1Einleitung
1.1Problemstellung und Motivation
Die Tendenz, dass immer mehr Kinder in der heutigen Gesellschaft in Kontakt mit mehreren Sprachen aufwachsen, wird weltweit beobachtet. Die Gründe dafür sind sowohl die Globalisierung als auch die Migration. In Deutschland liegt der Anteil der fünf- bis zehnjährigen Kinder mit Migrationshintergrund1 aktuell bei 40,0 % (Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2018, vgl. Statistisches Bundesamt 2019: 36). Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Thema der Sprachentwicklung bei mehrsprachigen Kindern nicht nur zum Gegenstand der Forschung, sondern auch immer öfter einer breiten gesellschaftlichen und politischen Diskussion wird.
Einerseits lassen sich Forschungsergebnisse finden, die zeigen, dass die Mehrsprachigkeit grundsätzlich keine Belastung darstellt, sofern die zu erwerbenden Sprachen im Alltag des Kindes genutzt und gefördert werden. Eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen konnte vielmehr gute Evidenz für einen positiven Einfluss des frühen Kontakts mit zwei Sprachen auf die kognitiven Fähigkeiten wie Informationsverarbeitung2, Konzentration und Aufmerksamkeit zeigen (vgl. Marian & Shook 2012; Kroll & Bialystok 2013). Andererseits wird aber auch häufig davon berichtet, dass mehrsprachige Vor- und Grundschulkinder größere Sprachauffälligkeiten in ihrer Entwicklung zeigen (vgl. Hessisches Sozialministerium 2012; Lindemann 2014; Dux & Sievert 2015).
Aber was bedeutet in diesem Zusammenhang sprachauffällig? Nach Holler-Zittlau et al. (2004: 25) ist eine Sprachentwicklung auffällig, wenn die sprachlichen Kompetenzen eines Kindes nicht altersentsprechend sind und bei seinem Spracherwerb deutliche Probleme beobachtet werden. Dabei gelten bei Holler-Zittlau et al. (2004: 26) für die Überprüfung der sprachlichen Kompetenzen der mehrsprachigen Kinder im Deutschen die gleichen Beurteilungskriterien wie für deutsche monolinguale Kinder. Wie Grosjean (1989) jedoch zu Recht anmerkte, ist ein Bilingualer3 nicht als zwei Monolinguale in einer Person zu verstehen. Im Unterschied zu monolingualen Kindern ist die Gesamtmenge des sprachlichen Inputs bei den mehrsprachig aufwachsenden Kindern auf zwei (oder mehr) zu erwerbende Sprachen verteilt. Diese Verteilung variiert je nach dem Erwerbstyp, der Kontaktdauer, der Kontaktintensität und dem sozialen und familiären Umfeld. Ist das Sprachangebot in einer oder mehreren Sprachen qualitativ und quantitativ nicht ausreichend, kann für die Kinder der Erwerb mancher Sprachstrukturen und -formen eine Herausforderung darstellen, insbesondere, wenn sie im sprachlichen Input insgesamt selten vorkommen, irregulär und/oder synkretisch sind.
Zeigen Kinder, unabhängig davon, ob sie ein- oder mehrsprachig aufwachsen, sehr geringe Sprachkenntnisse oder deutliche Probleme, so müssten die Ursachen dafür näher untersucht werden, denn ein verzögerter Erwerb kann auf eine spezifische Sprachentwicklungsstörung (im Folgenden als SSES abgekürzt) zurückgeführt werden. Von einer SSES wird ausgegangen, wenn ein Kind Probleme in der Rezeption und Produktion sprachlicher Strukturen hat und dieses sprachliche Verhalten weder durch eine sensorische noch eine neurologische, sozial-emotionale Störung oder einen nonverbalen IQ unterhalb der Norm erklärt werden kann (vgl. Grimm 2003; Leonard 2009). Die Schwierigkeiten können in verschiedenen sprachlichen Bereichen wie in der Morphologie, der Syntax, der Phonologie, der Semantik oder der Pragmatik auftreten, die jedoch nicht alle im gleichen Maße betroffen sein müssen. Der Verdacht auf eine SSES kann bei mehrsprachigen Kindern fälschlicherweise häufiger ausgesprochen werden als bei monolingualen Kindern, weil die Formen und Strukturen von mehrsprachigen typisch entwickelten Kindern den monolingualen Kindern mit SSES ähnlich sind (vgl. Håkansson et al. 2003; Paradis et al. 2003; Paradis 2005; Motsch 2013a). Bestimmte Fehler werden jedoch bei den Kindern mit einer SSES in der Regel häufiger sowie über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet (vgl. Schulz et al. 2017). Grundlegend gilt hier, dass mehrsprachige Kinder von einer SSES nicht häufiger betroffen sind als monolinguale Kinder, und dass die Mehrsprachigkeit keine Erwerbserschwernis bei einer SSES darstellt (vgl. Paradis et al. 2003; Rothweiler 2013).
Wie lange die Sprachauffälligkeiten bei mehrsprachigen Kindern toleriert werden können, ohne sie als Defizit zu interpretieren, lässt sich nicht einfach beantworten. Zur Entwicklung der einzelnen Sprachbereiche liegt bisher keine ausreichende Anzahl von Studien vor, die methodisch miteinander vergleichbar sind und verschiedene Sprachkombinationen mit verschiedenen Spracherwerbstypen abdecken. Mit der vorliegenden Arbeit wird ein Beitrag dazu geleistet, die kindliche Sprachentwicklung von mehrsprachigen Kindern und die damit verbundenen Schwierigkeiten besser zu verstehen.
1.2Zielsetzung
Sowohl im Russischen als auch im Deutschen ist die Markierung von Kasus durch Synkretismus geprägt. Ist die Kasusmarkierung in der jeweiligen Sprache bei Mehrsprachigkeit noch nicht erworben, ausreichend gefördert oder geübt, kann dies dazu führen, dass abweichende und anhaltende Fehlermuster häufiger beobachtet werden. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Untersuchung der Kasusmarkierung im Russischen und im Deutschen bei mehrsprachigen Vorschulkindern, die zum Untersuchungsbeginn vier Jahre alt waren und Russisch von Geburt an als Erstsprache und Deutsch als zweite Sprache simultan (N = 20) oder sukzessiv bilingual (N = 24) erwarben (vgl. Abbildung 1). Der Erwerbsbeginn des Deutschen liegt bei den simultan bilingualen Kindern durchschnittlich bei zwölf und bei den sukzessiv bilingualen Kindern bei 35 Monaten. Die Kasusmarkierungen werden in Nominal- und Präpositionalphrasen in elizitierten Daten aus einer Längsschnittstudie mit zwei Testzeitpunkten im Abstand von zwölf Monaten untersucht. Leitend sind fünf Forschungsfragen (siehe Kapitel 6).
Bei der vorliegenden Arbeit geht es nicht darum, die Phasen des Kasuserwerbs in beiden Sprachen zu beschreiben oder die sprachliche Entwicklung von mehrsprachigen Kindern im Vergleich zu der von einsprachigen Kindern zu untersuchen, sondern den Entwicklungsstand bei der Verwendung der Kasusmarkierungen bei zwei bilingualen Erwerbstypen zu erfassen und die Strategien für die morphologische Realisierung der Kasusmarkierungen in beiden Sprachen aufzuzeichnen. Weiterhin sollen die potenziellen Einflussfaktoren auf die Realisierung der Kasusmarkierungen in den Phrasenstrukturen für die beiden untersuchten Sprachen ermittelt und näher untersucht werden. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob die gleichaltrigen simultan und sukzessiv bilingualen Kinder in Bezug auf die Verwendung der Kasusmarkierungen einander eher ähneln oder ob es zwischen ihnen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten gibt. Um eine maximale Vergleichbarkeit der Leistung bei beiden Erwerbsgruppen zu gewährleisten, wurden die Kinder mit einer auffälligen Sprachentwicklung (N = 7) in einer oder in beiden Sprachen getrennt von den Kindern mit unauffälliger Sprachentwicklung analysiert.
Die Untersuchung der Kasusmarkierungen im mehrsprachigen Erwerbskontext ist auch deshalb von besonderem Interesse, da dieser Bereich wenig erforscht ist. Zum Russischen gibt es bisher eine Studie von Schwartz & Minkov (2014), die die Markierungen der fünf obliquen Kasus bei simultan bilingualen (N = 3) im Vergleich zu sukzessiv bilingualen Vorschulkindern (N = 6) mit der Sprachkombination Russisch-Hebräisch auswertete. Zum Deutschen gibt es einige Studien, die Kasusmarkierungen bei simultan bilingualen oder sukzessiv bilingualen Kindern im Vergleich zum monolingualen Erwerb untersuchen. Bislang liegen allerdings keine Studien vor, die die Verwendung der Markierungen einzelner Kasus im Russischen und im Deutschen bei simultan bilingualen im Vergleich zu sukzessiv bilingualen Kindern betrachten. Die Untersuchung dieser Sprachkombination zeichnet sich dadurch aus, dass sich die beiden Sprachen in der Typologie der Kasusmarkierungen voneinander unterscheiden. Das hat zur Folge, dass ihr Erwerb unterschiedlich verläuft. Es gilt daher, die typologischen Effekte bei der Verwendung der Kasusmarkierungen in beiden Sprachen und gegebenenfalls gegenseitige Einflüsse zu erfassen.
1.3Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile: Kapitel 2 bis 6 sind dem Forschungsstand und der Theorie, Kapitel 7 und 8 der empirischen Studie und Kapitel 9 und 10 der Diskussion der Ergebnisse gewidmet.
Der theoretische Teil (Teil I) beginnt in Kapitel 2 mit der Darstellung der Grundlagen des bilingualen Spracherwerbs, indem der Begriff Bilingualismus, die Typen und die Einflussfaktoren des bilingualen Spracherwerbs herausgearbeitet werden. Anschließend richtet sich das Augenmerk auf die Phänomene Sprachdominanz und Spracherosion. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwieweit bei einer bilingualen Person eine Sprache die andere beeinflusst und welche Auswirkungen dieser Einfluss hat. Kapitel 3 liefert den theoretischen Hintergrund für eines der Untersuchungsobjekte der vorliegenden Arbeit und befasst sich mit der theoretischen Grundlage der auffälligen Sprachentwicklung, einem Spezialfall der spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Nach einem Überblick über die theoretischen Erklärungsversuche dieses spezifischen Defizits werden seine klinischen Marker im Russischen und im Deutschen erläutert und die Kriterien seiner Abgrenzung von Auffälligkeiten des bilingualen Spracherwerbs vorgestellt. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Darstellung des Begriffs Kasus und seinen Funktionen. Darüber hinaus gibt es einen kurzen Überblick über die Markierung des Kasus im Russischen und im Deutschen. In Kapitel 5 werden dann die Theorieansätze zum Kasuserwerb vorgestellt sowie sprachübergreifende Einflussfaktoren und der Verlauf des Kasuserwerbs im Russischen und im Deutschen beim monolingualen und bilingualen Erwerbskontext mit und ohne spezifische Sprachentwicklungsstörung erläutert. Vor diesem theoretischen Hintergrund werden in Kapitel 6 die Forschungsfragen definiert. Damit schließt der theoretische Teil der Arbeit ab.
Der empirische Teil (Teil II) beginnt mit Kapitel 7 und erläutert die Methodik der empirischen Untersuchung. Hier werden die Kriterien für die Gruppenbildung und die Gruppen beschrieben, verglichen und einander gegenübergestellt. Anschließend wird das Design der Studie für das Russische und das Deutsche, ihre Durchführung sowie die erhobenen Daten und ihre Aufbereitung vorgestellt. In Kapitel 8 werden die Ergebnisse der Untersuchung im Rahmen von zwei Datenanalysen in Bezug auf die Forschungsfragen mit jeweils fünf Teilanalysen gezeigt. Im Rahmen der ersten Datenanalyse werden die Kasusmarkierungen bei den simultan bilingualen und sukzessiv bilingualen Kindern mit unauffälliger Sprachentwicklung untersucht. Im Rahmen der zweiten Datenanalyse werden die sukzessiv bilingualen Kinder mit auffälliger Sprachentwicklung untersucht.
Der abschließende Teil (Teil III) umfasst zwei Kapitel: Kapitel 9 enthält die Gesamtzusammenfassung und gibt einen Ausblick auf weiterführende Forschungsfragen, die sich aus den Befunden der Untersuchung der Kasusmarkierungen im Russischen und im Deutschen bei den simultan bilingualen und sukzessiv bilingualen Kindern mit und ohne auffällige Sprachentwicklung ergeben. Die Arbeit endet mit einer Schlussbetrachtung in Kapitel 10, in dem die wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und die Haupterkenntnisse formuliert werden.
Die in Kapitel 7 beschriebenen Testmaterialien und die der Ergebnisdarstellung zugrunde liegenden Berechnungstabellen zu den Kapiteln 7–9 (siehe elektronische Anhänge C–E) sind auf der Website des Verlags zugänglich: https://www.degruyter.com/view/product/543073.