Anne Nassauer John F. Kennedy Institut, Soziologie, 7-9, Lansstrasse, 14195, Berlin, Berlin, Germany
Demonstrierende nutzen üblicherweise städtischen Raum, um ihre Forderungen zu stellen. Auf Straßen und Plätzen soll eine breitere Öffentlichkeit für gesellschaftliche Missstände oder Forderungen erreicht werden. Gleichzeitig unterliegt die Nutzung öffentlichen Raumes in westlichen Gesellschaften polizeilichen Auflagen. Teile desselben werden im Rahmen einer Demonstration zwar für eine gewisse Zeit Demonstrierenden zugestanden, die Polizei ist jedoch für die Regelung dieser eingeschränkten Nutzung verantwortlich.
Moderate, generell friedliche Demonstrationsgruppen, um die es in diesem Beitrag gehen wird, melden daher in der Regel ihre Demonstrationsmärsche an und sprechen somit die Nutzung von Raum im Sinne einer vereinbarten Route vor Demonstrationsbeginn mit der Polizei ab. So werden zwischen beiden Seiten bestimmte Einschränkungen vereinbart: Demonstrierende können gewisse öffentliche Straßen oder Plätze nutzen und somit Routinen wie den Straßenverkehr zeitweise unterbrechen. Gleichzeitig dürfen sie andere Räume nicht nutzen, da dies aus Sicht der Stadt oder der Polizei zu starke Einschränkungen für die Öffentlichkeit mit sich bringen würde.
Demonstrationen laufen in der Mehrzahl friedlich ab, nur gelegentlich kommt es zu Zusammenstößen, in deren Verlauf sich DemonstrantInnen und PolizistInnen prügeln, Steine geworfen oder Tränengas eingesetzt werden. Während die Forschung häufig davon ausgeht, dass einzelne gewaltbereite TeilnehmerInnen, bestimmte Polizeistrategien oder Intentionen einzelner Akteure zu solchen Gewalthandlungen führen, diskutiert der folgende Beitrag, wie situative Aspekte des Raumes und die Aushandlung von Raum während des Protestverlaufs die Gewaltentstehung in Demonstrationsmärschen begünstigen können.
Dieser Beitrag gibt zunächst einen kurzen Forschungsüberblick über Studien zu Raum, Protest und Gewalt und entwickelt dann ein transparentes Konzept des „situativen Raums“ im Protestverlauf. Er analysiert, welche Rolle situativen, d. h. während einer Demonstration stattfindenden Raumaushandlungen zwischen vergleichbaren Gruppen von DemonstrantInnen und PolizistInnen für die Gewaltentstehung in Fällen aus den letzten Jahrzehnten zukam.
Warum Raum? Ein Forschungsüberblick
Die Relevanz von Raum für Proteste und kollektive Gewalt wird in verschiedenen Forschungsfeldern diskutiert und analysiert – seit den 1970er Jahren wird von einem sogenannten „spatial turn“ gesprochen,1 der den Raum stärker in den Fokus der Forschung rückte. Raum beschreibt jedoch allgemein einen relativ weiten Sammelbegriff unter den viele, zum Teil sehr unterschiedliche Forschungsfragen fallen.2
Sucht man nach Studien zu Raum, Protest und Gewalt, findet man diese zunächst in der Protestforschung.3 In diesem Feld beschäftigen sich einige Studien beispielsweise mit räumlichen Rahmenbedingungen – etwa mit der Rechtsprechung zur Nutzung von Raum in Protesten oder mit den Möglichkeiten der Polizei, verschiedene Arten von Raum zu kontrollieren.4
Einige neuere Studien konzentrieren sich währenddessen konkreter darauf, wie räumliche Dynamiken die Interaktionen zwischen DemonstrantInnen und PolizistInnen beeinflussen.5 Diese Studien untersuchen unter anderem, wie sich Aushandlungen über Raum im Laufe der Zeit und mit wandelnden Polizeistrategien verändert haben, und stellen fest, dass zu Zeiten einer vorherrschenden Deeskalationsstrategie der Polizei in westlichen Gesellschaften, diese Verhandlungen immer häufiger vor Beginn von Demonstrationen stattfanden. Sie zeigen außerdem, dass Raum von der Polizei anders gehandhabt wird, je nachdem wie bestimmte Protestgruppen eingeschätzt werden.6 Diese Studien konzentrieren sich folglich primär auf Polizeiperspektiven, -strategien und -verhalten mit Bezug auf den Raum.7
Andere Studien in diesem Forschungsfeld interessieren sich speziell für die Perspektive der Demonstrierenden und untersuchen unter anderem, in welchen Räumen diese ihren Forderungen besonders gut Ausdruck verleihen können,8 oder sie analysieren, wie die geographische Umgebung Protestaktivitäten beeinflusst.9
Diese Studien tragen maßgeblich zum Verständnis von Raum und Protest sowie von bestimmten Polizeistrategien bei. Jedoch bleibt meist ausgeklammert, welche Rolle Raumaushandlungen zwischen vergleichbaren Gruppen von DemonstrantInnen und PolizistInnen innerhalb einer Demonstration zukommt. Wenn man Akteure – und somit ihr Raumverständnis in einer gewissen Polizei- und Protestkultur und ihre Erwartungen an Raum – konstant hält, kommt Raum dann noch Bedeutung zu? Und welche Rolle spielen Raumaushandlungen im Protestverlauf in diesen Fällen für die Entstehung kollektiver Gewalt? Auf diesen offenen Fragen aufbauend, schlägt dieser Beitrag vor, sich konkreter darauf zu konzentrieren, was in räumlicher Hinsicht beiderseitig und während der Demonstration geschieht.
Neuere Forschung der Gewalt-, Kriminalitäts- und Polizeiforschung deutet darauf hin, dass ein Ansatz, der konkret die Situation vor dem Gewaltausbruch untersucht, für diese Analyse von Vorteil sein kann. So zeigen Studien, dass strukturelle Faktoren wie z. B. soziale Missstände nicht erklären können, wann und wo Gewalt ausbricht:10 Ein großer Prozentsatz der Akteure, die Gewalt anwenden, mag zwar von strukturellen Ursachen wie sozialer Ungleichheit betroffen sein, eine schlimme Kindheit oder bestimmte hasserfüllte Motivationen haben – dies trifft jedoch ebenso auf die zahlenmäßige Mehrzahl an Menschen zu, die keine Gewalt anwenden.11 Die neuere Gewaltforschung12 geht daher davon aus, dass ausschlaggebende Faktoren der Gewaltgenese in deren unmittelbarem zeitlichen Umfeld zu finden sein müssen, und untersucht daher spezifisch Situationen, die auftreten bevor und während Gewalt entsteht.
Es erscheint daher notwendig, die Relevanz von Situationen auch in der Entstehung von Protestgewalt zu untersuchen: Da die überwältigende Mehrheit der Demonstrationen moderater linker Protestgruppen friedlich bleibt,13 scheint etwas Bestimmtes in konkreten Situationen zu passieren, das dazu führt, dass Gewalt ausbricht.14
Gleichzeitig deuten empirische Forschungsergebnisse in der Gewalt- und Kriminalitätsforschung nicht nur auf die Relevanz situativer Dynamiken hin, sondern auch auf die Relevanz von Raum: Die situative Kontrolle von Raum scheint für verschiedene Akteure – von bewaffneten Räubern bis hin zu Polizisten auf Streife – ein wesentlicher Fokus zu sein.15
Ich schlage daher vor, die verschiedenen Forschungserkenntnisse aus der neueren Gewalt- und Protestforschung zu verknüpfen, um offene Fragen zu Raum und kollektiver Gewalt in Protesten zu untersuchen. Zwei Kernfragen dieses Beitrags lauten: Wie kann Raum situativ transparent und in Daten messbar konzeptualisiert werden? Welche Rolle kommt situativen Raumaushandlungen zwischen vergleichbaren Gruppen von DemonstrantInnen und PolizistInnen innerhalb einer Demonstration zu?
Konkreter fragt dieser Beitrag, welche Rolle der „situative Raum“ – das Konzept wird im Folgenden erläutert – in vergleichbaren Protestereignissen, d. h. in Demonstrationsmärschen moderater Protestgruppen mit ähnlichen Protestrepertoires und in vergleichbaren Polizeikulturen westlicher Demokratien, spielt: Welche Rolle kommt dem Raum während des Protestverlaufs in moderaten Demonstrationen zu, wenn dieser zuvor klar ausgehandelt wurde? Haben situative Dynamiken auch über verschiedene Jahrzehnte einen Einfluss auf Gewalt, obwohl sich beispielsweise Polizeistrategien in westlichen Demokratien über die Zeit verändert haben?16
In diesem Beitrag soll daher zunächst ein klares, transparentes Konzept situativen Raumes in Demonstratio...