1.1 Trauma und Literatur
Krieg stellt eine Extremsituation fĂŒr alle Beteiligten dar. Die ihm inhĂ€rente Gewalt ist nicht nur in der Regel direkt gegen das menschliche Leben gerichtet, sondern fĂŒhrt auch zu einer massiven psychischen Belastung â nicht nur bei denen, die diese Gewalt erfahren und ĂŒberleben, sondern auch bei jenen, die sich gezwungen sehen, sie gegen andere Menschen anzuwenden. Dasselbe gilt fĂŒr die Zeugen. Nicht selten wirkt diese Gewalterfahrung traumatisch und zeitigt somit langfristige Folgen selbst dann, wenn die Betroffenen physisch unversehrt davonkommen oder nicht Ziel, sondern Agent oder ânurâ Beobachter der Gewalt sind.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung zu diesem Thema gewaltige Fortschritte gemacht, und mit der âPosttraumatischen Belastungsstörungâ (PTBS; hĂ€ufig auch engl. posttraumatic stress disorder, PTSD) ist ein klar diagnostizierbares Krankheitsbild etabliert und behandelbar. Dieses ist zwar nicht auf kriegerische Auslöser beschrĂ€nkt, doch zĂ€hlen zu den potentiell traumatischen Ereignissen â neben UnfĂ€llen, Naturkatastrophen und schweren Krankheiten â vor allem Situationen intentioneller zwischenmenschlicher Gewalt.
Besondere Aufmerksamkeit haben vor allem zwei schwere Formen der Traumatisierung erhalten, die beide im Zusammenhang mit groĂen kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts stehen: das sogenannte Holocaust-Syndrom bei Ăberlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der europĂ€ischen Juden1 und die Traumatisierungen US-amerikanischer Soldaten, die im Vietnamkrieg gekĂ€mpft haben. In der deutschen Ăffentlichkeit erfĂ€hrt die Thematik im Zusammenhang mit Soldaten, die aus Afghanistan heimkehren, inzwischen gröĂere Aufmerksamkeit.2 Immer noch wenig erforscht sind dagegen die Traumatisierungen deutscher Soldaten und Zivilisten im und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Relevant ist die Thematik aber nicht nur fĂŒr die Medizin/Psychologie und die Zeitgeschichte, sondern aufgrund der Rolle, die (Erinnerungsâ)Literatur innerhalb der Erinnerungskultur spielt, auch fĂŒr die Literaturwissenschaft â nicht zuletzt, da literarische Texte es vermögen, Deutungsangebote fĂŒr die traumatischen Erfahrungen bereitzustellen, die trotz ihrer SubjektivitĂ€t gesellschaftlich anschlussfĂ€hig sein können. Bei der Betrachtung dieser Texte sind verschiedene Fragen in den Blick zu nehmen: Welche ErzĂ€hlformen stehen zur VerfĂŒgung, um Ereignisse darzustellen, die sich tendenziell der Narration entziehen, auch und gerade, weil es Teil ihrer Folgen ist, dass die Beteiligten sie nicht vollstĂ€ndig verarbeiten konnten und mithin keine Worte dafĂŒr finden? Wie lassen sich die Aspekte des Krieges, die eine Traumatisierung nach sich ziehen können, adĂ€quat literarisch darstellen? Welche Rolle spielt eine möglichst âauthentischeâ Wiedergabe â sowohl fĂŒr die literarische QualitĂ€t als auch fĂŒr die Rezeption? Welche Funktion kann Erinnerungsliteratur innerhalb der Therapie von Traumatisierungen spielen? Und schlieĂlich: Wie werden entsprechende Texte von der Gesellschaft rezipiert?
Ein besondere Ebene kommt hinzu, wenn man Texte untersucht, die die Leiden deutscher Soldaten und Zivilisten im Zweiten Weltkrieg thematisieren. Hier stellt sich zusĂ€tzlich die Frage, wie man diese darstellen kann, ohne gleichzeitig das Leid, das das nationalsozialistische Deutschland mit dem Weltkrieg und der Verfolgung und Ermordung der europĂ€ischen Juden und anderer Bevölkerungsgruppen verursacht hat, zu relativieren. Dies wurde besonders offensichtlich, als Ende der 1990er Jahre in der Debatte um W.G. Sebalds Thesen zu âLuftkrieg und Literaturâ entsprechende ErzĂ€hltabus postuliert wurden.
Blickt man auf die deutsche Nachkriegsliteratur, so stöĂt man an der Schnittstelle dieser Fragestellungen schnell auf Gert Ledig und seine drei Romane Die Stalinorgel (zuerst 1955), Vergeltung (zuerst 1956) und Faustrecht (zuerst 1957). Denn wie keinem Zweiten ist es Ledig gelungen, die extreme Gewaltförmigkeit des technisierten, totalen Krieges und ihre Auswirkungen auf das Individuum in Worte zu fassen. Darzustellen, zu welchen literarischen Mitteln Ledig hierfĂŒr gegriffen hat, und die oben genannten Fragen fĂŒr sein Werk zu beantworten, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.
1.2 ForschungsĂŒberblick
Bevor Ausrichtung und Ziel der Arbeit genauer dargestellt werden, soll zunĂ€chst ein Ăberblick ĂŒber die vorliegende Literatur zu Gert Ledig und seinen Romanen gegeben werden. Daraus wird dann hergeleitet, welche ForschungslĂŒcke in der vorliegenden Arbeit geschlossen werden soll. Betrachtet seien hierbei zunĂ€chst Ăberblicksdarstellungen zum Kriegsroman des Zweiten Weltkriegs, anschlieĂend Monographien und AufsĂ€tze, die sich ausschlieĂlich oder zumindest primĂ€r mit Ledig beschĂ€ftigen. Trotz des frĂŒhen Erfolgs und des Medienechos rund um die Wiederentdeckung im Zuge der von W.G. Sebald angestoĂenen Debatte um Luftkrieg und Literatur ist die Zahl dieser Arbeiten ĂŒberschaubar.
In den vergangenen Jahrzehnten sind mehrere Monographien erschienen, die unter verschiedenen Blickwinkeln versucht haben, das groĂe Korpus der deutschsprachigen Literatur zum Zweiten Weltkrieg zu katalogisieren, zu kategorisieren und letztlich auch in Teilen zu kanonisieren. Es sei hier hingewiesen auf Bernd Zabels Darstellung und Deutung des zweiten Weltkrieges in der westdeutschen Literatur 1945 â 1960 von 1978, Jochen Pfeifers Der deutsche Kriegsroman 1945 â 1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte von 1981 und Thomas Krafts Studie Fahnenflucht und Kriegsneurose. Gegenbilder zur Ideologie des Kampfes in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg von 1994. Daneben soll Susanne Vees-Gulanis Trauma and Guilt. Literature of Wartime Bombing in Germany aus dem Jahr 2003 in den Blick genommen werden, das neben deutschen Texten auch anderssprachige Werke untersucht.
Bernd Zabel ist fĂŒr die angestellte Untersuchung von Ledigs Romanen unergiebig, da er sie komplett ausklammert. Bei Jochen Pfeifer finden sich viele Pauschalaussagen, die der Bandbreite der untersuchten Romane nicht gerecht werden und teils auch inkonsistent sind. So zĂ€hlt er Ledig zunĂ€chst zum Hemingwayâschen Epigonentum, fĂŒhrt Die Stalinorgel dann aber wegen der gekonnten Verbindung von Stil und Inhalt als gutes Beispiel fĂŒr den âRoman der HĂ€rteâ an und rechnet den Roman schlieĂlich unter die beste deutsche Literatur ĂŒber den Zweiten Weltkrieg.3 Vergeltung sieht er allerdings nur noch als Aufguss des Erstlings ohne Neuerungen.4
Die Stalinorgel findet auch bei Thomas Kraft immer wieder ErwĂ€hnung, hĂ€ufig kommt aber auch er nicht ĂŒber pauschale Aussagen hinaus, die nur selten belegt werden. So wird die EinschĂ€tzung, dass sich zuweilen âdie Beschreibung des Blutbads [âŠ] verselbstĂ€ndigt und die Motive der Figuren im Dunkeln bleibenâ5, nicht mit Beispielen untermauert. HĂ€ufiger noch kommt es vor, dass zwar Themen besprochen werden, die bei Ledig behandelt werden, aber kein Bezug auf sein Werk stattfindet. Dies ist etwa der Fall, wenn beschrieben wird, wie Romane die Unmöglichkeit persönlichen Heldentums demaskieren, weil die IndividualitĂ€t des Einzelnen hinter der technischen FunktionalitĂ€t des Soldaten völlig in den Hintergrund trat.6 Auch bei der Diskussion der nur selten beschriebenen Folgen von Desertion fehlt der Hinweis auf die entsprechende Passagen bei Ledig (s. u. 5.2).7
Susanne Vees-Gulani untersucht verschiedene Romane, die sich mit den alliierten Luftangriffen auf die deutschen StĂ€dte im Zweiten Weltkrieg beschĂ€ftigen â darunter Vergeltung â, auf Symptome und Charakteristika einer posttraumatischen Belastungsstörung bei den Figuren. Daneben betont sie, dass es die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen befördert, diese in narrative Strukturen zu fassen â sei es als Augenzeugenbericht, sei es in literarischer Form. In Vergeltung identifiziert sie verschiedene Verhaltensweisen bei den Figuren, die auf ein Trauma hinweisen (so den Verlust der Zeitwahrnehmung und der ordnenden Funktion von Zeit sowie die stark reduzierte Relevanz ethischer und moralischer Standards).8 Daneben weist sie auf persönliche Erlebnisse Ledigs hin, die vermutlich den Hintergrund fĂŒr einzelne Passagen des Romans bilden.9 Sie legt damit eine Grundlage fĂŒr die in der vorliegenden Arbeit angestellten Ăberlegungen zur TraumabewĂ€ltigung durch Schreiben bei Ledig und anderen Autoren (s. u. 8.).
W.G. Sebalds BeschÀftigung mit den literarischen ReprÀsentationen des Zweiten Weltkriegs sei an dieser Stelle nur kurz erwÀhnt10, da seine Auseinandersetzung mit Gert Ledig spÀter in einem eigenen Kapitel behandelt wird (s. u. 9.3).
Fruchtbarer als die kurzen Passagen zu Ledig in den genannten einschlÀgigen Monographien ist die BeschÀftigung mit den AufsÀtzen, die in den Jahren nach der Wiederentdeckung Ledigs erschienen sind und sich mit unterschiedlichen Aspekten seines Werkes befassen.
Ursula Heukenkamp befasst sich in ihrem Aufsatz zur âGestörten Erinnerungâ mit den Versuchen, von den Erfahrungen des Bombenkriegs zu erzĂ€hlen â sei es in autobiographischer Form, als Augenzeugenbericht oder literarisch. Im Zentrum ihres Interesses steht dabei der sprachliche Ausdruck, den die Ăberlebenden finden bzw. nicht finden und auch nicht finden konnten, âweil der gesamte Erfahrungskomplex zu keiner Zeit einen Ort in der Gesellschaft besaĂâ11, unter anderem weil er bereits wĂ€hrend des Krieges aus dem öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen wurde: Der Krieg fand an der Front statt, nicht in der Heimat; zustĂ€ndig fĂŒr die AufrĂ€umarbeiten waren zivile Institutionen, die Toten waren zivile Opfer. Obwohl diese traditionelle Dichotomie offensichtlich aufgehoben war, hielt sie sich bis weit in die 1950er Jahre. Die Folge ist fĂŒr Heukenkamp eine in der Regel stereotype, mit sprachlichen Klischees beladene Beschreibung des Bombenkriegs, die auf die subjektive Erfahrung reduziert ist und gröĂere historische ZusammenhĂ€nge wie nicht zuletzt die Schuldfrage ausblendet. Vergeltung wird in diesem Kontext von ihr dennoch kaum in sprachlicher Hinsicht behandelt, sondern vor allem fĂŒr seine weitere Kontextualisierung hervorgehoben, da der Roman âder einzige Versuchâ sei, âden Toten des Bombenkriegs einen Platz unter den Opfern von Krieg und Gewalt zuzuweisenâ, und durch die anschauliche Darstellung des menschlichen Leidens einen Vorgeschmack auf kommende Konflikte biete.12
Jan-Pieter Barbian bietet in seinem Beitrag zur Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert OrĆowski einen gelungenen knappen Ăberblick ĂŒber Ledigs Vita, Die Stalinorgel und Vergeltung sowie ihre Rezeptionsgeschichte. EinfĂŒhrend betont er in diesem Kontext vor allem die Bedeutung der âZeitzeugenschaft von Schriftstellern, Journalisten, Fotografen und Filmregisseurenâ angesichts einer âmangelhafte[n] Verinnerlichung von Kriegserfahrungenâ und dem âVersagen der politischen Mechanismen zur PrĂ€vention von Kriegenâ13 seit 1945. Dieser wichtige Ansatz bleibt jedoch im Laufe des Aufsatzes weitgehend uneingelöst zugunsten einer sehr grundlegenden Behandlung von Ledigs Leben und Werk.
Andreas Hensel bricht in seinem Aufsatz Tabentes Populi. Grausige Bilder des Krieges in Lucans âPharsaliaâ und Gert Ledigs âVergeltungâ14 eine Lanze fĂŒr die Verwendung des Lucanâschen Werkes zum römischen BĂŒrgerkrieg der Jahre 49 â 47 v. Chr. im schulischen Lateinunterricht. Beiden Texten attestiert er wegen ihrer schonungslosen Darstellung der Kriegsgewalt ein groĂes Potential, gerade jugendlichen Lesern brutale KriegsrealitĂ€ten zu verdeutlichen und zu verinnerlichen. Texte, die stĂ€rker klassischen Ă€sthetischen Vorstellungen folgen und in ihrer Darstellung weniger drastisch und unmittelbar sind, hĂ€lt er dafĂŒr nicht geeignet. Hensels Fokus liegt dabei vor allem auf den Pharsalia, er empfiehlt aber Vergeltung als weiterfĂŒhrenden Vergleichstext. Er begrĂŒndet dies mit textgestalterischen Parallelen wie der âAufsplitterung des ErzĂ€hlkontinuums in ErzĂ€hlfragmenteâ, der sprachlichen Beschleunigung durch Parataxe, der Schilderungen verschiedener Todesarten im Krieg und der Unmö...