Der Einzige und die Deutsche Ideologie
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Der Einzige und die Deutsche Ideologie

Transformationen des aufklÀrerischen Diskurses im VormÀrz

  1. 699 Seiten
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Der Einzige und die Deutsche Ideologie

Transformationen des aufklÀrerischen Diskurses im VormÀrz

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Über dieses Buch

Die große Aufmerksamkeit, die Karl Marx und Friedrich Engels bei der Konzipierung der materialistischen Geschichtsauffassung und der Ideologiekritik Max Stirners Der Einzige und sein Eigenthum gewidmet haben, gibt bis heute Anlass zu Verwunderung. Ausgehend von einer Einbettung dieser beiden zentralen DenkansĂ€tze der europĂ€ischen Geistesgeschichte in die deutsche SpĂ€taufklĂ€rung des VormĂ€rz und einer neuen Entzifferung der Manuskripte zur Deutschen Ideologie rekonstruiert die vorliegende Studie die Bedeutung einer der intensivsten Auseinandersetzungen, die Marx und Engels je mit einem Denker gefĂŒhrt haben.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783110618327

1Die Wiederaufnahme des philosophisch-
aufklÀrerischen Diskurses im VormÀrz

Stirner, Marx und Engels konzipieren ihre AnsĂ€tze zur FortfĂŒhrung des emanzipativen Projekts der AufklĂ€rung in Abgrenzung zu einem Diskurs, der, auch in der Perspektive der Zeitgenossen, die historische GeburtsstĂ€tte dieses Projekts bildet. Sie und die anderen Junghegelianer denken AufklĂ€rung ursprĂŒnglich in einem philosophischen Rahmen, und die vormĂ€rzliche Gesellschaftskritik nimmt ihren Ausgang von dem Versuch der Wiederbelebung eines philosophisch-aufklĂ€rerischen Diskurses, von welchem allgemein angenommen wurde, er gestatte am ehesten, die theologische Hoheit in der Bestimmung des Bewusstseins zu brechen. In der christlichen Gestimmtheit der fĂŒr die gesellschaftlichen ZustĂ€nde verantwortlichen BewusstseinstrĂ€ger sehen sie, darin durchaus mit der sich in stĂ€ndiger Bedrohung wĂ€hnenden Staatsgewalt ĂŒbereinstimmend, den Garanten fĂŒr die Erhaltung der monarchischstĂ€ndischen Gesellschaftsordnung. Im folgenden Kapitel wird dargelegt, wie die zu Beginn noch vereint streitenden Junghegelianer versuchten, die im Verlaufe des 19. Jahrhunderts verloren gegangene Frontstellung von Philosophie und Theologie zu restituieren.
Dabei wird zuerst gezeigt, in welcher Situation die sich konstituierenden Junghegelianer, einem ersten Impuls David Friedrich Strauß’ folgend, begannen, den philosophisch-aufklĂ€rerischen Diskurs aus der Hegel’schen Harmonisierung mit den Ergebnissen theologischer Evidenzproduktion zu befreien und inwiefern sie die Arena der Auseinandersetzung mit einem monarchischen Akteur zu teilen hatten, dessen diametral entgegengesetzter Versuch einer sakralen (Re-)Fundierung der preußischen Monarchie auf den nĂ€mlichen Voraussetzungen fußte, auf welchen sie selbst ihre Überzeugungsversuche grĂŒndeten (Abschnitt 1). Daran anschließend wird dieses, sowohl ihre eigenen diskursiven EinsĂ€tze, als auch die Maßnahmen ihrer Gegner strukturierende, bewusstseinszentrierte Modell gesellschaftlicher VerĂ€nderung, das ĂŒberhaupt erst die politische Relevanz eines wiederbelebten philosophisch-aufklĂ€rerischen Diskurses begrĂŒndete, in seinen drei verschiedenen Konfigurationen entwickelt (Abschnitt 2). Schließlich werden die beiden wirkmĂ€chtigsten Angriffe der junghegelianischen Phase der deutschen SpĂ€taufklĂ€rung auf die Überzeugungskraft der theologischen Evidenzproduktion vorgestellt, nĂ€mlich die Feuerbach’sche anthropologische Reduktion der Religion, die eine philosophisch-sensualistische Produktion von Evidenz zu etablieren strebte (Abschnitt 3), und die Bauer’sche RĂŒckfĂŒhrung des Christentums auf die Verwirklichung des Selbstbewusstseins, die auf eine philosophisch-naturalistische Produktion von Evidenz rekurriert (Abschnitt 4).

1.1Der NĂ€hrboden der Kritik – Kontexte der Restitution einer
Frontstellung von Philosophie und Theologie

Im Rahmen der Einleitung wurde eine Deutung der junghegelianischen Debatte skizziert, die diese im Kontext der Weiterentwicklung des um Emanzipation bemĂŒhten, aufklĂ€rerischen Diskurses im 19. Jahrhundert verortet. Das Ziel des aufklĂ€rerischen Diskurses in seiner klassischen Form wurde als die Erringung der Hoheit in der diskursiven Bestimmung der zustandsrelevanten BewusstseinstrĂ€ger charakterisiert und aus argumentationsstrategischer Perspektive als der Versuch bestimmt, die fĂŒr die theologische Diskurskontrolle zentrale Form von Evidenzproduktion zu unterminieren. Letztere nimmt ihren Ausgang von einem Rekurs auf die theologische Evidenz heiliger AutoritĂ€ten (mit gelegentlichen Anleihen bei der philosophischen Evidenz gelingender Begriffsentwicklung). Im Folgenden wird zu untersuchen sein, in welchem VerhĂ€ltnis die fĂŒr die aufkommende junghegelianische Debatte grundlegende, auf der Spekulation Hegels grĂŒndende, philosophische Form der Produktion von Evidenz zur theologischen Evidenzproduktion steht, um ein VerstĂ€ndnis der Versuche zu ermöglichen, welche allen voran Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer unternahmen, um sich sowohl von der theologischen, als auch von der philosophisch-spekulativen Form der Produktion von Evidenz abzusetzen.
Begonnen werden muss, dies liegt bei einer Untersuchung der junghegelianischen AufklĂ€rung des VormĂ€rz nahe, mit einer Entwicklung, die ein spezifisch preußisches PhĂ€nomen darstellt und die sich mit dem Namen Georg Wilhelm Friedrich Hegel verbindet. Die Philosophie Hegels war fĂŒr die junghegelianischen Versuche der Wiederaufnahme und Weiterentwicklung des klassisch-aufklĂ€rerischen Diskurses natĂŒrlich von fundamentaler Bedeutung. Und dies nicht nur aus dem naheliegenden Grund ihrer prĂ€genden Wirkung auf die Protagonisten der junghegelianischen Debatte, deren Absicht einer Überwindung der Hegel’schen Philosophie nicht darĂŒber hinweg tĂ€uschen darf, dass sie dem Denkens Hegels malgrĂ© eux verhaftet bleiben – der „Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems“, wie Marx und Engels den Zeitraum zwischen Strauß’ Leben Jesu und ihrer Arbeit an der „Deutschen Ideologie“ pointiert beschreiben werden,42 mag zwar eine „Verwesung“ sein, aber die Herausarbeitung aus dem gedanklichen Universum Hegels war fĂŒr seine SchĂŒler ein zĂ€her und langwieriger Prozess. Von Interesse ist an dieser Stelle jedoch ein anderer Aspekt der Hegel’schen Philosophie. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, bedingte die spezifisch Hegel’sche Form der Produktion von Evidenz, die nicht nur auf die philosophische Evidenz gelingender Begriffsentwicklung, sondern auch auf die theologische Evidenz heiliger AutoritĂ€ten rekurrierte, eine fĂŒr die Wiederaufnahme des klassisch-aufklĂ€rerischen Diskurses im vormĂ€rzlichen Preußen folgenreiche Situation.
Auf die Evidenzen heiliger AutoritĂ€ten und gelingender Begriffsentwicklung wurde in der wissenschaftlichen Theologie wie auch in Hegels spekulativer Philosophie rekurriert. Der Unterschied lag in der Gewichtung der beiden Weisen der Evidenzproduktion: Griff die Theologie auf die Evidenz gelingender Begriffsentwicklung zurĂŒck, um die Ergebnisse des Rekurses auf die Evidenz heiliger AutoritĂ€ten zu stĂŒtzen, lag das Gewicht im Falle gegenlĂ€ufiger Evidenzerfahrungen also auf Seiten der theologischen Evidenz heiliger AutoritĂ€ten, so war das VerhĂ€ltnis im Falle Hegels in gewissem Sinne umgekehrt. Der argumentative Hintergrund, vor welchem die Hegel’sche Philosophie ihre Geltung beweisen musste, war nicht die Evidenz heiliger AutoritĂ€ten (dann hĂ€tte er sich die Entwicklung der spekulativen Philosophie sparen können), sondern die Evidenz gelingender Begriffsentwicklung. Insofern ist die von Karl Löwith gebrauchte Metapher einer Hegel’schen „Versöhnung“ von Philosophie und Theologie irrefĂŒhrend,43 denn diese Versöhnung ist eine unter der Hoheit der Philosophie.44
Das von Hegel vollbrachte „KunststĂŒck“ einer Harmonisierung der Ergebnisse von theologischer und philosophischer Evidenzproduktion ist in diesem Sinne eher darin zu sehen, dass Hegel eine vor dem Hintergrund philosophischer Evidenzerfahrungen sehr ĂŒberzeugende Version einer letztlich widerspruchsfreien Vereinbarkeit der Ergebnisse der beiden Weisen der Produktion von Evidenz entwickelte. FĂŒr die Theologie stellte diese Leistung keinen besonderen Gewinn dar, denn aus theologischer Perspektive bedurfte die Wahrheit der heiligen Schrift nicht erst eines philosophischen Beweises.45 Die Hegel’sche Philosophie saß in der vormĂ€rzlichen Gemengelage insofern zwischen den StĂŒhlen: fĂŒr die wissenschaftliche Theologie war der philosophische Aspekt der Harmonisierung störend und schwĂ€chte eher die Überzeugungskraft der Evidenz heiliger AutoritĂ€ten, fĂŒr die klassisch-aufklĂ€rerisch orientierten Philosophen stellte die Harmonisierung von theologischer und philosophischer Evidenzproduktion in erster Linie eine theologische Domestizierung der letzteren dar.
An dieser Stelle interessiert aber noch ein anderer Aspekt der Hegel’schen Harmonisierung. Die mit letzterer einhergehende EntschĂ€rfung des revolutionĂ€ren Potenzials des philosophisch-aufklĂ€rerischen Diskurses, welcher in der Konsequenz der Hegel’schen Philosophie nur ein weiteres Moment der Verwirklichung der absoluten Idee darstellt, zeitigte verschiedene Konsequenzen, die sich vor allem in Preußen bemerkbar machten. So eröffneten sich den AnhĂ€ngern der Hegel’schen Philosophie besonders gĂŒnstige Karrieremöglichkeiten – eine Philosophie, die keine Gefahr mehr fĂŒr das die bestehende Ordnung stĂŒtzende christliche Bewusstsein war, die vielmehr zur weiteren Festigung des christlichen Bewusstseins beitrug und die darĂŒber hinaus den philosophisch-aufklĂ€rerischen Angriffen unter Rekurs auf die gleichen Evidenzerfahrungen, also auf Augenhöhe begegnen konnte, konnte sich einer UnterstĂŒtzung durch die sich gefĂ€hrdet sehende Staatsmacht sicher sein. In Preußen verband sich die besondere Verankerung der Hegel’schen Philosophie im Bildungswesen mit der Person des von 1817 bis 1838 amtierenden Kultusministers Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein.46 Seiner wohlwollenden Haltung gegenĂŒber der Hegel’schen Philosophie verdankten viele SchĂŒler Hegels die Möglichkeit einer besoldeten akademischen Laufbahn. Zugespitzt formuliert, begrĂŒndete die Hegel’sche Philosophie vor dem Hintergrund der in dieser Untersuchung verfolgten Fragestellung insofern eine Situation, in welcher der aufklĂ€rerische Diskurs nicht mehr in Frontstellung zur traditionellen Arbeitsteilung zwischen Theologie und Krone bei der Kontrolle der zustandsrelevanten BewusstseinstrĂ€ger stand, sondern in diese traditionelle Arbeitsteilung integriert wurde.
Diese Integration in die traditionelle Arbeitsteilung bei der Bestimmung des Bewusstseins konnte jedoch nicht darĂŒber hinwegtĂ€uschen, dass die „Versöhnung“ von Theologie und Philosophie eine unter der Hoheit der letzteren war. Die Hegel’sche Philosophie war allenfalls eine theologisierte Philosophie, aber eben keine Theologie. Diese Spannung trat bereits offen zutage als David Friedrich Strauß 1835 mit seinem Leben Jesu fĂŒr eine „mythische“ ErklĂ€rung der evangelischen Geschichte plĂ€dierte. So heißt es im Vorwort zur 1. Auflage: „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine ĂŒbernatĂŒrliche, enthalten sei; wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, daß in jenen BĂŒchern lautere, wenngleich natĂŒrliche Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muß auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir ĂŒberhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“47 Schon aus dieser Passage erhellt das SpannungsverhĂ€ltnis, in welchem theologische Bibelexegese und kritische Wissenschaft, deren Gewissheit auf der Evidenz gelingender Begriffsentwicklung ruhte, standen.
Doch die BrĂŒchigkeit der vermeintlichen „Versöhnung“ von Theologie und Philosophie und die von beiden Seiten zu eigenen Gunsten gelöste Frage nach der letztinstanzlichen Entscheidungskompetenz bezĂŒglich der Gewichtung gegenlĂ€ufiger Evidenzerfahrungen wurde von Strauß offensiv formuliert: „Den gelehrtesten und scharfsinnigsten Theologen fehlt in unsrer Zeit meistens noch das Grunderforderniß einer solchen Arbeit, ohne welches mit aller Gelehrsamkeit auf kritischem Gebiete nichts auszurichten ist: die innere Befreiung des GemĂŒths und Denkens von gewissen religiösen und dogmatischen Voraussetzungen, und diese ist dem Verfasser durch philosophische Studien frĂŒhe zu Theil geworden. Mögen die Theologen diese Voraussetzungslosigkeit seines Werkes unchristlich finden: er findet die glĂ€ubigen Voraussetzungen der ihrigen unwissenschaftlich.“48 Die im Zuge der Kritiken Feuerbachs und Bauers wieder aufbrechende Konkurrenz zwischen theologischer und philosophisch-aufklĂ€rerischer Bestimmung der politisch relevanten BewusstseinstrĂ€ger fand sich im Streit ĂŒber die Interpretationshoheit der evangelischen Geschichte bereits antizipiert.
Im Gegensatz zu Feuerbach und Bauer zog Strauß jedoch nicht die Konsequenz einer vollstĂ€ndigen Disqualifikation der theologischen Evidenz heiliger AutoritĂ€ten, die schon bei der Hegel’schen Evidenzproduktion gegebene Ordnung von dominanter, philosophischer und unterstĂŒtzender, theologischer Quelle von Evidenzerfahrungen blieb bei Strauß gewahrt: „Den inneren Kern des christlichen Glaubens weiß der Verfasser von seinen kritischen Untersuchungen völlig unabhĂ€ngig. Christi ĂŒbernatĂŒrliche Geburt, seine Wunder, seine Auferstehung und Himmelfahrt, bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre Wirklichkeit als historischer Facta angezweifelt werden mag. Nur die Gewißheit davon kann unsrer Kritik Ruhe und WĂŒrde geben, und sie von der naturalistischen voriger Jahrhunderte unterscheiden, welche mit dem geschichtlichen Factum auch die religiöse Wahrheit umzustĂŒrzen meinte, und daher nothwendig frivol sich verhalten mußte.“49
Mochte die Verneigung vor den christlichen „ewigen Wahrheiten“ in der soeben zitierten Passage auch zum Teil der RĂŒcksichtnahme auf die Anforderungen zensorischer Zustimmung geschuldet sein, so bleibt dennoch festzuhalten, dass die von Strauß betriebene Kritik der gelĂ€ufigen biblischen Narration des Leben Jesu eine deutliche Distanznahme gegenĂŒber den theologischen SelbstverstĂ€ndlichkeiten des VormĂ€rz beinhaltete. Im Unterschied zu den in der Folge zu thematisierenden Kritiken Bauers und Feuerbachs zeigt sich jedoch auch, dass der Strauß’schen Kritik jede politische Motivation fehlte. Strauß kam zu seiner ErklĂ€rung des Leben Jesu allein durch ein kritisch-wissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Insofern implizierte die Strauß’sche Kritik zwar eine Ablehnung der theologischen Bestimmung der zustandsrelevanten BewusstseinstrĂ€ger, sie erlaubte jedoch gleichzeitig die Wahrung eines Zustandes gegenseitiger Duldung zwischen philosophisch-kritischer Diskurskontrolle und monarchischer Verfasstheit des im Rahmen der Bewusstseinsbestimmung legitimierten Gesellschaftszustands. Es ist diese Situation, welche im Folgenden als die „staatstragende“ Variante junghegelianischer AufklĂ€rung bezeichnet wird – Frontstellung zur Theologie aber Vertrauen auf die ZugĂ€nglichkeit monarchischer EntscheidungstrĂ€ger fĂŒr die Maximen vernĂŒnftigen Regierungshandelns. Hegel’sche Philosophie und Strauß’sche Kritik des Leben Jesu können folglich als noch nicht politisierte VorlĂ€ufer des von den Junghegelianern wiederaufgenommenen philosophisch-aufklĂ€rerischen Diskurses im VormĂ€rz gelten.
FĂŒr den Beginn der Politisierung einer ursprĂŒnglich innerhalb der Hegel’schen Schule gefĂŒhrten Debatte ĂŒber den richtigen Anschluss an die Philosophie Hegels zwischen den sich konstituierenden Lagern der Alt- und Junghegelianer, bzw. der Rechts- und Linkshegelianer,50 war der dynastische Wechsel an der Spitze des preußischen Staates im Jahre 1840 von grundlegender Bedeutung. Nach der 43 Jahre wĂ€hrenden Herrschaft des von den Zeitgenossen als stark reaktionĂ€r empfundenen Friedrich Wilhelm III., dessen Regentschaft nach dem Wiener Kongress 1815 und dem Ende der preußischen Reform-Ära vor allem darauf ausgerichtet war, den nicht zuletzt im Zuge der Juli-Revolution von 1830 erstarkten, liberalen Bestrebungen des aufkommenden deutschen BĂŒrgertums die Entfaltung zu verwehren und die standesrechtliche Ordnung Preußens vor dem Korsett einer versprochenen, schriftlich zu fixierenden Konstitution zu bewahren, verbanden sich mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. am 7. Juni 1840 in den fortschrittlich gesinnten Kreisen große Hoffnungen.
Diese Hoffnungen nahmen ihren Ausgang nicht nur von der Person des neuen Königs, dessen zwar stark pietistisch geprĂ€gte, aber eben vorhandene Bildung ihn von dem Großteil seiner VorgĂ€nger unterschied – so hatte Friedrich Wilhelm etwa Strauß’ Das Leben Jesu rezipiert –, sondern vor allem von der besonderen Bedeutung des Jahres 40 in der preußischen Geschichte. Seit den Feierlichkeiten anlĂ€sslich des 100-jĂ€hrigen ThronjubilĂ€ums Friedrich des Großen, des Sinnbildes einer von vielen ersehnten, aufgeklĂ€rten preußischen Monarchie schlechthin, waren zum Zeitpunkt der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. gerade ein paar Wochen vergangen, und dieser VergegenwĂ€rtigung der Regierungszeit des „Philosophenkönigs“ kam sicher der grĂ¶ĂŸte Einfluss auf die geradezu eschatologische Aufladung der zeitgenössischen Erwartungen bezĂŒglichen der neuen Regentschaft zu. DarĂŒber hinaus markiert das Jahr 40 in der preußischen Geschichte nicht nur den Beginn der Herrschaft Friedrich des Großen – 1440 ist das Todesjahr des ersten KurfĂŒrsten von Preußen, 1540 kennzeichnet den B...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. Einleitung
  7. 1 Die Wiederaufnahme des philosophisch-aufklÀrerischen Diskurses im VormÀrz
  8. 2 Fraktionierung und Scheitern der junghegelianischen AufklÀrung 1842/43
  9. 3 Die philosophische AufklÀrung nach der EnttÀuschung
  10. 4 Max Stirner als Vertreter der philosophischen AufklÀrung
  11. 5 Die Konturierung einer nichtphilosophischen AufklĂ€rung – Max Stirners Schriften nach der EnttĂ€uschung von 1842/43
  12. 6 Die Kritik des philosophisch-aufklÀrerischen Diskurses in Der Einzige und sein Eigenthum
  13. 7 Max Stirners Entwurf eines individualistisch-aufklÀrerischen Diskurses
  14. 8 Eine kritische Neuausrichtung – Karl Marx und Friedrich Engels nach der EnttĂ€uschung von 1842/43
  15. 9 Die MaterialitĂ€t der Kritik – Zum Abfassungskontext der philosophie-kritischen Manuskripte zur „Deutschen Ideologie“
  16. 10 Die Kritik von Stirners individualistisch-aufklĂ€rerischem Diskurs in den Manuskripten zur „Deutschen Ideologie“
  17. 11 Karl Marx’ und Friedrich Engels’ Entwurf eines erfahrungswissenschaftlich-aufklĂ€rerischen Diskurses
  18. 12 „Ideologie“ und „KleinbĂŒrger“ als Komplemente
  19. 13 Der Einzige und die Deutsche Ideologie – Transformationen des aufklĂ€rerischen Diskurses im VormĂ€rz
  20. Bibliografie
  21. Namenregister
  22. Sachregister