All-in-One
Als der iPod (und später das iPhone) auf den Markt kam, waren in den Verpackungen überraschenderweise keine Bedienungsanleitung enthalten. Steve Jobs war überzeugt, dass die Käufer in der Lage sein würden, sein Produkt rein instinktiv richtig zu benutzen. Der Umgang mit dem Gerät war in der Tat einfach, aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen erforderte kolossale Vorarbeiten. Jobs führte das Konzept der »nahtlosen Nutzererfahrung« ein, heute »reibungslose Kundenerfahrung« genannt. Fluidität ist die neue Norm.
1984 brachte Apple im Zuge der Markteinführung des Mac einen Werbespot heraus, der sich auf George Orwells Roman 1984 bezog. Mit dem Slogan »Ihr werdet sehen, warum 1984 nicht wie 1984 ist …«4 wies das Unternehmen auf ein neues Konzept hin: die Vorstellung, dass sich Maschinen den Bedürfnissen des Menschen anpassen sollten und nicht umgekehrt. Heute sollten die Algorithmen den Bedürfnissen der Nutzer entsprechen. Die Technologie darf nicht einengend sein, die Ergonomie muss flüssige Interaktionen gestatten. Damit ist eine Zukunft vorprogrammiert, in der wir durch den vollkommen vertrauten Umgang mit Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes optimiert werden. Das Ergebnis: eine Welt ohne Reibung zwischen Mensch und Maschine.
Von den Stores bis zu den Produkten, von iPods zu Macs, von den iTunes-Downloads zu iPad Apps – Apple versteht besser als jeder andere, was Physiker als Wissenschaft der reziproken Aktionen bezeichnet. Apple schuf als erstes Unternehmen ein Ökosystem, in dem die Geräte automatisch miteinander kompatibel sind, in dem die Produkte »naturgemäß« zusammenarbeiten. Wie wir uns vermutlich alle erinnern, begann diese Entwicklung mit dem iPod. Die ursprüngliche Werbeidee besagte ganz einfach: »1,000 songs in your pocket« (»1000 Songs in deiner Tasche«), um den Slogan auf den Werbetafeln und Plakatwänden zu zitieren, den die Agentur TBWA\Chiat\Day für Apple kreierte. Das Angebot des Unternehmens bestand aus der Kombination von iTunes, iTunes Stores und iPod. Fotos, Spiele und Apps kamen später dazu, als eine zunehmende Anzahl von Usern die Plattform nutzte.
Viele Unternehmen aus aller Welt sind heute darauf bedacht, firmeneigene Ökosysteme zu entwickeln, Geschäftsmodelle mit ausgefeilter Architektur. Die chinesischen Konzerne stellen in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Beispielsweise haben etliche hundert Millionen Chinesen inzwischen WeChat und Alipay. Sie nutzen diese All-in-One Apps ständig, um mit Freunden zu kommunizieren, Rechnungen zu bezahlen, ein Taxi zu bestellen, Hotels und Flugtickets zu buchen, Nachrichten anzuschauen oder Termine auszumachen. In einem Artikel des Magazins Fast Company über die facettenreichen »Super Apps« erklärte Albert Liu, EVP des Bereichs Unternehmensentwicklung im Technologiekonzern Veriphone: »Der Vorteil von Super Lifestyle Apps wie Alipay oder WeChat ist, dass sie schrittweise mehr Daten gesammelt haben als eine App, die sich auf einen einzelnen Bereich konzentriert … In den USA gibt es nichts Vergleichbares.«5 WeChat wird im Durchschnitt zehn Mal am Tag für andere Aktivitäten als Chatten benutzt. Sie gilt »eine App, die alle anderen dominiert«. Dieses All-in-One-Denken ist nicht weit von der Denkweise entfernt, die Steve Jobs der Nachwelt hinterlassen hat. Und dieser Ansatz treibt heute die Smartphone-Explosion in China voran.
1983, bei der International Design Conference in Aspen, Colorado, hatte Steve Jobs bereits das ungeheure Potenzial der Applikationen definiert. Als fantastischer Visionär, der er war, hatte er eine Zukunft vorausgesagt, in der jeder Nutzer einen »unglaublich leistungsfähigen Computer in Buchformat« besitzen wird, den man »überallhin mitnehmen kann und innerhalb von 20 Minuten zu bedienen lernt«.6 Mit der Markteinführung des iPhone im Jahre 2007 waren alle vorherigen Anwendungen ein für alle Mal veraltet. Apps wurden zum ersten Mal als einfache Icons präsentiert, zugreifbar über eine benutzerfreundliche, berührungsempfindliche Multi-Touch-Oberfläche. Dabei entwickelte Steve Jobs Apps, die optisch ansprechend und leicht zu benutzen waren. Vorher wäre niemand auf die Idee gekommen, dass im Verlauf des nächsten Jahrzehnts Millionen Apps das Licht der Welt erblicken würden. Ohne Steve Jobs’ Gespür und Bestreben, seine Zukunftsvision zu realisieren, koste es was es wolle, hätte es Firmen wie Uber und Airbnb vermutlich nie gegeben. Zumindest nicht in ihrer heutigen Form.
Anfang der 80er Jahre verfolgte Steve Jobs eine weitere Idee, die von seinen Konkurrenten angefochten wurde. Er erklärte: »Die Software wird mehr und mehr in die Hardware integriert … Die Software von gestern ist die Hardware von heute. Und die Trennlinie zwischen Hardware und Software wird immer feiner.«7 Ich erinnere mich, dass einige Beobachter der damaligen Szene Steve Jobs wegen seines Bedürfnisses anprangerten, Apple in ein Unternehmen zu verwandeln, das Hardware und Software miteinander kombinieren wollte. In den Augen seiner Kritiker drohte dieses Vorhaben die Marke in einen Nischenmarkt zu verbannen. Eine Zeitlang wurden die Argumente der Neinsager durch den Erfolg der scheinbar absoluten Kompatibilität von Microsoft Windows bestätigt. Es stimmt, dass Apple anfangs die Marke einer kleinen Streitmacht von Gläubigen war, oft aus kreativen Branchen. Diese leidenschaftlichen Markenbefürworter ermöglichten Apple, bis zum Wendepunkt 2001 durchzuhalten, als der iPod in den Handel kam. In jenem Jahr stellte Steve Jobs die Welt auf den Kopf, läutete eine neue Ära für das Design ein.
Apple war einer der ersten Anwender des damals bereits bekannten »Design Thinking«, ein sowohl analytischer als auch intuitiver Ansatz zur Entwicklung neuer Ideen und Problemlösungen, der zu einem tieferen Verständnis der Nutzererfahrungen führt. Apple beschleunigte seine Verbreitung.
Heute folgen alle Technologiefirmen Steve Jobs’ Fußspuren. Programmierer interessieren sich nicht nur dafür, was Maschinen bewerkstelligen, sondern vor allem, wie sie benutzt werden. Jobs’ Vorhersagen trafen ein, denn die Interaktion zwischen Software und Hardware wurde zum Kennzeichen der gesamten Branche.
John Gapper, Chefkommentator der Financial Times, erklärte in einer Kolumne über Googles Projekt, eine vollständige Plattform – Software und Hardware – für selbstfahrende Autos zu entwickeln: »Ohne die iPhone-Revolution kann man sich nur schwer vorstellen, dass ein Technologiekonzern einen Vorstoß in den Transportmarkt unternimmt oder ein Gerät entwirft, das autonomes Fahren ermöglicht und dabei Datenströme empfängt und übermittelt.«8 Das iPhone hat den Technologiefirmen Zugang zu einer neuen Welt, zur Welt der unbegrenzten Möglichkeiten verschafft. Es war ein bahnbrechendes Produkt, das nahtlose Hard- und Softwarelösungen ermöglichte und der Innovation neue Freiräume erschloss.
Erst wenn Hardware und Software perfekt zusammenwirken, lassen sich die Nutzererfahrungen optimieren. Und was verkörpert eine Strategie heute, wenn nicht das fortwährende Bestreben, die Erfahrung der Nutzer von Produkten und Dienstleistungen zu verbessern? Aus diesem Grund beginnen die Firmen nach und nach, wie es in der Harvard Business Review heißt, »die Unternehmensstrategie als Designübung zu betrachten«.9 Diese Vorgehensweise erleichtert die Lösung von Problemen, die immer vielschichtiger werden, in großem Maßstab auftreten und mehrstufige Prozesse beinhalten. Die Auseinandersetzung mit der Funktion eines Objekts und dessen Interaktion mit den Benutzern trägt dazu bei, diese Komplexität transparenter zu machen.
Für Steve Jobs war Design weniger ein physischer Prozess als vielmehr eine Denkweise. Es war die zielstrebige, fokussierte Vision, die sein Unternehmen antrieb. Infolgedessen übernahm Apple die Verantwortung für die End-to-End-Prozesse – die bei der Kundenerfahrung beginnen und aufhören, um die Wertschöpfungskette effektiver zu gestalten –, lange bevor das »Designdenken« in Mode kam und Jahrzehnte bevor das Konzept in der Welt der Unternehmen Fuß fasste.
Die Kunst der Reduktion
Wichtig ist nicht nur das Design Thinking, sondern auch das Design im üblichen Wortsinn. Jonathan Ive, etliche Jahre Apples Chefdesigner, folgte stets einem minimalistischen Ansatz. Dieses Streben nach Unkompliziertheit bezeichnen wir als »Kunst der Reduktion«.
Eines der Schlüsselelemente des Minimalismus ist der Dualismus von Einfachheit und Fülle, die Tatsache, dass unkomplizierte Formen einen Blick auf das Wesentliche ermöglichen. Auf der Suche nach unverzüglicher Lesbarkeit befürworten die Vertreter der minimalistischen Kunst, die Form müsse der Funktion eines Objekts folgen. Apple ist der Inbegriff dieser Philosophie. Alle überflüssigen Ornamente oder Elemente werden entfernt. Apple zielt darauf ab, das Objekt als Idee zu präsentieren. Dieser Ansatz bildet das Fundament des Minimalismus.
Steve Jobs verwandelte Computer in Wunschobjekte, sorgte dafür, dass das Design ins Gewicht fiel. Er öffnete Milliarden Menschen die Augen. Er machte Maschinen benutzerfreundlich und optisch ansprechend, verlieh Büros eine angenehme Atmosphäre. Apple brachte Ästhetik in einen Bereich, in dem man kaum damit rechnete, und steigerte damit unsere Erwartungen an das äußere Erscheinungsbild eines Objekts – ein für alle Mal, ungeachtet der Produktkategorie.