1.0Einführung
Im „Verzeichniß der Bücher, welche bei der Verlassenschaft des in Tübingen gestorbenen M. Hölderlin sich in Nürtingen vorgefunden haben“, fehlt bekanntlich vieles, das aus vielerlei Gründen dem Taxator nicht vorlag2 – diese Liste heranzuziehen, um sich ein Bild von Hölderlins Lektüre dramatischer Texte zu machen, kann deshalb lediglich Teil-, wenn nicht Zufallsergebnisse zeitigen. Unter den Ausgaben antiker Dramen ist hier etwa die Brubachiana verzeichnet, jener Sophokles-Druck aus dem 16. Jahrhundert, der als einzig sichere, aber bestimmt nicht einzige Vorlage für Hölderlins Übersetzung der Tragödien Ödipus Tyrann und Antigone (1804, bei Hölderlin: „Oedipus“ und „Antigonä“3) gilt, sowie der Gefesselte Prometheus des Aischylos, eine nicht näher identifizierbare Euripides-Sammelausgabe und dessen Rhesos im Einzeldruck. Eine Chrestomatia Tragica Graeco-Latina, die ebenfalls nicht genau zu bestimmen ist, und der zweite Band einer Terenz-Ausgabe4 vervollständigen die Liste klassischer Bühnenwerke, die in der Gewichtsverteilung zwischen der tragischen und der komischen Gattung, zwischen der griechischen und der römischen Überlieferung sowie unter den drei großen Athenern ziemlich genau der tatsächlichen Bedeutung entspricht, die solche Urtexte der europäischen Theatertradition rezeptiv und produktiv für Hölderlin hatten.
Zum Trug-, ja Zerrbild wird hingegen das Bücherverzeichnis, wenn man einen Blick auf die moderne Sparte wirft: Als einzige deutsche Theatertexte tauchen hier Christian Felix Weißes Trauerspiele in einer dreibändigen Sammlung und Klopstocks „Bardiet für die Schaubühne“ Hermanns Schlacht auf.5 Die große deutsche Dramatik des späten 18. Jahrhunderts sucht man vergebens: Nichts von Lessing, nichts von Goethe. Eklatant ist insbesondere das Fehlen Friedrich Schillers: unauffindbar ist selbst das Geschichtsdrama Dom Karlos, Gegenstand einer regelrechten Verehrung seitens Hölderlins, der in Schiller lange Zeit ein schwärmerisch verehrtes Vorbild sah.6 Ferner würde man aus einer unkritischen Bestandsaufnahme der Nachlassbibliothek den ebenfalls trügerischen Eindruck bekommen, dass Hölderlin in den Meisterwerken der neuzeitlichen europäischen Dramatik nicht einmal schmökerte: Weder barocke Spanier noch klassische Franzosen sind vertreten, selbst der in der Goethezeit allgegenwärtige Shakespeare fehlt.
Ein solches Vorgehen wäre zugegebenermaßen naiv und niemand würde ernsthaft auf die Idee kommen, aus einem solchen archivalischen Überrest, der nicht vollständig über die Bibliothek eines seit fast vierzig Jahren im Turm Zurückgezogenen Auskunft gibt, Vermutungen über die tatsächliche Lektüre von Dramen seitens des Dichters anzustellen, der häufig umgezogen, manchmal auch überstürzt geflohen ist oder weggebracht wurde und sicher nicht nur das gelesen hat, was er besaß. Seltsamerweise wäre jedoch das Ergebnis eines solchen wissenschaftlichen salto mortale dem Bild sehr ähnlich, das die Forschung in Sachen „Hölderlin und das Theater“ lange gepflegt hat, einmal hinsichtlich der Alleinherrschaft antiker Vorbilder, dann auch wegen der nahezu ausschließlichen Konzentration auf Dramatik als Lesedramatik – produktiv wie rezeptiv.
Dass dem nicht so war, belegen verschiedene Dokumente, vor allem brieflicher Natur, die z.B. Hölderlins begeisterte, in manchem auch produktive Rezeption schillerscher Dramen, Äußerungen über Goethes Theatertexte,7 essayistische Pläne zu Shakespeare,8 Lektüre und Besprechung zweitrangiger zeitgenössischer Dramatik9 wie selbst konkrete Theaterbesuche10 verzeichnen: Bereits solche Belege fordern dazu auf, das Forschungsbild zu ,Hölderlin und das Theater‘ zu entstauben. Auf schöpferischer Ebene, wie sie für die vorliegende Arbeit besonders wichtig und im Folgenden zu besprechen ist, kommt es zu noch stärkeren, bisher in der Forschung wenig beachteten Akzenten: Der dezidierte Bezug auf zeitgenössische dramaturgische bzw. dramentheoretische Diskurse, die Herausarbeitung einer theaterkongenialen Dramensprache und szenisch bewussten Reflexion darüber, schließlich die implizite (in ihrer Beschaffenheit und ihrem Projektcharakter beim Empedokles), dann implizite wie auch explizite (Sophokles-Übersetzungen) Bestimmung der eigenen Produktion für die Bühne. Hölderlin hat Theatertexte verfasst bzw. transformativ übersetzt, die keineswegs nur als lyrische Dramen, Lesedramen oder gar als antikisierende Exerzitien intendiert waren, sondern neben ihren sehr gut erforschten poetischen, philosophischen, religiösen und teilweise politischen Dimensionen in einer Theateraufführung ihren idealen Endzweck hatten. Sowohl das unvollendete Trauerspielprojekt Der Tod des Empedokles als auch die Sophokles-Übersetzungen sowie die mit beiden Unternehmungen verbundenen theoretischen Überlegungen zeichnen sich aus durch eine bewusste und dynamische Dialektik von (antiklassizistischem) Rückbezug auf den antiken Ursprung der Tragödie einerseits und experimenteller Arbeit für das moderne Drama und Theater andererseits.
Es erscheint daher erforderlich, Hölderlins Theaterproduktion und -reflexion auf ihre Modernität zu hinterfragen, bevor man sich ihrer Rezeption widmet, der zunächst latenten und erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts breiteren Aufnahme und Transformation seiner Texte in neue dramatische und theatralische Formen. Es soll auch gezeigt werden, wie bereits bei Hölderlin antike und moderne Prätexte ganz bewusst in moderne Theaterprojekte eingearbeitet wurden: Somit stellen seine Theatertexte die Weichen für spätere Transformationen, in denen Hölderlins schon an sich dynamischer und experimenteller Rückgriff auf die griechische Tragödie als Teil eines antik-modernen Projektes aufgenommen und mit Blick auf gegenwärtige Wirkung wiederaufgenommen, fortgeschrieben und aktualisiert wurde.
Ziel der folgenden Überlegungen ist also eine Rekapitulation der Entwicklung von Hölderlins Verständnis von Drama und Theater, bei der für die spätere Rezeption zentrale Fragen in den Mittelpunkt gerückt werden: Wann und wie rezipiert Hölderlin antike und moderne Dramatik und Theaterästhetik und gewinnt Einsichten in vergangene und gegenwärtige Theaterpraxis? Was für eine Rolle spielen solche Prätexte und Kenntnisse in seiner eigenen dichterischen, theoretischen und übersetzerischen Produktion für das Theater? Wie gestaltet er seine theatralischen Hauptprojekte (Der Tod des Empedokles, die Sophokles-Übersetzungen und -Anmerkungen) und inwieweit können sie als Interventionen in zeitgenössische kulturelle Diskurse betrachtet werden? Dabei soll, soweit es möglich ist und ohne dem Autor Hölderlin erst durch die spätere Wirkung motivierte Intentionen zuzuschreiben, den wenigen externen (Mitteilungen, Projekte, Kommentare) und den internen Spuren (Beschaffenheit der Texte) nachgegangen werden, die es ermöglichen, bei Hölderlin von einer Herausarbeitung auch bühnenbezogener und -gerechter Theaterprojekte zu sprechen. Sie hatten zwar keine zeitgenössische Bühnenwirksamkeit, sind allerdings in Primavesis Worten als „Potential einer anderen Form von Theater“ (2000, 263) zu bezeichnen. Sie erweisen sich gar, wie man aus dem im Folgenden Erörterten antizipierend hinzufügen kann, als sprachlich, strukturell und gedanklich eine mögliche Theaterinszenierung mitberücksichtigende Arbeiten eines mit antiken und modernen dramaturgischen und sogar szenischen Aspekten durchaus vertrauten Autors – dies zeigen etwa seine Kommentare anderer und eigener Theatertexte.
Der Hölderlin-Forscher wird im Folgenden viel Bekanntes über Hölderlins Werk und dessen Kontext wiedererkennen; bis auf einige für die Argumentation zentrale Punkte soll die Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sekundärliteratur meist in den Fußnoten Platz finden. Methodologisch ist dies dadurch begründet, dass erstens die vorliegende Arbeit keine auf Hölderlin an sich zentrierte Untersuchung ist, sondern darauf zielt, die Rezeption und Transformation seiner Theatertexte im 19. bis 21. Jahrhundert darzulegen. Dementsprechend muss der Gang der Untersuchung anders als üblich konstruiert werden und weniger Vorkenntnisse über den Autor voraussetzen, dabei allerdings dem Leser auch mittels gezielter Verweise die Einsicht ermöglichen, wo in der Hölderlin-Forschung sich die vorliegende Untersuchung positioniert.
Zum anderen strebt dieser erste Teil der Arbeit gerade eine Re-Lektüre von Hölderlins Auseinandersetzung mit Drama und Theater an, indem auf bisher von der Forschung weniger oder kaum berücksichtigte Aspekte neues Licht geworfen wird, die für die spätere Wirkung zentral sind. Dazu zählen erstens: der bewusst transformative und experimentelle Ansatz in der modernen Übertragung/Nachdichtung/Erörterung antiker Tragödien; zweitens: die Fragen der Wirkung und der die Performance miteinbeziehenden dramatischen, übersetzerischen und kommentierenden Praxis; drittens: der auf Kontinuität angelegte Projektcharakter von Hölderlins Produktion antik-moderner Dramatik für die zeitgenössische Bühne. Aus diesem Grund will und wird die Studie die angeführten Werk- oder Briefpassagen keiner umfassenden Textanalyse unterziehen – darauf wird eher überblicksweise Bezug genommen, um dann in den Anmerkungen auf die einschlägige Spezialliteratur zu verweisen –, sondern bereits mehrfach interpretierte und bisher weniger beachtete Texte Hölderlins im Hinblick auf die hier aufgeworfenen Fragen erörtern.
Der soeben gefallene Begriff ‚antik-modern‘, der in Titeln wie auch in den folgenden Überlegungen zur Bezeichnung von Hölderlins Theaterprojekten wiederholt benutzt wird, ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, in der sich vorliegende Untersuchung zur Forschungstradition stellt. Neben seiner Klärung sollen hier weitere im Folgenden benutzte Begriffe eingeführt werden. Peter Szondi charakterisierte Hölderlins post- bzw. antiklassizistische Positionierung im Antike-Moderne-Diskurs als „Überwindung des Klassizismus“ (1967), wobei umstritten bleibt, auf wann diese Überwindung datiert werden muss. Seine eigene produktive Arbeit an der Tragödie (der hier vertretenen, noch zu erörternden These zufolge bereits im Empedokles- und nicht erst im Sophokles-Projekt) bestimmt Hölderlin als unentbehrliche Transformation der als grundverschieden betrachteten Griechen, die sich über jedwede Nachahmungspoetik hinwegsetzte und stattdessen auf die Modernen zielte. Obwohl Hölderlin selber ein einziges Mal das Wort ,modern‘ benutzte (im Brief an den Bruder vom Neujahr 1799, vgl. unten, 1.4), ist sein ganzes Werk im heutigen Sinne des Wortes, so Ulrich Gaier, „nicht romantisch, nicht klassizistisch, sondern entschieden modern“; seine „im strengen Sinne pragmatisch[e]“ Dichtung ist „eingreifendes Wort“, sein nicht klassizistischer Rückgriff auf ,Hellas‘ ist Teil dieser Intervention im zeitgenössischen Diskurs ,Hesperiens‘, durch die Hölderlin „die Grenzen der Modernität durchstoßen“ hat (1995, 26f.). Dieses Schreiben für die Moderne, dem eine in diesem Sinne dynamische, produktive Auseinandersetzung mit der Antike innewohnt, gilt speziell für sein Theater, wie Anke Bennholdt-Thomsen mit Bezug auf die Sophokles-Übersetzungen vermerkt: „Hölderlin versucht, ins Moderne zu übersetzen, d.h. den modernen kulturellen Bedarf zu bedienen“ (2005, 183). Gerade darin ist großenteils die Faszination begründet, die Hölderlins Theatertexte auf die nachfolgenden Generationen ausgeübt haben, und (noch wichtiger) ihre Produktivität in modernen und zeitgenössischen Diskursen. Um dem Mangel einer eindeutigen Bezeichnung für diese Konstellation in der Hölderlin-Forschung abzuhelfen, wurde die Zusammensetzung antik-modern gebildet, womit auf die Gleichrangigkeit beider Kompositumsteile Gewicht gelegt wird. Damit soll das dynamische, d.h. nicht hierarchisch und normativ festgelegte (Klassizismus), sondern freie und produktive Verhältnis zwischen Antike und Moderne in Hölderlins kulturellem Entwurf bezeichnet werden, das aus dem Bewusstsein des Unterschieds zwischen „Hellas“ und „Hesperien“ hervorgeht und aus dieser Einsicht heraus für eine transformative Beziehung plädiert, bei der die sich konstituierende Moderne keineswegs auf den Rückbezug auf die Antike verzichtet, sondern sich erst durch ein Umdenken des Verhältnisses zu den Griechen entfaltet.
Gerade ein dynamisches und transformatives Verhältnis zu Hölderlins antik-modernem Entwurf wird dann die prägnantesten Etappen der Rezeption seiner Theatertexte charakterisieren, so dass man fast geneigt wäre zu sagen, es genüge, für „antik“...