort oben?“ Wenn die Soldaten den Strand überwunden, die Klippen erklommen, die Bunker eingenommen haben, findet sich der Zuschauer im Handlungsraum einer überschaubaren Wirklichkeit, im Raum des klassischen Erzählkinos wieder.
Der Umschlag im Erzählmodus ist durch einen genauen Scheitelpunkt markiert: Erst in dem Moment, in dem es gelingt, mit Hilfe eines Spiegels den Feind in den Blick zu bekommen, stabilisiert sich eine eindeutige Erzählperspektive.10 Die Reise ins Innere des Landes, die Landschaft der Normandie, der Spähtrupp mit dem Sonderauftrag, die entscheidende Schlacht, das alles vollzieht sich im Spiegel des klassischen Hollywood-Kriegsfilms und der audiovisuellen Dokumente des Zweiten Weltkriegs, wie sie in den Medien zirkulieren.
Man versteht, dass die Rückblende eine Erinnerungsbewegung nicht nur in der Fiktion der Figur, sondern auch auf der realen Ebene der Filmzuschauer beschreibt. Was für die Figur die Passage durch ein Trauma ist, hinter dem sich der Raum der Erinnerung öffnet, funktioniert für den Zuschauer als spiegelgleiche Umkehrung der Handlungsfolge des klassischen Kriegsfilms: Dort nämlich ist die Agonie des Soldaten, das shell-shocked face, das letzte Bild, hier ist es an den Anfang gestellt. In der Raumsimulation des Chaos einer jedes individuelle Bewusstsein überfordernden Katastrophe bildet die Inszenierung dieses Gesichts die erste Kristallisation; an ihr kann sich nach und nach eine episodische Handlung anlagern, der Keim eines Narrativs, einer Genreerzählung.
Die gleiche Umkehrung vollzieht sich auch auf der Ebene des dramatischen Konflikts: Während die Anfangssequenz alle kinematografischen Darstellungsmittel aufbietet, um den unerträglichen Gewaltakt sinnlich greifbar werden zu lassen, der darin besteht, Leib und Leben der Einzelnen buchstäblich als Medium der Fortbewegung des Truppenkörpers einzusetzen, kehrt die Handlung des Films diese Ordnung um. Nicht der Einzelne stirbt für die ideelle Gemeinschaft, sondern der Auftrag, das Leben des Einzelnen zu retten, bringt fast der gesamten Truppeneinheit, dem als Suchtrupp eingesetzten Platoon, den Tod. Spielberg scheint mit dieser Fabel den grundlegenden Konflikt des klassischen Kriegsfilms zwischen Opferbild und Zeugnis eines Gewaltaktes in einer paradoxen Lesart des Gemeinschaftsideals der amerikanischen Nation aufzulösen: Das Recht des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Glück, dieser höchste Wert der politischen Gemeinschaft, wird durch den Opfertod unzähliger Einzelner gesichert und erhalten. Tatsächlich aber überführt das Gesicht des weinenden Veteranen im Kreis seiner Familie das Pathos des shell-shocked face in ein sentimentales Bild empfindungsvollen Gedenkens. Der Soldat, der an die Grabfelder zurückkehrt, erinnert sich der letzten Worte seines Kommandanten: „Earn this.“ – „Verdien es dir.“
Nachdem fast alle gefallen sind, damit ihm, James Ryan, das Recht auf Leben und Freiheit erhalten bleibt, erscheint einem dieser letzte Befehl so ungeheuerlich wie das Schlachtenbild zu Beginn des Films. Doch die Schuld, die dieser Überlebende zu begleichen hat, besteht einzig darin, den Auftrag des Platoons zu Ende zu bringen, für den die anderen gestorben sind: Er ist den Toten nichts weiter schuldig, als sein Leben und seine Freiheit zu nutzen, um sein Glück zu verfolgen. Eben deshalb steht am Ende des Films nicht die Pathosformel des shellshocked face, sondern das weinende Gesicht des sich erinnernden Überlebenden.
Der überlebende Soldat am Grab der gefallenen Kameraden, sein Gesicht, die Tränen abgewandt von der Familie; die Frau, die Kinder, die Enkel stehen etwas abgerückt im Hintergrund, ihre Blicke auf den weinenden Mann gerichtet: Auch diese Szene ist die Reprise einer anderen; man könnte sie als Urszene bürgerlicher Empfindsamkeit ansprechen. Stellt Spielberg hier doch eine Szene pathetischen Erinnerns nach, deren serielle Wiederholung gleichsam das Movens sentimentaler Unterhaltungskultur bezeichnet: Die Familie, die sich am Sterbebett des Vaters versammelt und im einfühlsamen Blick auf den Sterbenden zu einer Gemeinschaft des gleichgerichteten Empfindens und Fühlens verschmilzt. Diderot hat diese Szene in seinem Stück Le Père de famille (1758) als den Prototyp empfindsamen Theaters eben zu dem Zweck entworfen, sie immer wieder neu zu reinszenieren, um im Publikum die Gemeinschaft derer entstehen zu lassen, die durch das Band ihrer geteilten Empfindungen miteinander verbunden sein werden.11 Dieses Band war für das empfindsame Bürgertum das sentimentale Mitgefühl. In diesem Sinne handelt es sich tatsächlich um die Urszene einer Kunst-und Unterhaltungskultur, die Medien einrichtet, um Affekte zu gestalten. Jedenfalls hätte die Schlussszene von SAVING PRIVATE RYAN nicht besser eingerichtet werden können, um die Figur des versunkenen Betrachters zu illustrieren, an der Michael Fried den Typus dieser Subjektivität entfaltet hat.12
SAVING PRIVATE RYAN lässt den Kriegsfilm in dieser Szene sentimentalen Gedenkens enden. Tatsächlich tritt noch die Familie des Soldaten Ryan, im Hintergrund des Bildes als Halbkreis positioniert, dem Kinozuschauer als eine Gemeinschaft gegenüber, die ihn buchstäblich in ihren Kreis aufnimmt; sind sie doch verbunden durch den geteilten Blick auf ein und dieselbe Szene des Weinenden am Grab – so als schließe sich mit den Blicken des anonymen Publikums vor der Leinwand der Kreis der Gemeinschaft um das trauernde Gesicht. Die Montage löst mit einem Achsensprung die Figuration auf, um diese Gemeinschaft sentimentalen Gedenkens in einer kreisenden Einstellungsabfolge fest mit dem Symbol der Nation zu verbinden: der Flagge der Vereinigten Staaten.
WINDTALKERS: Der ...