Semantische und diskurstraditionelle Komplexität
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Semantische und diskurstraditionelle Komplexität

Linguistische Interpretationen zur französischen Kurzprosa

  1. 610 Seiten
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Semantische und diskurstraditionelle Komplexität

Linguistische Interpretationen zur französischen Kurzprosa

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Im Kontext von Überlegungen zum Aufbau von Lese- und Textkompetenz stößt man immer wieder auf den Begriff der Textkomplexität, der vermeintlich intuitiv einsichtig ist und von der Linguistik bislang nur oberflächlich oder nebenbei abgehandelt wurde.

Ziel dieser Studie ist eine Präzisierung des Begriffes «Textkomplexität», die als Merkmal von Texten und als mehrdimensionale Größe verstanden wird, sowie ihre korpusgestützte Untersuchung. Ausgehend von zwei zentralen Prämissen, der Übersummativität von Texten und der engen Verflechtung von Textsemantik und Diskurstraditionen, wird unter Rückgriff auf die Frame-Semantik, die Coseriu'schen Konzepte sprachlicher Kompetenz und Evokation sowie die Grice'schen Maximen eine linguistisch fundierte Definition semantischer und diskurstraditioneller Komplexität sowie ein Modell zu ihrer Analyse entwickelt.

Die Anwendung des Modells auf ein Korpus französischer Kurzprosa erlaubt die Aufdeckung diskurstraditionell bedingter Komplexitätsmuster und des Zusammenhangs von Ambiguität und Komplexität. Die ermittelten Affinitäten und Muster implizieren wiederum, dass das Auflösen von Textkomplexitäten eine Kunst ist, die im Dienste des Aufbaus von Textkompetenz gelehrt und gelernt werden kann.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110653953

1Einleitung

Über den hohen Stellenwert des Lesens und die immense Bedeutung einer umfassenden Lese- und Textkompetenz für ein erfolgreiches privates, berufliches und gesellschaftliches Leben in unserer heutigen Wissens- und Mediengesellschaft besteht wohl nicht der geringste Zweifel. Hartung (2017) bezeichnet in seinem Artikel Lesen, nur lesen! ebendiese Tätigkeit als die «wichtigste Kulturtechnik», die wir Menschen haben, weil sie uns die Welt erschließe (cf. Hartung 2017, 1), und das deutsche PISA-Konsortiumdeklariert das Lesen zur «kulturelle[n] Schlüsselqualifikation», da es die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eröffne und die Möglichkeit zur zielorientierten und flexiblen Wissensaneignung biete (cf. Artelt et al. 2001, 70). Groeben (2004, 24) präzisiert und erweitert diese Sichtweisen durch die Angabe von mittelbaren Funktionen des Lesens u.a. auf personaler Ebene, zu denen er textsortenübergreifend die «Entwicklung von ästhetischer Sensibilität und sprachlicher Differenziertheit» sowie die «Reflexion über mögliche (vs. reale) Welten» zählt. Darüber hinaus stärke das Lesen fiktionaler Texte Empathie, Moralbewusstsein sowie die Anerkennung von Alterität,während das Lesen von Sachtexten der Wissensvertiefung, politischer Meinungsbildung und kognitiver Orientierung diene (cf. Groeben 2004, 24; Garbe 2009, 17s.).
Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Funktionen des Lesens erklärt sich der Schock, den das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im Bereich des Leseverstehens bei der PISA-Studie der OECD 2000 ausgelöst hat. Dieser sogenannte PISA-Schock führte zur Verordnung von Ergebnisbzw. Output-Orientierung im deutschen Bildungswesen und zur Einführung von bundesweit geltenden Bildungsstandards. Diese legen die von den Schülerinnen und Schülern zu erreichenden Kompetenzen verbindlich fest (cf. Schröder/Tesch/Nold 2017, 15; Garbe 2009, 36) und orientieren sich im Bereich der modernen Fremdsprachen in weiten Teilen am Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001), der unterschiedliche Facetten fremdsprachlichen Könnens auf sechs aufeinander aufbauenden Kompetenzniveaus (A1–C2) beschreibt (cf. Schröder/Tesch/Nold 2017, 15).
Die Bildungsstandards für die Fächer Französisch/Englisch und Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife beinhalten nun an mehreren Stellen den Verweis auf komplexe Texte, anhand derer die Schülerinnen und Schüler die in einer Wissensgesellschaft so zentrale Textkompetenz in umfassender Weise aufbauen sollen. Komplexität wird sogar als erstes von drei Textmerkmalen (neben Abstraktheit und Anspruchsniveau) genannt, an denen sich die Differenzierung der geforderten Kompetenzen zwischen grundlegendem (Grund- und Leistungskurs) und erhöhtem Niveau (Leistungskurs) orientiert (cf. KMK 2012b, 14). So sehen die Bildungsstandards für die Fächer Englisch und Französisch im Bereich des Leseverstehens auf erhöhtem Niveau vor, dass die Lernenden «die inhaltliche Struktur von komplexen Texten erkennen und dabei Gestaltungsmerkmale in ihrer Funktion und Wirkung analysieren» (ib., 16) können, und im Bereich der Text- und Medienkompetenz wird gefordert, dass die Lernenden «sprachlich und inhaltlich komplexe, literarische und nicht-literarische Texte verstehen und strukturiert zusammenfassen» (ib., 20) können. In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch finden sich Verweise auf komplexe Texte insbesondere im Bereich der Schreibkompetenz, wo verlangt wird, dass «[d]ie Schülerinnen und Schüler [. . .] Schreibstrategien für die Produktion komplexer informierender, erklärender und argumentierender sowie gestaltender Textformen selbstständig und aufgabenbezogen [nutzen]» (KMK 2012a, 17), und hinsichtlich der Lesekompetenz sollen sie «den komplexen Zusammenhang zwischen Teilaspekten und dem Textganzen erschließen» (ib., 18) können. Auch für das Fach Deutsch wird hinsichtlich der Differenzierung zwischen grundlegendem und erhöhtem Niveau auf die Komplexität der zu behandelnden Texte verwiesen:
«Je nach Voraussetzungsreichtum, sprachlicher Komplexität und Informationsdichte der Texte variiert der Grad an Kenntnissen, Selbstständigkeit und Reflexionsvermögen, den Schülerinnen und Schüler auf grundlegendem oder erhöhtem Anforderungsniveau benötigen» (ib., 15).
Was genau einen komplexen Text auszeichnet bzw. woran Komplexität in Bezug auf Texte festzumachen ist, präzisieren die Bildungsstandards jedoch nicht. Aus den zitierten Kompetenzbeschreibungen kann wohl gefolgert werden, dass Textkomplexität etwas mit Informationsdichte und Voraussetzungsreichtum sowie den Relationen zwischen dem Textganzen und seinen Teilen zu tun hat. Andere Standards etablieren Unterschiede zwischen expliziten und impliziten Aussagen von Texten, verweisen auf Gestaltungsmerkmale, die in ihrer Wirkung erfasst werden sollen (cf. KMK 2012b, 15), und unterstreichen die Rolle von Kontext-, Fach- und Weltwissen, das herangezogen werden muss, um «Verstehensbarrieren zu überwinden» oder «das Textverständnis zu vertiefen» (KMK 2012a, 18).
Dass die genannten Aspekte die Komplexität eines Textes beeinflussen, erscheint nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Leseerfahrung äußerst plausibel, dennoch bleiben sie zu vage und unsystematisch, um eine präzise Beschreibung von Textkomplexität zu ergeben.
Die Unklarheiten in diesem Bereich werden weiterhin deutlich, wenn man die seit einigen Jahren gängige Praxis der Verlage betrachtet, fremdsprachliche Lektüren mit der Angabe der Niveaustufe des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) für Sprachen zu versehen. Diese soll Lehrenden und Lernenden vermitteln, für welche erreichte Kompetenzstufe im Bereich des Lesens ein bestimmter Text geeignet ist. Wenn allerdings ein äußerst voraussetzungsvoller Text wie Voltaires Candide (1759) von den Redakteuren der entsprechenden Klett-Ausgabe (Voltaire 1993) auf Niveau B1+ verortet wird, dann kommen schnell Zweifel an dieser Einschätzung auf. Schließlich verlangt das adäquate Verständnis von Voltaires Text Gattungswissen zur conte philosophique und zur Utopie (cf. die Kapitel zu Eldorado), erfordert historisches Wissen zur absoluten Monarchie im Frankreich des 18. Jahrhunderts, philosophisches Wissen zu Leibniz, der bekanntermaßen in der Figur des Pangloss parodiert wird, und stellt weiterhin als hochironischer Text des 18. Jahrhunderts hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen heutiger Leser. Noch größer wird die Verwunderung, wenn man feststellt, dass die Redakteure von Reclams Roter Reihe den Jugendroman Il faut sauver Saïd von Brigitte Smadja (2008), der sich durch einzelsprachliche Einfachheit (der Erzähler ist ein 11-jähriger Junge!) und eine klare Botschaft auszeichnet, auf dem höheren Niveau B2 ansiedeln und diesen Text somit für komplexer oder schwerer verständlich halten als die Verantwortlichen des Klett-Verlages Candide bewerten. Es könnten problemlos weitere Beispiele genannt werden, die illustrieren, dass es offensichtlich schwierig ist, die Komplexität eines Textes und die Anforderungen, die er an die Lesekompetenz stellt, richtig einzuschätzen. Hinzu kommt, dass eine einzelne Kenngröße wie B1 oder C1 natürlich auch kein differenziertes Bild von den Bereichen abgeben kann, in denen sich ein Text als besonders komplex erweist.
Ziel dieser Arbeit ist es, größere Klarheit zu schaffen hinsichtlich des Begriffs der Textkomplexität, die hier als Merkmal von Texten und als mehrdimensionale Größe verstanden wird. Dazu soll zunächst eine linguistisch fundierte Definition von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität formuliert werden und ein Modell für die Textanalyse entwickelt werden, das plausible und verlässliche Einschätzungen der Komplexität eines Textes und der Bereiche, in denen sie sich manifestiert, ermöglicht. Dabei bewegen sich theoretisch-deduktives Vorgehen und Empirie in einem hermeneutischen Zirkel und werden Komplexitätsfaktoren und -kategorien, die aus linguistischen Theorien ableitbar sind, immer auch am Korpus auf ihre Relevanz und Praktikabilität hin untersucht und für auffallend komplexe Textphänomene werden theoretische Begründungen ermittelt. Im Folgenden wird das so entstandene Modell genutzt, um die Komplexität von Texten aus dem Bereich der französischen Kurzprosa zu analysieren und um weiterführende Erkenntnisse über Komplexitätsausprägungen in literarischen Texten zu erlangen. Wie die Verfasser der Bildungsstandards es bereits tun, ist davon auszugehen, dass die Komplexität eines Textes, die bei der Materialität der Texte ansetzt, mit der Verständlichkeit eines Textes, die vornehmlich den Verstehensprozess des Rezipienten in den Blick nimmt (cf. Bußmann 2008, 779), korreliert und somit ein hochkomplexer Text auch sehr hohe Anforderungen an die Lese- bzw. Textkompetenz seiner Rezipienten stellt. Folglich können tiefere Erkenntnisse zur Komplexität von Texten auch eine wichtige Grundlage für weitere Forschungen im Bereich der Lese- und Textkompetenz darstellen. Nicht zuletzt vermögen verlässliche Angaben zur Komplexität eines Textes in der Praxis die adäquate Auswahl von Texten für bestimmte Rezipientengruppen zu erleichtern.
Vorarbeiten in diesem Bereich gibt es auf Seiten der pädagogischen, psychologischen bzw. psycholinguistischen Forschung, die allerdings mit anderer Schwerpunktsetzung und anderer Methodik erfolgen. Die ältere Lesbarkeitsforschung hat sich auf die Wort- und Satzschwierigkeit konzentriert, die mit quantifizierbaren Textmerkmalen wie Wortlänge in Silben, Satzlänge in Wörtern oder Worthäufigkeit «gemessen» werden sollte (cf. Bußmann 2008, 779). Das Resultat waren unterschiedliche Lesbarkeitsindizes wie beispielsweise der Flesch-Reading-Ease.1 Diese Lesbarkeitsformeln berücksichtigen allerdings lediglich oberflächliche Textmerkmale und ignorieren Inhalt und Textsinn völlig, was dazu führen kann, dass auf ihrer Grundlage auch völlig inkohärente Texte als leicht lesbar eingestuft werden. Neuere kognitions- oder psycholinguistisch ausgerichtete Untersuchungen im Bereich der Textverständlichkeitsforschung wie beispielsweise das empirisch-induktiv begründete «Hamburger Modell» von Langer et al. (1974/2006) oder das sprachpsychologisch und lerntheoretisch fundierte Konzept von Groeben (1972/1978) nehmen auch inhaltliche und motivationale Merkmale von Texten in den Blick (cf. Bußmann 2008, 779) und verfolgen das Ziel, «auf möglichst breiter Ebene verständlichkeitsfördernde Textmerkmale zu identifizieren» (Christmann/Groeben 1999/2006, 180). Die beiden genannten Verständlichkeitsansätze gelangten auf unterschiedlichem Weg – Langer et al. (1974/2006) beispielsweise auf der Grundlage von Expertenurteilen zu unterschiedlich schwierigen Texten – zu sehr ähnlichen Ergebnissen, so dass man nach Einschätzung von Christmann/Groeben (1999/2006) heute davon ausgehen kann, dass es sich bei den Merkmalen «Sprachliche Einfachheit», «Kognitive Gliederung/Ordnung», «Kürze/Prägnanz» und «Motivationale Stimulanz» um die bedeutsamsten Dimensionen der Textverständlichkeit handelt (cf. ib., 182). Fehlen diese Merkmale, zeichnet ein Text sich also im Gegenteil durch sprachliche Kompliziertheit, mangelnde Gliederung, Weitschweifigkeit und völlige Nüchternheit aus, so würde er gemäß Langer et al. (1974/2006) und Groeben (1972/1978) als schwer verständlich gelten.
In der Textlinguistik, Textsemantik, Hermeneutik, Stilforschung und Übersetzungstheorie werden Texte per se als komplexe bzw. übersummative Größen betrachtet, weil «die Bedeutung des komplexen Zeichens [Text] mehr umfasst als die Summe der Bedeutungen der Einzelzeichen» (Gansel/Jürgens 2009, 19). Dem Text wird ein «kommunikative[r] Mehrwert» gegenüber der konventionellen Bedeutung der ihn konstituierenden Sprachzeichen beigemessen, was bedeutet, dass ein großer Teil des Textsinns im Impliziten liegt (cf. Linke/Nussbaumer 2000a, 435s.). Folglich stellt sich die Textrezeption als aktiver Prozess der Bedeutungskonstruktion dar (cf. Christmann/Groeben 1996, 1536), im Zuge dessen der Leser neben der Systembedeutung der verwendeten Zeichen die sinnbildenden Kontexte (Situation, Redekontext, Wissen) berücksichtigen muss (cf. Coseriu 1980/2007, 143), Beziehungen zwischen allen potentiell bedeutungstragenden Elementen eines Textes (lexikalische Elemente, grammatische Formen, lautliche Phänomene etc.) herstellen (cf. Gardt 2008a, 1202) und verschiedene Arten von Hintergrundwissen aktivieren muss.
Diese Charakterisierung des Textsinns und seiner Konstruktion durch den Rezipienten erklärt zwar, warum Texte als komplexe oder übersummative Größen aufgefasst werden, vermag aber noch keine Komplexitätsunterschiede zwischen verschiedenen Texten aufzudecken. Tatsächlich gibt es im Umfeld der Textlinguistik bislang kein umfassendes Modell zur Untersuchung der Ausprägung von Textkomplexität. Konsultiert man einschlägige Wörterbücher der Sprachwissenschaft (z.B. Bußmann 2008; Glück 2010), so findet man unter dem Eintrag Komplexität in der Regel die aus der Informatik stammende Definition derselben, so z.B. in Bußmann (2008):
«Komplexität [. . .] In der Datenverarbeitung und Informatik Maß für den Rechenaufwand bei der Analyse von Algorithmen in Relation zu Zeit und Speicherplatz. Ziel ist es, zu einem Problem den Algorithmus mit dem geringsten Rechenaufwand zu ermitteln» (Bußmann 2008, 351).
Es erscheint zwar durchaus plausibel, diese Definition so auf Texte zu übertragen, dass deren Komplexität mit dem Zeit- und Kompetenzaufwand, der für ihre Bedeutungskonstruktion erforderlich ist, korreliert, doch liefert dies immer noch keinen Aufschluss über die Textmerkmale, die den Zeit- und Kompetenzaufwand in die Höhe treiben. Roelcke (2002, 67) wird im Rahmen seines Modells kommunikativer Effizienz etwas konkreter, wenn er Textkomplexität folgendermaßen definiert:
«[Die Textkomplexität eines Kommunikats ist] durch das Verhältnis der textuellen Intension mit Proposition und Illokution als Kommunikationsergebnis einerseits und der textuellen Extension mit einzelnen Wörtern und deren Kombination zu komplexen sprachlichen Zeichen wie Sätzen oder größeren Textteilen andererseits darzustellen, wobei eine relativ hohe textuelle Intension eine hohe Textkomplexität und eine relativ hohe textuelle Extension eine niedrige Textkomplexität mit sich bringen».
Aus dieser Definition kann man die ebenfalls sehr erwartbare Erkenntnis ziehen, dass das Maß an Informationsdichte bzw. das Maß an Implizitheit die Komplexität eines Textes bestimmt, was aber immernoch äußerst vage bleibt und allenfalls eine weitere Idee für den Aufbau eines umfassenden Modells für die Analyse von Textkomplexität liefert, was Ziel dieser Arbeit ist.
Dazu werden semantische, pragmatische und textlinguistische Theorien, die die Sichtweise von Texten als übersummative Größen, die aktive Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten sowie die sinnkonstituierende Funktion der Kontexte ins Zentrum ihrer Modellierungen stellen, in Hinblick auf potentiell komplexitätssteigernde Faktoren ausgewertet. Zu diesen Theorien gehören das Modell der Sprachkompetenz nach Coseriu (1988/2007), das präzisiert, welche Wissensbestände in die Produktion und Rezeption von Texten eingehen, Coserius (1980/2007) Theorie der Umfelder, die von Aschenberg (1999) für Textanalysen handhabbarer gemacht wird, und vor allem die Frame-Semantik, die mit dem leistungsfähigen Instrument des Frames Bedeutungs- und Komplexitätsanalysen erleichert, indem sie präzisiert, wie Wissen gespeichert und in den Verstehensprozess eingebracht wird. Insbesondere für die Differenzierung der Komplexitätsgrade des Impliziten erweist sich die Theorie der Grice’schen Maximen und der verschiedenen Typen von Implikaturen (cf. Grice 1989) als unverzichtbar; äußerst erhellend sind weiterhin die Überlegungen von Linke/Nussbaumer (2000a) zu den unterschiedlichen Qualitäten des Impliziten. Die Auswertung der genannten Theorien und Modelle erlaubt zum einen die Identifikation von Faktoren, die die Komplexität eines Textes beeinflussen, zum anderen die Etablierung von Kategorien, bezüglich derer die Komplexität eines gegebenen Textes variieren kann.
Zahlreiche dieser Kategorien wie z.B. «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» oder «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten» sind mit Sicherheit für Texte aller Gattungen und Textsorten anzusetzen, andere müssen auf Sachtexte oder literarische Texte und innerhalb dieses Diskursuniversums wohl auch auf epische, dramatische oder lyrische Texte angepasst werden. Da dem empirischen Teil dieser Arbeit ein Korpus aus 15 Texten zugrunde liegt, die allesamt dem Bereich der Kurzprosa angehören, wird die Entwicklung einiger weniger Komplexitätskategorien den Charakteristika dieser Texte angepasst.
Neben der Prämisse, dass Texte per se komplexe Größen sind, liegt dem in dieser Arbeit aufzubauenden Komplexitätsmodell die These zugrunde, dass die semantische Komplexität eines Textes in weiten Teilen von den Diskurstraditionen determiniert wird, die den jeweiligen Text prägen, und semantische Komplexität somit nicht losgelöst von diskurstraditioneller Komplexität untersucht werden kann. Da Diskurstraditionen «die Selegierung sprachlicher Elemente und deren Arrangement zu einer Textgestalt anleiten» (Schrott 2015, 83) und «den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben» (Brinker 1985/2010, 125), ist ihr Einfluss auf die Sinnbildung in Texten von allergrößter Bedeutung. Somit können Diskurstraditionen aber auch Ursprung von semantischer Einfachheit oder Komplexität sein und folglich müssen sich diskurstraditionelle Komplexitätskategorien in einem Modell für die Analyse von Textkomplexität an prominenter Stelle wiederfinden.
In Kapitel 2 dieser Arbeit wird also der soeben kurz umrissene Weg zur Entwicklung einer Definition semantischer und diskurstraditioneller Komplexität sowie eines Modells für die Analyse dieser Art von Komplexität beschritten. Am Ende dieses Weges steht ein Modell, das ein Analyseraster aus 14 Komplexitätskategorien enthält und das Wirken von drei zentralen sowie weiteren notwendigen Komplexitätsfaktoren aufzeigt. Der Rückgriff auf diese Komplexitätsfaktoren soll qualitative Einschätzungen der Ausprägung von Komplexität in Bezug auf jede der 14 Komplexitätskategorien ermöglichen und zu einem differenzierten Bild der Gesamtkomplexität eines gegebenen (narrativen) Textes beitragen.
In Kapitel 3 wird dieses Komplexitätsmodell auf ein Korpus bestehend aus 15 Texten aus dem Bereich der Kurzprosa, die zwischen 1866 und 2001 erschienen sind, angewandt, wobei drei Erkenntnisinteressen die Analysen leiten. Zunächst wird die auf einer linguistischen Bedeutungsanalyse basierende Arbeit mit dem Komplexitätsmodell demonstriert und die Effektivität des Modells in Hinblick auf die Generierung plausibler Komplexitätsprofile narrativer Texte belegt. Des Weiteren wird die in Kapitel 2 theoretisch begründete Verflechtung von Diskurstraditionen und semantischer Komplexität auch empirisch bestätigt, indem u.a. Komplexitätsmuster solcher Texte ermittelt werden, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs
  8. 3 Textsemantische und diskurstraditionelle Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte
  9. 4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen und annotierten Novellen
  10. 5 Schlussbetrachtungen und Ausblick
  11. Bibliographie
  12. Register