1 Einleitung
Die Literatur Goethes fungiert im klassischen Pragmatismus nicht nur als eine Quelle für literarische Zitate im philosophischen Diskurs, sondern sie bildet auch einen eigenen Gegenstand pragmatistischer Forschung, die sich in Vorträgen, Publikationen und unpublizierten Manuskripten zur Literatur Goethes manifestiert.1 Das Faust’sche Diktum vom Primat der Tat kann gleichsam als implizite Parole des Pragmatismus gelten.2 Der deutsch-britische Philosoph und Mitbegründer des Pragmatismus F. C. S. Schiller charakterisiert Goethe als »a good deal of a pragmatist«3; die von Goethe formulierte Konzeption von Wahrheit erscheint Schiller gar als »technically ultra-pragmatic«4. Für Charles S. Peirce zählt Goethe zu den »major figures in the history of Western philosophy«5. John Dewey reiht ihn unter »our great ›philosophic poets‹«6. William James beschreibt die Lektüre Goethes als »one of the important experiences of my […] mind.«7
Trotz dieser offensichtlichen Bedeutung Goethes für den Pragmatismus liegt bislang keine Studie vor, die den Beziehungen zwischen dem Werk Goethes und dem klassischen Pragmatismus genauer nachgeht.8 Diesem Forschungsdesiderat widmet sich die vorliegende Arbeit durch eine diachrone und synchrone Untersuchung der Beziehungen zwischen Werken Goethes und William James’.9
Bereits die Geschichte des Begriffs ›pragmatisch‹ verweist als möglichen kulturellen Bezugsrahmen für den angloamerikanischen Pragmatismus auf die deutschsprachige philosophische und literarische Tradition der Goethezeit.10 Hervorgegangen aus dem griechischen πρᾶγματιϰόϛ, tritt das Adjektiv mit der allgemeinen Bedeutung von »handlungsorientiert, lebenspraxisbezogen«11 bereits im 17. Jahrhundert im Deutschen auf und erfährt in der Theorie zur Historiografie und zum Roman sowie in der Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine erste Konjunktur, während es im englischen Sprachraum erst am Ende des 19. Jahrhunderts – nicht zuletzt einhergehend mit der Formation und Konsolidierung des Pragmatismus – geläufig wird.12
Die durch eine »pragmatische Wende«13 gekennzeichnete Synthese von Literatur und Philosophie in der deutschsprachigen Tradition des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hat, wie gezeigt werden wird, insbesondere durch William James’ umfassenden Rekurs auf Goethe teil an der Ausformulierung des Pragmatismus. James’ Goethe-Rezeption lässt sich bereits für die Zeit seiner Schulausbildung in Europa nachweisen, wo er zwischen 1855 und 1860 Lehranstalten in London, Paris und Genf besucht,14 bevor er sich im Rahmen seines Studienaufenthalts in Deutschland von April 1867 bis November 1868 neben seinem Studium der Physiologie intensiv der Lektüre der literarischen und kunsttheoretischen Schriften Goethes (und Schillers) widmet.15 Als früher Vermittler der Literatur Goethes kann neben Ralph Waldo Emerson insbesondere Thomas Carlyle, Dialogpartner von Goethe wie von Henry James Sr., gelten. James’ Vater, den eine persönliche Bekanntschaft mit Thomas Carlyle verbindet, hält in den 1860er Jahren Vorträge zu Carlyle im privaten Kreis und publiziert 1881 einen Nachruf, in dem er Carlyles wichtigste intellektuelle Positionen rekapituliert.16
Neben der direkten Begegnung mit der Literatur Goethes ist es der Austausch mit zeitgenössischen Naturwissenschaftlern in der Tradition Goethes, der James’ Philosophie nachhaltig prägt. Zahlreiche Mitglieder seines wissenschaftlichen Netzwerks in Deutschland (und darüber hinaus) agieren nicht nur, wie James selbst, als Grenzgänger zwischen Naturforschung und Philosophie,17 sondern profilieren ihren eigenen naturwissenschaftlichen bzw. philosophischen Ansatz in der Auseinandersetzung mit Goethe – einer Auseinandersetzung, die sich auch, wie etwa bei dem mit James befreundeten Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald oder dem von James rezipierten Philosophen und Mediziner Rudolf Hermann Lotze, in Studien und Publikationen zu Goethe niederschlägt.18 Darüber hinaus haben auch James’ akademische Lehrer im Feld der Naturwissenschaften, wie etwa Hermann von Helmholtz, Rudolf Virchow oder Emil Heinrich Du Bois-Reymond, selbst Schüler eines von Goethe inspirierten Lehrers, des Physiologen Johannes Müller,19 Beiträge zur Naturforschung Goethes vorgelegt.20 Mit einem von James vielfach eingesetzten Kunstwort aus den Voyages en Zigzag des von Goethe sehr geschätzten Schweizer Schriftstellers und Zeichners Rodolphe Töpffer ließe sich der James’sche Pragmatismus als Produkt eines »transatlantic zigzag«21 konturieren.22
Mit James’ Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking erscheint im Juni 1907 »das für die europäische Rezeption der amerikanischen Philosophie des Pragmatismus bis heute einflußreichste Werk«23. Es gründet auf einer Ende 1906 am Bostoner Lowell Institute und Anfang 1907 an der Columbia Universität in New York gehaltenen, populärphilosophisch ausgerichteten Vorlesungsreihe.24 Nachdem die in den 70er Jahren im »Metaphysical Club«25 in Boston und Cambridge dialogisch konzipierte Bewegung des Pragmatismus spätestens 1902 in der Scientific Community Fuß gefasst hat – die Publikation eines von James und Peirce gemeinsam verfassten Lexikonartikels in Baldwins Dictionary of Philosophy and Psychology kann als Endpunkt der formativen Phase des Pragmatismus gelten –,26 gibt ihm James in einer Serie öffentlichkeitswirksamer Vorträge sein spezifisches und, wie gezeigt werden wird, nicht zuletzt von seiner Goethe-Lektüre geprägtes Profil.
Bereits kurz nach dem Erscheinen von Pragmatism vermerkt James in seinem Tagebuch das Angebot des an der Universität Wien lehrenden Philosophen Wilhelm Jerusalem, Pragmatism ins Deutsche zu übersetzen.27 Jerusalem, dessen Erkenntnistheorie mit ihrer Kritik am Apriorismus von F. C. S. Schiller in die Nähe des Pragmatismus gerückt worden ist, und der bereits seit Längerem im brieflichen Dialog mit James gestanden hat,28 intendiert mit der Übersetzung, wie er in der Korrespondenz mit James herausstellt, den als »philosophy of the future«29 verstandenen Pragmatismus in der deutschsprachigen Philosophie bekannt zu machen. Jerusalem fertigt in nur wenigen Wochen im brieflichen Austausch mit James die deutsche Übertragung an. Diese stellt, wie Klaus Oehler, der Herausgeber der 1977 erschienenen Neuausgabe der Übersetzung, ausführt, »ein Sprachdenkmal von eigenem Rang«30 dar: »Sie hat eine historische Würde, die ihr nicht durch etwaige andere, zukünftige Übersetzungen […] genommen werden kann.«31
Richard Rortys vielfach kritisiertes Diktum von »Peirces unverdienter Apotheose«32 zum Protagonisten des Pragmatismus im 20. Jahrhundert erscheint mit Blick auf die frühe Rezeption des Pragmatismus im deutschen Sprachraum als gerechtfertigt. In den frühen deutschsprachigen Publikationen zum Pragmatismus ist es James, nicht Peirce, der als prominentester Exponent der neuen amerikanischen Philosophie diskutiert wird,33 wobei dieser Status von James, wie etwa bereits Ludwig Stein in seiner 1908 publizierten Monografie Philosophische Strömungen der Gegenwart andeutet, durch die Resonanz bedingt ist, die James’ Pragmatism, auch und gerade in der Übersetzung von Jerusalem, erfahren hat: »James’ Buch schlug ein. Mit einem geradezu amerikanischen Tempo griff dieses Buch in die Alte Welt hinüber.«34 Dabei war, wie Stein betont, am Ende des Jahres, in dem James seine Vorlesungen an der Columbia Universität gehalten hatte, »nicht nur der englische Text, sondern die deutsche Übersetzung von Jerusalem in den Händen aller«35. Es ist der »Jamessche[n] Darstellungsweise«36 zu verdanken, dass, so Stein, »William James, wenn auch nicht [als] der zeitlich erste Begründer, so doch [als] der weitaus wirksamste Verkünder«37 des Pragmatismus gelten kann. Als »Künstler und Darsteller von packender Gewalt«38 belebt er den philosophischen Diskurs:
Das […] hätten weder John Dewey in Chicago, noch der Logiker C. S. Peirce von der John Hopkins Universität, noch endlich der Vertreter des »Humanism« in Oxford, F. C. S. Schiller, die William James selbst als die Väter oder Paten des Pragmatismus anspricht, zuwege gebracht, wenn ihnen nicht die propagatorische Kraft eines ebenso lebensvollen wie gemütstiefen und geistesstarken Schriftstellers wie William James zu Hilfe gekommen wäre.39
Mit der Fokussierung auf James in den frühen deutschsprachigen Publikationen zum Pragmatismus setzt sich fort, was sich bereits bei dem im September 1908 in Heidelberg stattfindenden III. Internationalen Kongress für Philosophie, der als der »offizielle Beginn der Wirkungsgeschichte des Pragmatismus in Deutschland«40 gelten kann, abzeichnet. Auch wenn Josiah Royce, langjähriger kritischer Diskussionspartner von William James an der Harvard University, in seinem Eröffnungsvortrag Peirce als »founder«41 des Pragmatismus anführt, ist es, wie der Kongressbericht belegt, insbesondere James, der die Diskussionen zum Pragmatismus dominiert.42 Lediglich in dem Redebeitrag des deutsch-amerikanischen Herausgebers der philosophischen Fachzeitschrift The Monist, Paul Carus, scheint Peirce auf. Peirces Konformität mit den Normen der akademischen Philosophie wird die mangelnde Fachdisziplin seiner ›literarisch‹ orientierten Kollegen gegenübergestellt: »Pierce [sic] ist der einzige unter den Pragmatikern, der wirklich wissenschaftlich und scharf logisch denken kann, die anderen, besonders James, sind recht geniale Leute, Literateure und Feuilletonisten, die wie Novellenschriftsteller schreiben, aber nicht wie wirkliche Philosophen.«43 Mit diesem Verdikt bestätigt der als Philosoph in der deutschen Wissenschaftskultur sozialisierte, in den frühen 1880ern in die USA emigrierte Carus die von James antizipierte kritische Reaktion auf seinen philosophischen Diskurs aus der Alten Welt.44 In einem Schreiben an Jerusalem vom September 1907 zu Details der deutschen Übersetzung weist James seinen Stil als dezidierte Absage an die fachsprachlichen Konventionen der Zeit aus und bringt angesichts der Differenz zwischen der deutschen und amerikanischen Wissenschaftskultur Bedenken zum Ausdruck. Sein Stil sei nicht nur nicht ›technisch‹, vielmehr sei er ›anti-technisch‹, was gerade in deutschen intellektuellen und akademischen Kreisen eine Disqualifizierung provoziere: »I fear that its [= the book’s] untechnicality of style—or rather its deliberate anti-technicality—will make the German Gelehrtes Publikum, as well as the professors, consider it oberflächliches Zeug«45.
Die frühe Rezeption des Pragmatismus von William James im deutschsprachigen Raum erfährt historisch mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs eine Zäsur, die kulturhistorisch durch den nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Antiamerikanismus sowie wissenschaftsgeschichtlich durch den Aufstieg der analytischen Philosophie prolongiert wird. Erst 1996 erscheint die erste deutschsprachige ...