1.1Gronemanns zionistische Bekehrung
Für Sammy Gronemann war der Zionismus die Pointe der Geschichte des Judentums: Ein geistreicher, überraschender Schlusseffekt, der das Vorhergegangene in einem heiteren Licht erscheinen lässt; dessen eigentlicher, unerwarteter Sinn – sein Kulminationspunkt. Wie ein Witz mutet auch seine unvermutete widerwillige Bekehrung zum Zionismus im Jahre 1897 an. Er beschreibt sie in seinen in Tel Aviv geschriebenen und dort im Jahre 1946 erschienenen Erinnerungen folgendermaßen:
Es war einige Monate vor dem ersten Kongreß, als ich in der Berliner Stadtbahn mit einem älteren Herrn, Herrn Schragenheim, zusammen fuhr, der gleich mir sich der zionistischen Lehre zu erwehren suchte. Wir sprachen über die Versammlung, die am Abend vorher in Dräsel’s Festsälen stattgefunden hatte und in der Albert Goldberg für den Zionismus gegen eine Übermacht eingetreten war. Wir waren, wie gesagt, in unserer Gegnerschaft einig. Auf einmal fuhr es mir heraus: »Es ist doch eigentlich verflucht schwer, nicht Zionist zu sein.« Mein Gegenüber stutzte, sah mich nachdenklich an, nickte dann und sagte: »Das ist richtig.«1
Gronemann legt zwar nahe, dass er als neo-orthodoxer Jude den Zionismus als Verwirklichung seines Judentums erkannt hatte, doch die sich ihm aufzwingende Logik verschweigt er seinen Lesern. Vielmehr deutet er an, er habe sich nicht länger der Eindringlichkeit des Zionismus »erwehren« können. Albert Goldberg hatte auf Gronemann Eindruck gemacht, weil er »gegen eine Übermacht eingetreten war«, in der er kurz zuvor noch Rückhalt gefunden hatte. Das als heroisch wahrgenommene individuelle Auftreten Goldbergs hatte Gronemanns traditionelle Selbstwahrnehmung und Weltanschauung in Frage gestellt und ihn seinerseits dazu gezwungen, in Distanz zur Masse zu gehen. Das konnte nicht ohne Schuldgefühle vonstattengehen, sondern nur mit einer Gefühlsmischung aus Verrat und Reue:
Da begann ich mich zu schämen, und mir stieß zum ersten Mal der Gedanke auf, daß ich vielleicht nur dem allgemeinen Trägheitsgesetz folgend mich ablehnend verhielt. Ich beschloß, eine Zeit lang mich von allen Versammlungen fernzuhalten, für mich das Problem zu studieren und durchzudenken. Das tat ich denn auch. Ich las und dachte nach. Schließlich ist jeder Zionismus, um ein Wort York-Steiners zu gebrauchen, nichts als das logisch zu Ende gedachte Judentum.2
Gronemann begann also jenes Judentum, in welchem ihn sein Vater, der Rabbiner Selig Gronemann, erzogen hatte, »logisch zu Ende« zu denken. Das Resultat war, dass er wenige Wochen später in die zionistische Bewegung eintrat: Erst legte er sein »Bekenntnis zum Zionismus« ab, um dann »in feierlicher Stimmung« die Quittung seines ersten Mitgliedsbeitrages, des Schekels, von Dr. Brody, dem späteren Oberrabbiner von Prag, entgegenzunehmen. »Mit diesem Akt war ich endgültig in das jüdische Heer eingereiht«, schreibt Gronemann, doch dieses »Heer« bot ihm keinen Rückhalt, denn die Einfachheit, mit der er in die zionistische Bewegung eintreten konnte, schien ihm suspekt. Wie konnte er, der eben noch unreflektierter Mitläufer gewesen war und durch individuelle Denkleistung seine persönliche Überzeugung erlangt hatte – ein Akt einzelkämpferischer Opposition, den er bei Goldberg bewunderte und mit dem er den Zionismus identifizierte –, sich nun wieder in eine Massenbewegung einreihen?3 Das stellte doch die scheinbar überlegene Wehrkraft dieser schutzgebietenden Mehrheit, somit auch den Zionismus als sicheren Zufluchtsort in Frage: Einmal im »jüdischen Heer eingereiht« versuchte Gronemann daher, dessen Reihen dichter zu schließen. Noch im Jahr 1946 berichtet er seinem jüdischen Publikum im britischen Mandatspalästina von dieser unermüdlichen Anstrengung:
Ich habe bis heute die Auffassung vertreten, daß die Schekelquittung nur jemandem gegeben werden sollte, der mit der Zahlung des Schekels gleichzeitig ein Glaubensbekenntnis und einen Treueschwur ablegt. Ich habe auch späterhin, als ich selber für den Zionismus propagierte, bedenkenlos jedem den Schekel verweigert, von dem ich nicht überzeugt war, daß er das zionistische Programm wirklich ernsthaft erfaßt hatte.4
Wer den initialen Akt des logischen Durchdenkens nicht vollzogen und sich nicht zum rechten »Glauben« durchgerungen hatte, daher keines »Treueschwurs« fähig sei, dem verwehrte Gronemann seinerseits »bedenkenlos« den Zutritt zum Zionismus. Ähnlich Kafkas Türhüter Vor dem Gesetz präsentiert er sich hier vor den Statuten des Zionismus: Auf seine Weisung hin vermag niemand einzutreten, der das Rätsel der eigenen Prinzipien nicht zu lösen vermag, bemühe er sich noch so sehr, »durch das Tor in das Innere zu sehn.«5
Im selben Jahr, in dem Gronemann erstmals seine Erinnerungen veröffentlichte, erschien sein Essay über Jüdischen Witz und Humor,6 der einen Schlüssel zu dieser zwar offensichtlichen, aber ideologisch verschlossenen Pforte liefert: »Der Witz ist eigentlich eine Art Hinterhalt, die dem Hörer gestellt wird«, behauptet Gronemann und erklärt, wofür diese Falle gebraucht werde: »Der Witz ist eine Waffe« zur Verteidigung des Humors, dieser wiederum sei »prinzipiell Weltanschauung«.7 Der die jüdische Weltanschauung charakterisierende Humor sei aber optimistischer Natur. Man könne also getrost von ihm annehmen, so Hanni Mittelmann, dass er unter säkularen Vorzeichen das messianische Erlösungsversprechen des traditionellen Judentums fortführe.8 Dieses aber bedarf des Witzes zu seiner Verteidigung und Erfüllung.
Für Gronemann verteidigt der Witz den Humor, indem er ihn »vermittels Übertreibung verschiedener Eigenschaften enthüllt, aufdeckt und demaskiert«9. Er sei somit primär reflexiv und selbstkritisch. Zwar lache der Mensch »letzten Endes über sich selbst«, doch insbesondere die jüdische Weltanschauung – der Humor der Juden – zeichne sich durch »Selbstgeißelung« aus. Juden hätten
ein so unerschütterliches Selbstvertrauen, dass sie es sich erlauben können, ihre eigenen Schwächen zu geißeln, sind sie sich doch ihrer Kräfte bewußt und vertrauen ihnen. Daher können sie es wagen, sogar das Allerheiligste zu belangen, denn es ist unerschütterlich: sein Wert kann weder vermindert, noch seiner Prachtgewänder beraubt werden.10
Wenn der Zionismus nach Gronemann (und York-Steiner) aber ein konsequent »zu Ende« gedachtes Judentum ist, mithin also dessen allerheiligster Gehalt, der sich im Zionismus manifestierte, so müsste dort auch seine Pointe zu finden sein. Gronemann hatte beschrieben, wie »verflucht schwer« es ihm gefallen war, »nicht Zionist zu sein«. Er schildert also seine Bekehrung als Konversion vom Nicht-Zionisten zum Zionisten als plötzliches Aufgeben einer Abwehrhaltung, als Negation der Verneinung und als entscheidende Hundertachtzig-Grad-Wendung – eine totale Umkehrung. Mit dieser Logik der Peripetie kann sein Judentum »zu Ende gedacht« und die Bemerkung über sein zionistisches Bekenntnis gelesen werden, der zufolge er »bedenkenlos jedem den Schekel verweigert[e], von dem [er] nicht überzeugt war, daß er das zionistische Programm wirklich ernsthaft erfaßt hatte.« Wird durch Negation der Verneinung dieser Satz umgekehrt, so offenbart er seine latente Bedeutung: Eigentlich habe Gronemann »bedenkenlos jedem den Schekel gewährt, von dem [er] überzeugt war, daß er das zionistische Programm wirklich humorvoll erfaßt hatte.«
Unter dem Deckmantel eines verborgenen Witzes also hatte Gronemann sein Judentum nur scheinbar für den Zionismus aufgegeben. Vielmehr versteckte er sein Allerheiligstes hinter den geschlossenen Reihen des »jüdischen Heers« und tradierte esoterisch den traditionellen Messianismus in die jüdische Nationalbewegung vermittels eines verborgenen Witzes. Ironisch schrieb er seine Überzeugung in den Zionismus derart ein, dass sein Judentum nicht zum Diener des Zionismus wurde, sondern genau umgekehrt. Dieser Dialektik – zwischen verborgenem Judentum und offenbarem Zionismus, zwischen manifestem Optimismus, suspendierter Realität und latenter Theatralität sowie zwischen humorvollem Rückhalt und witzigem Hinterhalt – will die vorliegende Studie vor allem in den dramatischen Texten Sammy Gronemanns nachspüren. Aus dem Blickwinkel einer Jerusalemer mehrsprachigen Germanistik und komparativen Kulturwissenschaft liest sie seine zionistische Ideologie als Witz, der die Aufgabe hatte, den Humor seiner jüdischen Weltanschauung in der Krise des modernen Judentums zu verteidigen und durch selbstkritische, literarische Inszenierung zu bewahren.