Bildung als Ideal und Beredsamkeit als Praxis. Systemkollisionen um 1800
Die Vielfalt der Umschreibungen für das Schicksal der klassischen Rhetorik in der deutschen Spätaufklärung vermag durchaus zu faszinieren − vor allem aber bietet sich hier ein aussagekräftiger Indikator für die möglicherweise auch gewollte Unbestimmbarkeit dessen, was ars oratoria zwischen 1786 und 1848 bedeuten könnte. Eine entsprechende Analyse ihrer Theorie, Funktion und Wertung zwischen dem Ableben des frankophilen Absolutisten in Potsdam und den ersten parlamentarischen Debatten in der Paulskirche zu Frankfurt steht noch weitgehend aus. Tendenziös aber scheint sich eine Semantik des Niedergangs zu verdichten: schon ein Zeitgenosse verkündete ja 1812 ganz explizit den „Verfall“ der Beredsamkeit1 − was nuancenreich bis in die Terminologie der modernen Forschung nachklingt, wo etwa von einer fortschreitenden „Erosion“2 oder einem völligen „Aufweichen“3 die Rede ist. Gerne konstatiert man auch ganz rigoros das unwiderrufliche Ende der Rhetorik:4 Die Vorstellung eines langen Siechtums des großen antiken Erbes mit der Aussicht auf eine greifbare finale Phase übte offenbar einen starken Reiz aus, bot sich damit doch wiederholt die Gelegenheit, auf die moralische Überlegenheit des Nordens zu verweisen, der eben für die Wahrheit anstelle der Lüge eintrete bzw. für die gesunde Natürlichkeit anstelle dekadenter Künstlichkeit. Die entsprechende Betrachtung gefiel sich darin, vorwiegend auf die noble pädagogische Sorge zu verweisen, die der deutsche Biedermann um den Adressaten walten lasse, ohne sich dabei der (welschen) fintenreichen ‚Überwältigung‘ eines wehrlosen Hörers schuldig zu machen. In diesem Zusammenhang lag es nahe, das vielstrapazierte Diktum Kants aus der Kritik der Urteilskraft unter besonderer Betonung des moralischen Impetus aufzubieten und den humanistischen Topos vom ‚guten Deutschen‘ zu erneuern, der eben ganz von germanischer Einfachheit sei und die „hinterlistig[e]“ Kunst selbstverständlich verabscheue, „sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen“.5 Die aus solcher Warte fraglos gebotene Ersetzung einer korrupten Beredsamkeit durch die edle, in ihrer Autonomie über alle materiellen Zwecke erhabene Dichtkunst schrieb sich insbesondere die deutschnational orientierte Philologie auf die Fahnen, die dann auch nicht müde wurde, das deutsche Originalgenie als idealistische Bezugs- und Exportgröße ins Feld zu führen. Differenziertere Beobachter bevorzugten dagegen das Modell einer rhetorica latens,6 sprachen also vielmehr von einer dauerhaften Präsenz der (neutralen) Rhetorik, die aber gleichwohl unterschiedlichen historischen Transformationen unterworfen sein könne. So schlägt Dietmar Till zur Klärung des Problems sinnreich vor, eine diachrone Studie des jeweiligen Spannungsverhältnisses zwischen einer „strukturalistisch“ und einer „anthropologisch“ aufgefassten Rhetorik anzulegen.7 Tatsächlich erscheint eine solche graduelle und sorgsam an den vielfältigen Quellen orientierte Untersuchung hilfreicher als der pauschalierende Rückzug in eine begrifflich eher verwirrende Diagnostik, die um 1800 eine „rhetorica contra rhetoricam“,8 eine „ingeniöse Anti-Rhetorik“9 oder gar eine „Entrhetorisierung der Rhetorik“10 zu erkennen glaubt.
1 Wahrheit, Rhetorik und Dichtkunst
Ein grundsätzliches Problem liegt ganz offensichtlich in der theoretischen Reduktion von Rhetorik auf die Frage einer parteigebundenen Darstellung von Wirklichkeit als einer lediglich scheinbaren Wahrheit. Die konkrete Anwendung des rhetorischen Systems im Sinne der sprachlichen Kommunikation in unterschiedlichen sozialen Anwendungsbereichen verliert dagegen an Seriosität. In der Nachfolge Kants dominiert der Imperativ einer überzeitlichen oder allgemeinmenschlichen Wahrheit − etwa im Sinne der allesumfassenden Vernunft −, an der dann natürlich die Parlaments-, die Kanzel- oder Kathederrede nur unzureichend und grundsätzlich irreführend partizipieren können. In dieser Weise geht aber auch jede situativ bedingte Ingebrauchnahme der Beredsamkeit bzw. die entsprechend sprachlich gebundene Postulierung von Wahrheiten in der Politik, in der Religion oder auch in der Wissenschaft als indikatorische Größe für die Historiographie verloren. Alle wichtigen und traditionell eng mit der Rhetorik verzahnten Referenzbereiche obliegen damit der Entwertung. Auch dies beklagte bereits Adam Müller,11 der den „Verfall“ der Beredsamkeit in Deutschland mit der hier ja seit jeher kaum vorhandenen Mündlichkeit konnotierte, ganz konkret im Blick auf die politische Rede. In umgekehrter Wertung sah Immanuel Kant aber die „höchste Stufe“ der desavouierten Rhetorik immer dann erreicht, wenn der „Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war“,12 womit also gerade die Abwesenheit von Rhetorik als Voraussetzung für ein intaktes Staatswesen zu erachten sei. Politik als Mündlichkeit wird bereits hier, am Ursprung des Weges zur selbstverdienten Mündigkeit, folgenreich entwertet. Dies gilt nicht nur für Politik und Rhetorik − in ganz entsprechender Weise versuchten die verschiedenen Säkularisierungsdiskurse auch die Wirkungseinheit von Rhetorik und Theologie für erledigt zu erklären. Hier aber konnte jüngst Ernst Müller mit seiner eindrucksvollen Studie zu Hamann, Schleiermacher und Kierkegaard nachweisen, wie essentiell gerade zwischen 1759 und 1859 die Symbiose aus geistlichen und oratorischen Anteilen erschienen sein muss, so dass es just für diesen Zeitraum eine ganz besondere „Intensität“, ja „ein fruchtbares Nachleben“ der von der Aufklärung verworfenen Rhetorik „innerhalb der Theologie“ zu konstatieren gelte.13
Immanuel Kant zeichnet nicht nur für die Verdrängung der Rhetorik aus den genannten gesellschaftlichen Praxisbereichen, sondern wohl auch für eine weitere folgenreiche Maßnahme verantwortlich: Zur Klärung seiner Position stellt er in der Kritik der Urteilskraft die Beredsamkeit in eine Opposition mit der Dichtkunst,14 was konsequent auf die ethisch begründete Ersetzung der Ersteren durch Letztere hinausläuft. Während die Rhetorik im Sinne von Rednerkunst nur einen vorgeblichen Nutzen verspreche, ohne diesen dann auch tatsächlich zu gewähren, verspreche die Dichtkunst ihrerseits zunächst nichts, eröffne dem Adressaten dann aber sehr wohl ganz besonders weite Möglichkeiten einer freien Erkenntnis. Die Dichtung stelle die dafür notwendige Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstand unabsichtlich her und folge dabei keinen fremden Direktiven: Sie ist autonom, während die Rhetorik äußerst engen und zumeist rein materiellen Zwecken („Lohngeschäft“) unterworfen sei und einzig auf ein kalkuliertes Ziel hinarbeite − nämlich dem schutzlosen Adressaten den Willen bzw. die subjektive ‚Wahrheit‘ des Produzenten aufzuzwingen. Dichtung hingegen gewähre Freiheit, weil sie die „Einbildungskraft in Freiheit versetzt“.15
Die solcherart etablierte ethische Hierarchie der beiden Sprachleistungen erscheint noch nicht genug, gefordert wird vielmehr ein tatkräftiger Substitutionsvorgang. Mit der von Kant und seinen Fürsprechern angestrebten Tilgung der verdammungswürdigen Rhetorik zugunsten einer entsprechend verklärten Dichtkunst ist dann jedoch − neben der Politik und der Theologie − ein dritter lebenspraktischer Traditionsbereich der Redekunst berührt: die Erziehung. Auf diesem Feld gilt es nach Kant eine vorgeblich scholastische Gelehrsamkeit, ihre zwingende mechanische Didaktik und die damit verbundene autoritäre Pädagogik zugunsten des höherwertigen Prinzips der Bildung zu überwinden.16 An diesem Konzeptbegriff partizipiert die Dichtkunst unmittelbar in Form eines zeitgenössischen Erfolgsmodells, des Bildungsromans,17 vor allem aber basiert darauf die gesamte akademische Neuorientierung in dem bislang mächtigsten deutschsprachigen Staatswesen. Das außenpolitisch stark geschwächte Preußen tritt mit seiner Hauptstadt Berlin in diesem Sinne in eine diskursive Konkurrenz zu Weimar, um nun ein von Staats wegen einzurichtendes Bildungsinstrument auf den Plan zu rufen, das Kants Forderungen umzusetzen verspricht: eine von autoritärer, also monologischer Lehre befreite Universität als ‚Bildungsuniversität‘. Wilhelm von Humboldt setzt „Bildung“ mit „Wissenschaft“ gleich und fordert von der neuen Institution, sich allein von der „reinen Idee der Wissenschaft“ leiten zu lassen. Dies habe in einem „ungezwungene[n] und absichtslose[n] Zusammenwirken“ aller Beteiligten im S...