1. Kapitel Allgemeine Grundlagen
Es reicht nicht aus, das Recht zu kennen, man muss es auch auf den konkreten Fall anwenden können. Die methodischen Fertigkeiten sind Gegenstand dieses Buchs. Auch was die materiell-rechtlichen Kenntnisse betrifft, werden hier wichtige, examensrelevante Probleme thematisiert. Dies kann aber die gründliche Auffrischung des Gelernten nicht ersetzen. Wiederholung ist dabei die beste Lernmethode. Der erste Reflex sollte nicht der Erwerb neuer Studienliteratur sein. Vielmehr sollte man zunächst die Lehrbücher und das Material wiederholt durcharbeiten, mit dem man bereits zuvor gearbeitet hat. Denn so prägen sich die Grundstrukturen besser ein. Diese Strukturkenntnisse lassen sich dann ergänzen, indem man – nicht flächendeckend, sondern gezielt – Verweisen auf einschlägige Gerichtsentscheidungen und vertiefende Literatur nachgeht. Lernerfolg erzielt man nicht dadurch, dass man möglichst viele Bücher zum selben großen Rechtsgebiet nacheinander oder nebeneinander durchliest, sondern nur durch problemorientiertes Arbeiten, bei dem man exemplarische Schwerpunkte setzt.
Dabei sei ein Werk hervorgehoben: Der Klassiker zur Wiederholung des materiellen Rechts ist seit fünfzig Jahren das von Dieter Medicus begründete und von Jens Petersen fortgeführte Buch „Bürgerliches Recht“ (derzeit in der 26. Auflage von 2017). Es setzt allerdings gefestigte zivilrechtliche Kenntnisse voraus, sollte also erst zur Hand genommen werden, wenn die Grundstrukturen bekannt sind. Zur „flächendeckenden“ Ergänzung und Vertiefung sehr hilfreich sind auch die Bände aus der Reihe „Prüfe dein Wissen“, die den Stoff im Spiel von Frage und Antwort portionieren und die Angst nehmen, prüfungsrelevante Probleme übersehen zu haben. Die Einzelprobleme sollten aber nicht so, wie sie in den Bänden stehen, auswendig gelernt werden. Vielmehr ist es ratsam, sich stets mit einer kurzen Lösungsskizze klarzumachen, an welcher Stelle in einer gutachtlichen Prüfung das jeweilige Einzelproblem auftritt. Ergänzend bietet sich – insbesondere zur Vorbereitung auf mündliche Prüfungen – die Lektüre einer Ausbildungszeitschrift an: Zeitschriften sind aktueller als Bücher; Aufsätze gehen stärker in die Tiefe, und Ausbildungszeitschriften legen einen Schwerpunkt auf die fallmäßige Anwendung des Stoffs.
Ein Wort noch zum Lesen juristischer Texte: Ein Rechtsgebiet, das – wie das deutsche Bürgerliche Recht – auf einer Kodifikation beruht, kann nur verstanden werden, wenn man auch beim Lernen stets von der kodifizierten Norm ausgeht. Das bedeutet, dass man jeden – ja, jeden – Artikel oder Paragraphen, der in einem Lehrbuch oder einem Aufsatz zitiert wird, tatsächlich an der entsprechenden Stelle auch nachschlagen sollte. Ein solches Vorgehen kostet viel Zeit – aber diese Zeit ist gut investiert! Denn im fortlaufenden Text klingt oft alles einfach und logisch. Daher übersieht man leicht, dass jede Aussage Interpretation ist und auch das Gegenteil vertreten werden könnte. In der Prüfung wie in der Praxis hat man jedoch oft nur den Gesetzestext zur Hand. Wer zugleich mit dem Lehrbuch oder Aufsatz auch das Gesetz gelesen hat, dabei vielleicht sogar gestockt und sich gewundert hat, erinnert sich beim Lesen des vertrauten Gesetzestexts viel eher an das Gelernte als derjenige, der zum ersten Mal einen Paragraphen vor sich sieht und nun versuchen muss, den Gesetzestext mit dem Gelernten zu verbinden.
Juristische Fähigkeiten werden im Studium wie im wirklichen Leben typischerweise anhand praktischer Fälle abgeprüft. Bewährt hat sich dabei ein Vorgehen, das durchaus als „Kunst“ im weiteren Sinne verstanden werden kann, ist es doch ein Produkt hoher Kultur. Diese Kunst der zivilrechtlichen Fallbearbeitung besteht aus mehreren Arbeitsschritten:
– | Erschöpfende Auswertung des Sachverhalts |
– | Erfassung der Fallfrage |
– | Herausarbeitung der Rechts-, insbesondere der Anspruchsbeziehungen |
– | Skizzierung der rechtlichen Lösung |
– | Angemessene Schwerpunktsetzung |
– | Adäquate sprachliche Gestaltung |
Diese Arbeitsschritte sollen im Folgenden systematisch erläutert werden.1
2. Kapitel Auswertung des Sachverhalts
Lesen Sie den Sachverhalt langsam, genau und unvoreingenommen! Unvoreingenommen bedeutet: Wenn Ihnen etwas am Sachverhalt (oder der dahinterstehenden Konstellation) bekannt vorkommt, machen Sie sich zunächst einmal frei von dem Gefühl, das Ergebnis zu kennen! In diesem Stadium handelt es sich lediglich um ein Vorurteil. Der Fall möchte vielleicht auf etwas ganz anderes hinaus und wandelt Vorbekanntes in einem entscheidenden Punkt ab. Es wäre fatal, sich in einem so frühen Stadium der Fallintention zu entziehen und etwas in den Sachverhalt hineinzulegen, was dort gar nicht vorhanden ist (sog. „Sachverhaltsquetsche“).
A Sachverhaltsskizze
Wenn Sie mit der ersten Lektüre des Sachverhalts fertig sind, lesen Sie ihn ein zweites Mal. Parallel hierzu sollte man eine Skizze des Sachverhalts anfertigen. Sie soll Transparenz schaffen, indem ein Überblick über die beteiligten Personen und die zwischen ihnen bestehenden rechtlichen Beziehungen gegeben wird. Diese Skizze sollte ständig vor Augen liegen. Man läuft dann nicht mehr Gefahr, die beteiligten Personen zu vertauschen. Solche Verwechslungen sind einer der häufigsten Fehler in Übungsarbeiten (übrigens nicht nur, wenn mehr als zwei Personen beteiligt sind). Es empfiehlt sich, den Anspruchsteller links und die Anspruchsgegner rechts anzuordnen und die Art der zwischen ihnen bestehenden rechtlichen Beziehung durch Pfeile mit einer Paragraphennummer zu verdeutlichen.
Beispielsweise ist in Fall 12 die Vindikation des E gegen A zu prüfen. Der streitgegenständliche Oldtimer war von E über L zu A gelangt, dann aber von A zunächst an B zur Sicherheit übereignet worden, der ihn wiederum der C weiterübereignet hatte. Nach Rückzahlung des besicherten Darlehensanspruchs hatte C den Oldtimer wieder dem A zurückübereignet. Das Geschehen wird plastisch, wenn man wie folgt skizziert:
Die Skizze stößt die Bearbeiter geradezu darauf, dass die Übereignungen „im Kreis“, also die Übereignungen A – B – C – A, eine besondere Rolle bei der Falllösung spielen müssen. Ein solcher Rückerwerb des ursprünglich Nichtberechtigten A war, wenn man den Umweg über C einmal außen vor lässt, in der Sicherungsübereignung als nichtakzessorischer Kreditsicherheit von vornherein angelegt. Dass zusätzlich noch C involviert war, musste die Chancen für den gutgläubigen Erwerb vor „Rückkehr“ des Eigentums zu A erhöhen. Die Skizze erschließt also die wichtigsten Probleme des Falls.
Das Beispiel verdeutlicht auch, dass mithilfe unterschiedlicher Pfeilarten graphisch zum Ausdruck gebracht werden kann, um was für eine Art von Beziehung es sich handelt und welcher Anspruch zu prüfen ist. So ist hier die einzig zu prüfende Vindikation gestrichelt dargestellt, während alle anderen Pfeile eine durchgehende Linie aufweisen. Die geraden Pfeile stehen für Ansprüche; die gebogenen Pfeile bringen Übertragungsakte zum Ausdruck. Des Weiteren kann etwa ein Sicherungsrecht mit Doppelpfeil, der gesicherte Anspruch mit einem einfachen Pfeil ausgedrückt werden. Auch ist es sinnvoll, derartige Skizzen immer nach derselben Methode anzufertigen, also etwa immer die gleiche Art von Pfeilen zu verwenden. Ziel muss sein, dass Sie mit einem kurzen Blick au...