1.1Ausgangspunkt der Arbeit
Zu Beginn seines unter dem Titel ab urbe condita überlieferten Geschichtswerks spricht Livius von der tanta scriptorum turba, die sich schon mit dem Gegenstand seines Werkes befasst habe oder befasse (praef. 3). Einer ähnlichen Lage sieht sich gegenüber, wer sich seinerseits mit dem Werk des Livius beschäftigt. Ein weiteres Buch dazu bedarf einer Begründung. Es soll daher im Folgenden erläutert werden, worum es in dieser Arbeit geht.
In der schon zitierten Praefatio gibt Titus Livius seinen Lesern einen Hinweis, worauf sie bei der Lektüre besonders achten sollen:1
ad illa mihi pro se quisque acriter intendat animum, quae vita, qui mores fuerint, per quos viros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit;2 labente deinde paulatim disciplina velut desidentes primo mores sequatur animo, deinde ut magis magisque lapsi sint, tum ire coeperint praecipites, donec ad haec tempora quibus nec vitia nostra nec remedia pati possumus perventum est. Hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugiferum, omnis te exempli documenta in inlustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei publicae quod imitere capias, inde foedum inceptu foedum exitu quod vites.
praef. 9–10
Damit bekennt sich der aus Patavium stammende Schriftsteller zum Programm einer exemplarischen Historiographie, die nachahmenswerte und zu vermeidende3 Taten vor Augen stellt. Sie sorgt dafür, dass moralische Qualitäten nicht einfach abstrakte Begriffe sind, sondern zeigt konkret, wie sie in bestimmten Situationen verwirklicht wurden. Livius setzt sein Geschichtswerk mit einem Monument gleich, an dem solche exempla in bildhafter Weise angebracht sind. Dazu passt es, dass man in seiner literarischen Darstellungsweise eine große bildhafte Anschaulichkeit festgestellt hat.4 Livius möchte einerseits zur Besinnung auf das vorbildliche Römertum der Frühzeit und den dadurch ermöglichten Aufstieg Roms (praef. 9: partum et auctum imperium) anregen. Andererseits möchte er gemäß der von ihm vertretenen Dekadenztheorie den Prozess nachzeichnen, der in seiner Epoche zur Krise der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart geführt hatte.
Wie Burton überzeugend gezeigt hat, wird man unter den remedia, die laut Livius in der Gegenwart niemand zu ertragen fähig ist, die bonae artes der früheren Epochen zu verstehen haben, die er in seinem Geschichtswerk darstellt und exemplifiziert.5 Diese remedia sind also dem moralischen Bereich zuzurechnen.6 Die Lösung der Gegenwartsprobleme liegt für Livius mithin im Rückgriff auf das altrömische Ideal. Er ist sich bewusst, dass dessen Verwirklichung unter den veränderten Bedingungen schwieriger geworden ist (denn, so wird man gedanklich ergänzen dürfen, die damit verbundenen Opfer und Einschränkungen sind unpopulär); und doch ist es für ihn die einzige positive Möglichkeit, die Dinge wieder zum Guten zu wenden. Mit dem in seiner Bemerkung insinuierten Pessimismus, ob diese remedia überhaupt noch Anklang finden werden, möchte Livius die Besorgnis seiner Leser wecken. In der wenig später folgenden Formulierung tibi tuaeque rei publicae – das Geschichtswerk soll exempla bieten „für Dich und Dein Staatswesen“ – ist eine positive politische Zielsetzung des Historikers für das Rom seiner Gegenwart impliziert.7
Die sich hier äußernde moralische Tendenz des Livius ist keine individuelle Besonderheit. Es wurde von einem Historiker in der Antike generell erwartet, dass er die in seinem Werk auftretenden Figuren nach ihren sittlichen Qualitäten beurteilte.8
Wie sehr die in der Praefatio zutage tretende moralisch-didaktische Zielsetzung gerade auch der römischen Tradition entspricht, ist nicht unbemerkt geblieben.9 Es genügt hier im Grunde, an Ciceros (den Livius als Schriftsteller sehr schätzte)10 Definition der Geschichtsschreibung als historia magistra vitae11 zu erinnern, woneben sich auch andere Zeugnisse zitieren lassen, die die Bedeutung historischer Exempel in der Rhetorik12 belegen und zeigen, dass die Historiker die Herausstellung solcher Exempel als ihre Aufgabe betrachteten.13 Die Römer suchten in ihrer Geschichte Beispiele vorbildlichen Verhaltens. Quintilian sieht in Gestalten wie Mucius Scaevola und Decius Mus den Beleg dafür, dass die Römer gegenüber den Griechen, die nur ein theoretisches Wissen um das sittlich rechte Verhalten haben, im Vorteil sind, da ihnen konkrete Beispiele vor Augen stehen (12,2,30).14 In diesem Sinne lassen sich auch die exempla des Livius fassen, die mithin als historische Konkretisierungen abstrakter moralischer Grundsätze erscheinen. Auch auf die möglichen Verzerrungen und Vereinseitigungen, die diese Einstellung bei der Beschreibung konkreter Einzelereignisse mit sich bringen kann, ist mit Blick auf Livius schon hingewiesen worden.
1.2Aufbau und Zielsetzung der Arbeit
Als für den Aufstieg Roms konstitutive Faktoren benennt Livius mit einer Anspielung an Ennius15 vita, mores, viri und artes (vgl. praef. 9). Sie alle haben mit dem Verhalten von Menschen zu tun; dieses menschliche Verhalten bildet den Inhalt des livianischen Geschichtswerks.16
In dieser Arbeit soll vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen die Rolle der menschlichen Akteure (also des ,menschlichen Faktors‘) und ihrer Interaktionen untereinander im historischen Prozess17 in dessen Darstellung durch Livius in ihren verschiedenen Facetten untersucht werden. Wie wirken die zu betrachtenden Akteure aus der Sicht des Livius in der Geschichte, und was sind die von ihm angenommenen äußeren und inneren (moralischen) Voraussetzungen ihres positiv oder negativ bewerteten Wirkens? Generell soll dabei betrachtet werden, auf welchen Wegen Livius sein Urteil dem Leser vermittelt und welche weiterführenden didaktischen Lektionen er auf diese Weise transportieren möchte. In der Zusammenschau sollen die dabei erzielten Ergebnisse es auch ermöglichen, in einem weiteren gedanklichen Schritt genauer zu beurteilen, wie Livius den durch die von ihm geschilderten Ereignisse hergestellten Ist-Zustand der eigenen Gegenwart beurteilte.
Unter historischem Prozess werden hier die großen Entwicklungen der römischen Geschichte verstanden, die Livius in der Praefatio selbst anspricht. Zum einen ist dies der Wachstumsprozess Roms, der als ein innen- und außenpolitischer gedacht ist (praef. 9: domi militiaeque) und dessen Erklärung in der Praefatio er als Ziel ausdrücklich mit seiner pädagogischen Intention kombiniert. Die Personendarstellungen sollen mit diesem teleologischen Geschichtsbild des Historikers in Verbindung gesetzt werden (das auf die Handlung in Form einer „finalen Motivierung“18 wirkt), wie es sich besonders auch in den von Anfang an auf die künftige Größe Roms verweisenden Prophezeihungen im Werk und in entsprechenden Bemerkungen des Historikers ausdrückt.19 Zum anderen ist der ab einem gewissen Zeitpunkt einsetzende innere Zersetzungsprozess zu betrachten, der laut Livius im Verfall von disciplina und mores besteht und sich bis in seine Gegenwart immer mehr verschärfte (praef. 9: labente deinde [...] perventum est). Als Merkmale dieser Dekadenz benennt er den materiellen Luxus und das Streben danach (praef. 12). Es ist von vornherein klar, dass der als zweiter angesprochene Verfallsprozess mit Männern, Sitten und Künsten ebenso zu tun hatte wie der erstgenannte, indem er eine Abkehr von den früheren positiven Qualitäten bezeichnet. Es ist daher zu fragen, inwiefern sich schon im Verlauf des erhaltenen Teils des livianischen Geschichtswerks anhand der Personendarstellungen eine solche Verschlechterung finden lässt. Die folgende Untersuchung beinhaltet also die von Livius in der Praefatio genannten Fragestellungen: Wodurch ist Rom groß geworden und wie hat sich sein Verfall vollzogen? Neben den „Männern und Künsten, durch die Rom groß geworden ist“ (vgl. praef. 9), werden mithin auch jene betrachtet, die Livius mit der von ihm beklagten Dekadenz in Verbindung bringt. Und neben den römischen Akteuren sollen auch die Nichtrömer in den Blick genommen werden, die durch ihre Interaktion mit jenen den Gang der Geschichte ja gleichfalls beeinflusst haben. Ihre Betrachtung kann auch deutlich werden lassen, welche Phänomene Livius als allgemein-menschlich ansah und welche für ihn spezifisch römisch waren.
Für den Aufbau der Arbeit gilt: Im ersten Hauptteil (Kapitel 2) werden Eigenschaften und historische Wirkungen untersucht, die größeren Gruppen von Akteuren gemeinsam sind und Typologien begründen. Dabei wird das livianische Figurenensemble gleichsam in seine verschiedenen Gruppen aufgeteilt und seziert. Der zweite Hauptteil (Kapitel 3) widmet sich verschiedenen Problemstellungen und historischen Wirkungen, die sich aus der individuellen Betrachtung historischer Akteure ergeben,20 was aber nicht ausschließt, dass auch hier grundsätzliche Fragen zur Sprache kommen, die über die einzelnen Akteure hinausweisen. Dabei ist etwa an das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft zu denken, eine Problematik, die sich immer wieder auf den Gang der Geschichte auswirkt. Wenn hier einerseits von Typen/Gruppen und andererseits von Individuen gesprochen wird, dann im Bewusstsein, dass dies eine erklärungsbedürftige Unterscheidung ist und es bei ihrer Betrachtung zu thematischen Überschneidungen kommen kann. Dennoch ist – wie gezeigt werden wird – diese Unterscheidung sinnvoll und durchführbar. Denn tatsächlich werden sich sowohl das Typische wie das Individuelle in dieser Arbeit als Strukturprinzipien des livianischen Figurenensembles erweisen, die getrennt behandelt werden müssen, um zu einem stimmigen Gesamtbild zu gelangen. Und dort, wo es zu thematischen Wiederholungen kommt, ermöglichen diese es, bestimmte historisch wirkmächtige Phänomene aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dadurch in ihrer Bedeutung besser zu erfassen.
In beiden Teilen soll also die Charakterisierung der handelnden Personen vor dem Hintergrund des von Livius dargestellten historischen Prozesses betrachtet werden. Kollektive und Individuen werden dabei als „geschehensbestim...