1Zur Fragestellung
Dieses Buch verdankt sich der Integration einer zweifachen wissenschaftlichen Verortung: Neben der Beschäftigung mit Texten aus der Romania habe ich mich jahrelang professionell mit theoretischen Grundlagen der Gender Studies auseinandergesetzt.
Seit dem Studium der Hispanistik, Französistik und der Komparatistik faszinieren mich Werke der Frühen Neuzeit. Die Geschlechterordnungen der spanischen comedia und der romanischen Novelle des 17. Jahrhunderts erforderten schon früh ein Verständnis für Körpermodelle, wie sie in den pragmatischen und faktischen Texten der Naturphilosophie vor allem gegen Ende des 16. Jahrhunderts verhandelt wurden. Freilich gibt es in der Frühen Neuzeit noch keine strenge Trennung von faktischer und fiktionaler Literatur. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden oft als «Theoriediskurs im Modus der Fiktion»1 dargeboten, während etwa Theaterstücke handfeste Körpervorstellungen ausspielen. Diese Gattungsambivalenz bzw. Gattungspolyvalenz lösen Intellektuelle des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts mit der Aufwertung von Rhetorik zu der Erkenntnis generierenden téchne, also Kunstfertigkeit, ein. Deshalb stehen Tropen des Wissens im Fokus meines Forschungsinteresses.
Mit dem sogenannten linguistic turn hat dieser Denkstil2 im 20. Jahrhundert in den Kulturwissenschaften erneut an Bedeutung erlangt. Unabhängig von der Dauer wissenschaftlicher Trends ist die Frage nach der rhetorischen Fundierung von Erkenntnis vor allem in den Gender Studies zentral, da durch eine Analyse der sprachlichen Verfasstheit von Geschlechterzuschreibungen deren Realitätseffekt aufgedeckt bzw. unterlaufen werden kann.
Die Zusammenschau von Körpermodellen aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert mit jenen meines zweiten wissenschaftlichen Kompetenzfeldes, feministischer Forschung und Genderforschung, fördert darüber hinaus aber auch signifikante inhaltliche Parallelen zutage. Nachdem die Gender Studies lange Zeit eher «körperabstinent» agiert hatten, greifen neuere wissenschaftstheoretische Positionen des sogenannten feminist materialism Embodiment-Theorien auf. In den Blickpunkt gelangen damit wie schon in der Frühen Neuzeit wieder physiologische Modelle, die die strikte Trennung von Form und Materie bzw. Leib und Seele aufheben und damit das spätestens seit dem 18. Jahrhundert geltende Leitparadigma der Lebenswissenschaften demontieren.
Auf der Folie von Körpermodellen der Renaissance-Philosophie lässt sich daher das scheinbare Emergieren materialistischer Körpervorstellungen innerhalb rezenter feministischer Theorie besser kontextualisieren, denn es zeigt sich, dass diese als Sedimente im historischen Gedächtnis bereit liegen. Dabei gilt es aber jene Neusemantisierungen zu rekonstruieren, welche derartige Konzepte mit der Montage in veränderte Kontexte erfahren. Als methodischer Leitbegriff dafür fungiert in der nachfolgenden Untersuchung Mieke Bals «Travelling Concept»,3 der semantische Verschiebungen nicht nur im diachronen Vergleich, sondern auch über unterschiedliche Diskursformationen hinweg zu ergründen hilft.
Die vorliegende Untersuchung zielt also darauf, vermeintliche Ähnlichkeiten voneinander weit entfernter Textkorpora daraufhin zu untersuchen, ob es sich um beliebige Koinzidenzen oder aber um strukturelle und strategische Parallelen handelt. Eine Analyse des Nachlebens der hier versammelten Texte des 16. Jahrhunderts erwiese sich in diesem Fall nämlich als tauglich, Potentiale und Fallstricke heutiger Gender-Diskurse herauszuarbeiten, um damit im Kantschen Sinne einen Beitrag zur Kritik der Gender Studies zu leisten.
Frühneuzeitliche Naturphilosophie fand bislang kaum Eingang in den Kanon der Philosophie. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass naturphilosophische Neuansätze der Spätrenaissance sich nicht im damaligen wissenschaftlichen Mainstream, der Scholastik, verorten lassen: AutorInnen wie Girolamo Fracastoro, Oliva Sabuco, Bernardino Telesio oder Gómez Pereira u. a., deren Innovationen im Zentrum der nachfolgenden Untersuchung stehen, agierten allesamt eher am Rande institutionalisierter Wissensproduktion, was auch ihre radikalen Körperkonzepte erklären hilft. Wie punktuell gezeigt werden soll, bereiteten die genannten frühneuzeitlichen Intellektuellen damit jenen Paradigmenwechsel vor, der als «Scientific Revolution» in die Wissenschaftsgeschichte einging. Die Ironie dieser Historiographie besteht darin, dass ausgerechnet die Kanonisierung nachfolgender Intellektueller, welche ihrerseits radikale Neuansätze der Renaissance maßgeblich für ihre epistemologischen Innovationen rezipieren – etwa Francis Bacon, William Harvey, René Descartes – zur beinahe kollektiven Amnesie der Grundlagenarbeit ihrer Vorläufer beitrug.
Waren die erwähnten Neukonzeptualisierungen im 16. Jahrhundert die Vorbedingung für Fortschritt und Innovation, die die Erfolgsgeschichte positivistischer Wissenschaftsnarrative der letzten dreihundert Jahre einleitete, so lässt sich unser 21. Jahrhundert als deren Nachleben fassen. Die Aufsplitterung wissenschaftlicher Forschung in hoch spezialisierte Disziplinen und deren Wettbewerb um symbolisches und ökonomisches Kapital erweisen sich als zunehmend unzureichend, den Komplexitäten postmodernen Lebens gerecht zu werden. Neue Technologien werden dem menschlichen Körper einverleibt, künstliche Intelligenz überflügelt die Leistungen des menschlichen Gehirns, die kulturelle Durchformung von «Natur» wird durch emotionale und ästhetisierende Aufladungen zelebriert. Trotz oder vielleicht wegen technologischer Fortschritte ist unsere materielle Welt immer mehr gefährdet und gerechte Ressourcenverteilung nach wie vor eine hypothetische Position.
Postmoderne Gender-Theorien konzentrieren sich angesichts dieser gerade in Bezug auf Geschlechterordnungen drängenden Probleme zunehmend auf Untersuchungen des Leibes, ohne einer naiven oder fortschrittspessimistischen Ideologie anheimzufallen. Die Konzeptualisierung der lebendigen Marterie, wie sie Anne Fausto-Sterling, Donna Haraway, Rosi Braidotti, Karen Barad und andere in Angriff nehmen, zeigt erstaunliche Parallelen zu holistischen Vorstellungen der Frühen Neuzeit.
Aus diesem Grund hebe ich dieses Textkorpus aus dem (wissenschafts-) historischen Vergessen. Genauer gesagt möchte ich anregen, einige der alternativen Anthropologien des 16. Jahrhunderts in Bezug auf das Zusammenspiel von Materie und Form für feministische Neukonzeptionen nutzbar zu machen. Damit geht mein Anspruch aber über historische Gerechtigkeit hinaus. Vielmehr liegt dieser Untersuchung die Überzeugung zugrunde, dass NaturphilosophInnen des 16. und GenderforscherInnen des 21. Jahrhunderts nicht nur ähnliche Themen behandeln, sondern auch einen vergleichbaren Denkstil pflegen, der Dynamiken und Verknüpfungen favorisiert. Während der letzten Jahre vollzogen wissenschaftliche Erkundungen des menschlichen Körpers einen Paradigmenwechsel von soliden zu immer subtileren Elementen: von Organen zu Genen zu Hormonen und gegenwärtig zur sogenannten Epigenetik. Dementsprechend gewinnen physiologische Modelle wieder mehr an Bedeutung.
Feministische und Genderforschungen beteiligen sich an dieser Entwicklung mit Konzepten von fließenden und vernetzten Morphologien. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme des dynamischen Modells der Möbiusschleife, die feministische Forscherinnen aus unterschiedlichen Traditionen gleichermaßen benutzen,4 um die Interaktion zwischen dem Körperinneren und der Körperoberfläche bzw. Einflüssen der Körperumgebung zu visualisieren. Mit der Adaption neuerer Embodiment-Vorstellungen konterkarieren Genderforscherinnen normative und stabile Körperkonzepte, die seit über dreihundert Jahren die ‹westliche› Philosophie dominieren.
Wie sich zeigen wird, argumentieren auch die Intellektuellen des 16. Jahrhunderts mit beweglichen und volatilen Körpersäften. Deshalb sind sie an organischen Funktionen weniger interessiert, als an einem ganzheitlichen Strukturmodell dieser Körper in flux. Der Anspruch, unterschiedlichste natürliche Phänomene in komplexer Interaktion zu begreifen, verlangt nach elaborierten Visualisierungsstrategien. Die Ausrichtung auf holistische Modelle hin bedingt daher ein weiteres gemeinsames Feld, das die nachfolgend präsentierten NaturphilosophInnen der Renaissance mit postmodernen feministischen und GenderforscherInnen teilen: die Überzeugung, dass die Basis des Wissens bzw. jedweder konzeptueller Rahmungen, immer rhetorisch ist. Aus diesem Grund ist das Imaginäre, das die symbolische Ordnung durchkreuzt – mithin der bildhafte Teil der Sprache – in beiden Textkorpora von außerordentlichem Interesse.
Inzwischen teilen auch ‹harte› Wissenschaften diese Überzeugung: Metaphern als kognitive Denkmuster basieren auf der Orientierung von Körpern in Raum und Zeit und sind daher geeignet, das Zusammenspiel von Leib und Geist zu analysieren. Basierend auf dem Paradigma von ‹Embodiment› bzw. von ‹Embodying› verfolgen rezente Ansätze in Medizin, Psychologie und Neurowissenschaften die Idee der Prozesshaftigkeit und Plastizität menschlichen Lebens. Eines der eher zweifelhaften Ergebnisse dieser Neuorientierung zeitigt die Glücksverheißung von Körperkorrekturen wie sie etwa die euphemistischen Bezeichungen von «body enhancement» und «brain enhancement» suggerieren. In den Sozialwissenschaften werden diese relativ neuen Phänomene bereits seit ein paar Jahren untersucht, allerdings mit Fokus auf ihre politischen und sozialen Bedingungen, wobei als theoretischer Rahmen meist Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie herangezogen wird.
Allerdings werden die epistemologischen Grundlagen, auf denen Debatten über Embodiment in den Lebens- und Neurowissenschaften basieren, kaum je näher untersucht. Diese Arbeit stellt sich daher der Herausforderung, auf die andere Seite der wissenschaftshistorischen Wasserscheide zu blicken, um deren Konzepte von Verkörperungen und Einverleibungen sowie Phantasien von Körpermodifikationen mit den scheinbar so innovativen postmodernen Ideen zu kontrastieren. Im Vordergrund steht dabei allerdings nicht ein Abtausch der beiden wissenschaftlichen Systeme, sondern die literaturwissenschaftliche Untersuchung der rhetorischen Modelle, aus denen diese jeweils hervorgebracht werden.
Obwohl es ausgedehnte Forschungen zu einzelnen Aspekten von frühneuzeitlichen Körpergrenzen gibt – wie etwa zu Metamorphosen und zum Monströsen oder der Affinität des menschlichen Körpers zu Maschinen – ist diese Untersuchung meines Wissens die erste, die systematisch die frühneuzeitliche Arbeit an der Definition und Begrenzung des menschlichen Körpers erfasst und mit heutigen Ansätzen vergleicht. Sie fokussiert daher auf epistemische Veränderungen der Demarkationslinie zwischen Materie und Form, oder anders gesagt, auf umstrittene Grenzziehungen in Bezug auf genuin Menschliches: Affekte/Passionen, Mensch & Tier, Mensch & Artefakt.
Da ich philosophische Konzepte nicht losgelöst von gesellschaftlicher Praxis sehe, werde ich für jede der «umstrittenen Grenzziehungen» jeweils auch ein signifikantes Textbeispiel für dessen fiktionale Umsetzung in der Frühen Neuzeit analysieren. Die jeweils unterschiedlich kontrastierenden Zeiträume zwischen fiktionalen und referentiellen Bearbeitungen zu den drei Großkapiteln verdeutlichen, dass ich keine kausale Beziehung von Ursache und Wirkung bzw. von Vorher und Nachher für die gewählten Textbeispiele annehme. Manchmal reizen fiktionale Texte Phantasien aus, die das philosophische Imaginäre noch nicht erfasst hat, manchmal werden in ihnen vorher faktisch verhandelte neue Paradigmen durchgespielt.
Ich beginne meine Grenzvermessung gewissermaßen von Innen heraus: mit der Frage der Entstehung und Wirkweise der Emotionen, die evident sowohl körperliche als auch seelische Phänomene sind und somit als Kernthema für TheoretikerInnen fungieren, die die Binarität von Geist und Materie in Frage stellen. Aus diesem Grund verwundert es wenig, dass es jüngst im Bereich der Genderforschung zu einem regelrechten Boom an Affekttheorien gekommen ist.
Renaissance DenkerInnen greifen ihrerseits auf antike und mittelalterliche Emotionstheorien zurück, um relationale Modelle für die äußeren Anstöße, wie sie dem Begriff Affekt inhärent sind, mit den individuellen Verarbeitungen und Reaktionen, die der Terminus Passion umschreibt, zu erhalten. Dass Emotionen auch machtvolle Agenten in Bezug auf Gesellschaftsprozesse sind, verdeutlicht die frühneuzeitliche Vorliebe für die Bühne, auf der Emotionen vielgestaltig zum Einsatz kommen, wie zwei Dramen von Pedro Calderón de la Barca verdeutlichen.
Ein immer wieder vieldiskutiertes Thema, wenn es um Anthropologie geht, ist die Frage nach der Unterscheidung des Menschen von anderen Tieren. Als prominenteste Verfechterin der Grenzauflösung zwischen Mensch und Tier gilt Donna Haraway, die deshalb die Überschneidungen zwischen Gender und Animal Studies besonders greifbar macht. Viele ihrer Ideen finden sich auch schon in den materialistischen Tendenzen der Renaissance-Philosophie. Eine der faszinierendsten Positionen zum Thema, nämlich jene von Gómez Pereira, gelangt allerdings zum ebenso abrupten wie verwunderlichen Schluss, dass Tiere nichts anderes als Automaten seien, womit die nächste Grenzziehung, nämlich jene zwischen Mensch und Artefakt, schon anklingt. Beide Extrempole – Tier und Artefakt – werden auch im fiktionalen Beispieltext, Orlando Furioso von Ludovico Ariosto, ausgelotet. Dass der heldenhafte Krieger ausgerechnet als seines Verstandes beraubtes ‹Tier› authentischer Gefühle fähig ist, ermöglicht außerdem, Themen aus dem ersten Großkapitel wieder aufzunehmen.
Als letzte Traversale der Grenzvermessung führe ich in die Machbarkeitsphantasien ästhetischer Körperpraktiken ein. Denn für die Einverleibung des Artefakts werden im 16. Jahrhundert (noch) nicht mechanistische Maschinen-Modelle beansprucht, sondern vielmehr Zurichtungs- und Optimierungsphantasien im Feld des Diätetischen und Ästhetischen ausagiert. Eine Parallele zwischen beiden Textkorpora zeigt sich in diesem Sinne in der Figur des männlichen Spezialisten, der die invasiven Prozeduren überwacht bzw. exekutiert. Demgegenüber wird einer der ältesten gedruckten narrativen kastilischen Texte, la Celestina von Fernando de Rojas, die damit einhergehende Enteignung weiblichen Expertinnen-Wissens, vor Augen führen.
Bevor ich die drei «umstrittenen Grenzziehungen» in Angriff nehme, lege ich zunächst meine theoretischen und methodischen Grundlagen offen. Im Anschluss stelle ich die Hypothese vor, dass die thematischen und rhetorischen Konvergenzen der beiden Textkorpora ähnlichen Erfahrungen von Ruptur und Auflösung geschuldet sind. Als ‹Schwellenzeiten› lassen das 16. und der Übergang zwischen 20. und 21. Jahrhundert meiner Ansicht nach analoge Tendenzen zur Bewältigung von medialen, politischen und wissenschaftlichen Umbrüchen erkennen. Die dafür maßgeblichen Paradigmen und Episteme werden in Folge jeweils zu Beginn der drei Hauptkapitel in einer Präsentation der beiden Textkorpora eingeführt.
Mir ist bewusst, dass die Distanz zwischen beiden Betrachtungszeiträumen sowie die Fülle an unterschiedlichen Werken die Gefahr der Beliebigkeit birgt. Dieser versuche ich mit einer sorgfältigen Lektüre zu begegnen, die Argumente und Denkfiguren jeweils aus den Texten heraus entwickelt und nicht von außen an sie heranträgt. Dabei kann ich dominante Argumentationslinien, aber auch viele faszinierende Spuren für weitere Forschungen offenlegen. Daraus resultiert hoffentlich eine kulturwissenschaftliche Grundlagenarbeit, die historische Semantiken produktiv mit aktueller Theorienbildung verknüpft und damit Kolleginnen und Kollegen für weiterführende Textanalysen gewinnen kann.