Jüdisches Urkundenwesen und christliche Obrigkeiten im spätmittelalterlichen Österreich
Eveline Brugger, Institut für jüdische Geschichte Österreichs, Dr. Karl Renner-Promenade 22, 3100 St. Pölten, E-Mail:
[email protected] Zusammenfassung∗: Aus dem spätmittelalterlichen Österreich sind zahlreiche Urkunden mit jüdischen Bezügen überliefert, von denen der Großteil aus christlich-jüdischer Interaktion hervorging. Sowohl die Urkunden jüdischer Aussteller als auch diejenigen, in denen Juden als Beteiligte auftraten, mussten daher formal und inhaltlich für beide Gruppen Rechtsverbindlichkeit garantieren. Das Interesse des Landesfürsten beschränkte sich weitgehend auf die Dokumentation jüdischer Darlehensgeschäfte; allerdings führten landesfürstliche Eingriffe in das jüdische Kreditwesen zur Herausbildung spezifischer Gewährleistungsformeln. Von größerem Einfluss auf die jüdische Beurkundungspraxis war die von den lokalen – häufig städtischen – Autoritäten geprägte diplomatische Tradition, die bei Bedarf auch entsprechend adaptiert werden konnte; dies gilt vor allem für die Beglaubigung deutscher Urkunden durch hebräische Unterschriften. Seltener war die Ausstellung hebräischer Urkunden, deren Aufbau jedoch ebenfalls weitgehend dem etablierten Formular folgte. Einen exklusiv jüdischen Raum in der ansonsten mit der christlichen Seite geteilten Sphäre der Geschäftsurkunden stellen die hebräischen Vermerke dar, die der Organisation dienten, aber auch für Polemik genutzt werden konnten. In den Urkunden, die von lokalen weltlichen oder geistlichen Obrigkeiten selbst ausgestellt wurden, sind meist keine spezifischen Unterschiede zwischen Urkunden mit jüdischen Bezügen oder ohne diese festzustellen, was freilich nicht über die vergleichsweise exponiertere Stellung der jüdischen Bevölkerung hinwegtäuschen darf.
Schlagwörter: Urkundenformular, Unterschriften, Glaubwürdigkeit, jüdischchristliche Beziehungen
Das Themenfeld der jüdischen Geschichte, das gemeinsam mit der Judaistik und den themenspezifischen Sprach- und Literaturwissenschaften der Disziplin der Jüdischen Studien zugerechnet wird, umfasst unterschiedlich ausgerichtete Forschungsansätze, die einander im Idealfall intradisziplinär ebenso ergänzen wie interdisziplinär mit anderen religions-, kultur-, rechts- und sozialhistorischen Fachrichtungen. Für die mittelalterliche Geschichte der europäischen Juden, deren Lebensweise einerseits durch die eigene Religion und Tradition, andererseits aber durch die von der christlichen Mehrheit vorgegebenen Parameter bestimmt wurde, kann den zahlreichen inneren wie äußeren Faktoren, die die mittelalterliche jüdische Existenz prägten, nur durch solch einen breit gefassten Zugang Rechnung getragen werden. Dieser sollte sich idealerweise auf die ganze Vielfalt des überlieferten Quellenmaterials stützen können; trotzdem spielten urkundliche Quellen für die Forschungen zur jüdischen Geschichte lange Zeit eine eher bescheidene Rolle, die sich weitestgehend auf Dokumente des kaiserlichen oder päpstlichen Judenrechts beschränkte. Dem riesigen Quellencorpus der Privaturkunden wurde hingegen so wenig Bedeutung beigemessen, dass es nur herangezogen wurde, wenn keine ‚besseren‘ (idealerweise hebräischen) Quellen zur Verfügung standen. So kam Otto STOWASSER im Jahr 1922 in Hinblick auf die österreichische Quellenlage noch zu der resignierenden Einschätzung: „Die wichtigsten Quellen für die Geschichte des Judentums von 1340 bis 1420 sind allesamt verloren. Es bleiben nur die erhaltenen Schuldurkunden von diesem Material für uns benutzbar. Aber deren sind im Verhältnis sicher nur wenige.“44
Seither hat die Wertschätzung von Privaturkunden als Quellen der jüdisch-christlichen Interaktion jedoch einen massiven Aufschwung erfahren. Selbstverständlich dürfen die der Quellengattung inhärenten Verzerrungsfaktoren dabei nicht aus den Augen verloren werden: die tendenzielle Überrepräsentation der Eliten beider Gruppen zählt ebenso dazu wie die höhere Überlieferungsdichte im städtischen Bereich. Die Notwendigkeit der schriftlichen Fixierung von Geld- und Kreditgeschäften (besonders bei Geschäften um hohe Summen) führte zu einer Dominanz dieser Inhalte in den Urkunden, was allzu oft – unbewusst oder aus ideologisch motivierter Absicht – als Bestätigung des stereotypen Bildes einer ausschließlich vom Geldverleih lebenden jüdischen Bevölkerung betrachtet worden ist. Bei der Interpretation der Informationen, die aus den urkundlichen Quellen gewonnen werden (und hier wiederum besonders für Bereiche, zu denen keine Quellen anderer Art existieren), sind die besagten Faktoren daher stets im Blick zu behalten.
Am Beginn einer Untersuchung urkundlicher Quellen im Kontext der jüdischen Geschichte stellt sich zudem die grundsätzliche Frage, wie weit im Rahmen christlichjüdischer Interaktion von einem ‚jüdischen‘ Urkundenwesen die Rede sein kann. Die Sichtweise der mittelalterlichen Juden als bloße Objekte christlicher Politik und Gesetzgebung war lange so verbreitet, dass sich erst in jüngerer Zeit verstärktes Interesse an der aktiven Rolle entwickelt hat, die die Juden im Kontakt mit ihrer christlichen Umwelt und den christlichen Autoritäten spielten. Dieser Kontakt, wie er uns in den überlieferten Quellen entgegentritt, war trotz allen Ungleichgewichts ein Austausch, an dem beide...