Berlin–Linz
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Wie mein Vater sein Glück verbrauchte

  1. 240 Seiten
  2. German
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Wie mein Vater sein Glück verbrauchte

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Über dieses Buch

"Ich hielt das Leben meines Vaters für das allerunspektakulärste", sagt Tarek Leitner – keine Heldentaten, keine menschlichen Abgründe, keine tragischen Schicksalsschläge. Und doch berührt die Geschichte das Leben seiner Familie in der Bischofstraße in Linz. Dort war das Zentrum des Februaraufstands 1934, dort lebte Adolf Eichmann und der letzte vor dem Holocaust geborene Linzer Jude. Das Buch erzählt anhand zweier Reisen von Berlin nach Linz, einmal durch das nationalsozialistische Deutschland von 1938, einmal durch das in Trümmern liegende Deutschland von 1945, die bewegende Geschichte seines Vaters. Beide Male reiste er auf der Reichsautobahn: Einmal als 12-Jähriger am Steuer eines neu gekauften Wagens, einmal auf dem Fahrrad, das er gegen seine Uhr eingetauscht hatte. Konnte man damals überhaupt "unpolitisch" sein? Ist das Glück eines Menschen endlich, und wie viel davon verbraucht das Überleben im Krieg? Eine Erzählung über das Aufregende im vermeintlich Unspektakulären.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783710604478
Rück fahrt

Berlin Linz 1938

Das also ist unsere neue Hauptstadt, sagte Rudolf, mehr zu sich als zu meinem Vater. Sie hatten eine lange Fahrt hinter sich. Der Zug fuhr bereits langsam. Er ratterte und rumpelte über die vielen Weichen vor dem Bahnhof, ein riesiger Gleiskörper, auf dem ein Kopfbahnhof saß. Den Empfang begleitete ein Gemisch aus Rauch und Ruß, aus dem Geruch von Öl und Hausbrand, die Geräusche von Zischen und Hämmern. Mein Vater liebte diese Atmosphäre. In Linz, erzählte er, stand er gerne auf der Brücke über den Bahngleisen und ließ sich von den Zügen, die darunter passierten, in dicken Rauch einhüllen. Dann näherten sie sich den drei großen Backsteinbögen des Anhalter Bahnhofs, die alle Gleise aufnahmen. Berlin nahm vieles in sich auf, auch die Funktion der alten Hauptstadt. Jetzt also Berlin, dachte mein Vater, nicht mehr Wien. Aber das war Schulwissen.
Es war ein Junimorgen im Jahr 1938, kurz vor acht, als der Zug in Berlin einfuhr.
Im Juni 1938 holte die deutsche Geschichte kurz Atem. Es war keine Atempause, mehr ein kurzes und flüchtiges Einatmen. Kurz zuvor, im Frühjahr, hatte sich die Welt verwandelt. Zuerst durch rhetorischen Druck Hitlers gegen die österreichischen Machthaber, dann durch den Druck der Wehrmacht, die die Waffen nur zu zeigen brauchte, dann war Österreich von der Landkarte verschwunden. Wir weichen der Gewalt, hallten Kanzler Schuschniggs Worte in den Ohren Rudolfs nach. Das war im März. Nicht, dass es dann ruhig war. Die Unterwelt, wie Carl Zuckmayer schrieb, hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Aber ihr Tun war die neue Normalität. Und im Herbst blies die Geschichte den heißen Atem der Hetze wieder aus, in die Menschen hinein. Sie waren empfänglich dafür, und das entlud sich in Pogromen. Auch in Linz wurde die Synagoge niedergebrannt.
Im Juni allerdings erreignete sich innerhalb der neuen Reichsgrenzen nichts, was den Geschichtsbüchern Struktur gibt. Es ist die Zeit einer ersten geringfügigen Ernüchterung nach dem Taumel der Anschlussund Abstimmungstage im März und April. Der Juni 1938 gibt keinen Stoff für Kapitelüberschriften.
Nur dem Leben meines Vaters gab dieser Juni eine Kapitelüberschrift. Er bildete den Rahmen für den Lebensabschnitt zwischen den beiden Reisen Berlin – Linz. Aber das wusste er damals natürlich nicht.
Rudolf, sein Vater, spürte, dass etwas ins Rutschen gekommen war, dass die Stabilität seiner bürgerlichen Welt nun endgültig der Zerbrechlichkeit gewichen war. Nicht wie um 1900, der Zeit des Fin de Siècle, als das Bürgertum zwischen Endzeit und Aufbruchstimmung schwankte. Jetzt war es ein Stück weit klarer, wenn auch nicht gewiss. Obwohl, Rudolf war nicht politisch, sagte er von sich, und sagte mein Vater über ihn. Aber wer 1938 nicht politisch war, konnte trotzdem so tief im christlich-sozialen Milieu verwurzelt sein, dass diese unverrückbare Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Kleinunternehmers, meines Großvaters also, tatsächlich als unpolitisch durchging.
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Filmstills aus Amateurfilmaufnahmen Rudolfs: er und mein Vater an der Tür der Bischofstraße 3.
Die Nationalsozialisten lehnte er nur insofern ab, als er sie nicht ernst nahm. Und da reihte er sich unter die vielen Bürgerlichen ein, die Hitler schlicht für einen Trottel hielten, und schwiegen, bis es zu spät war. Jetzt regierte Hitler sein Land. Als vier Jahre zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Wohnung in Linz auf den Straßen geschossen wurde, und seinen Sohn, meinen Vater also, die Geschichte im engsten Sinn des Wortes streifte, waren es schließlich die Sozialdemokraten, die das angezettelt hatten. Die neue Hauptstadt war nur eine von vielen Wendungen auf diesem unruhigen Kontinent, seit Rudolf den Weltenlauf bewusst mitverfolgte. Das war ab etwa der Jahrhundertwende. Er war damals sechzehn.
Mein Vater lehnte sich aus dem offenen Coupéfenster, um endlich die Reichshauptstadt zu sehen. Rauch zog herein. Rudolf zog seine Taschenuhr aus der Weste. Auch wenn Armbanduhren seit dem Großen Krieg durchaus gängig waren, und Rudolf sein Geschäft darauf aufbaute; er selbst trug selten eine. Er pflegte sich für Reisen ein günstiges Fabrikat einer Taschenuhr einzustecken. Eine Omega mit Stoppfunktion war es. Er hatte sie aus seinen Lagerbeständen genommen. Sie war noch in einem kleinen Stoffsäckchen verpackt. Mein Vater erinnerte sich genau daran, wie Rudolf damals ausrief: Auf die Minute! Rudolf war fasziniert von technischer Präzision. Weltrekord der Präzision sollte es am besten sein. Das schrieb er in ein Inserat, das er einst in der Vorweihnachtszeit in der Linzer Tagespost schaltete. Er entwarf es in groben Zügen selbst. Das Portrait eines Rennfahrers mit Lederhaube und Brille musste darauf zu sehen sein. Es war die Verbindung zu seiner zweiten Leidenschaft. Nicht nur die kleinen Rädchen in den Uhren, mit denen er handelte und die er reparierte, faszinierten ihn. Ihn faszinierte moderne Mobilität, die Möglichkeit der genauen Zeitmessung, und dass die stundenlange Reise von Linz nach Berlin so pünktlich zu Ende ging. Fahrpläne und Hinweistafeln führten die Ankunft noch unter Fernverbindung-Ausland. Das entsprach nicht dem Schulwissen meines Vaters. Ihn belustigte das. Er war damals knapp zwölf.
Mein Vater hatte eine Vorstellung von Berlin. An der Schwelle zum Erwachsenwerden braucht es nur ein paar Bilder im Kopf, um einen ganzen Kosmos klar und deutlich entstehen zu lassen. Onkel Thomas war es, der ihn seinem Neffen gezeichnet hat. Er war ein Opernnarr und galt seinem Bruder Rudolf, dem Geschwindigkeitsnarren, als Träumer. Die Oper hatte am Linzer Landestheater seit den Dreißigerjahren Konjunktur, und Thomas eine Sopranistin zur Geliebten. Die beiden träumten von Berlin in einer Zeit, in der diese Stadt noch ein Parvenü war. So wie Onkel Thomas noch zehn Jahre später einer war. Er war ein Lebemann. Und er hatte nicht nur einen Hang zur Exzentrik, sondern auch zum Exzess, wie es einmal unter Polizeiliches im lokalen Blatt hieß. Aber mehr noch als sich zuweilen zu berauschen, sagte mein Vater, hatte Onkel Thomas eine Vorliebe für Zuckerl*. Und da traf es sich gut, wenn er gelegentlich seinen Bruder Rudolf in dessen Wohnung in der Bischofstraße Nummer 3 besuchte.
Mein Vater war nicht nur in der Bischofstraße zu Hause. Er war, auch wenn er das so nicht ausdrückte, auf der Bischofstraße zu Hause. Es ist eine kurze Gasse, die von der Hauptachse der Stadt, der Linzer Landstraße, wegführt. Sie bildet eine nur etwa zweihundert Meter lange Verbindung zum großen neugotischen Dom. Sie war Kulisse seines Lebens. Eine lange Fassade in Neorenaissanceform prägte die kurze Gasse. Die Wohnung lag in der historischen Anlage mit Blick in den Innenhof, auf der gegenüberliegenden Seite mit Blick in den Gastgarten des Bräugasthofs Klosterhof, gebaut Anfang der Achtzehnachtzigerjahre, in der Zeit von Rudolfs Geburt. Eine Umgebung, die nicht nur Hintergrund auf so vielen Filmen und Fotos ist, die meinen Vater und andere Familienmitglieder auf der Straße zeigen, sondern Kulisse und Bühne seines Lebens: Aufenthaltsort und Spielplatz, Lebensraum einer behüteten Kindheit und Heimat. An diese stattliche Fassadenfront schlossen sich biedermeierliche Hauser an. Einstöckig. Damals das alte Linz.
Eines davon, Bischofstraße Nummer 7, suchte Onkel Thomas oft auf, um sein silbernes Zigarettenetui mit Lutschpastillen vom Zuckerl-Schwager aufzufüllen. Thomas konnte sich minutenlang in der Expertise über Seidenzuckerl, Rahmblockmalz und Ingwer nach englischer Art ergehen. Zuckerl-Schwager war die erste Adresse für diese Ware in Linz. Erste Ware, pflegte Onkel Thomas zu sagen, sagte mein Vater. Und der geriet mehr nach seinem Onkel Thomas als nach seinem Vater Rudolf. Dieser Onkel wollte Gegenkultur zu den fleißigen, Trachtenhut tragenden Linzer Provinzstädtern sein. Als Großstadt galt sie ihm nicht. Sie wird in absehbarer Zeit ein neues Opernhaus besitzen, meinten sie. Konnte auch nicht anders sein, schließlich war sie die Heimatstadt des Führers, wie es in einem Buch über die Heimatstadt des Führers hieß. Es kam im Jahr 2013; die Prognose, nur eine von vielen unzutreffenden in jener Zeit. Thomas scheute sich später übrigens nicht, mit einer eleganten Wehrmachtsuniform aufzufallen. Er war in dem Sinne unpolitisch, wie es sein Bruder Rudolf war. Die unpolitischen Österreicher wurden Beute der jeweils Herrschenden.
Rudolf war ein säkularer Mensch im christlich-sozialen Lager, das den Katholizismus als Defensivideologie gegen die Moderne führte. Als er im Dezember 1918 ein Stellengesuch in einer Zeitung aufgab, charakterisierte er sich nicht nur als tüchtiger Uhrmacher, sondern auch explizit als katholisch.
Er war gefangen in einem Paradox, das er nicht auflösen konnte. Sein Freizeitleben war auf die atemlose Moderne ausgerichtet. Wenn Beten die Kommunikation mit einem göttlichen Wesen bedeutet, postulierte der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, dann ist das Fahren bei erhöhter Geschwindigkeit ein Gebet: Der Verbrennungsmotor und die Reifen eines Automobils sind göttlich. Die Fahrräder und die Motorräder sind göttlich. Aber Rudolf taumelte nicht, wie viele andere, mit diesen Verwerfungen und Umkehrungen in das neue Jahrhundert. Er war weit weg von der Erschöpfung der Nerven, die so viele beklagten, und die in den neu errichteten psychiatrischen Sanatorien Heilung suchten. Er war weit weg von der rätselhaften Jahrhundertwendekrankheit, die sie Neurasthenie nannten. Als Kaufmann wäre er statistisch gesehen in der größten Patientengruppe gewesen. Wer mit den neuen Technologien zu tun hatte, war am anfälligsten. Aber Rudolf ging mit festem Schritt in die neue Zeit und in das neue Österreich.
Es begann fast gleichzeitig mit seiner neuen privaten Lebenssituation. Im Jahr 1918 übersiedelte er mit seinen beiden Brüdern von Kärnten nach Linz. Es war ihm nichts zu schnell und zu unübersichtlich und zu laut. Er war erpicht auf die neuesten Rennradmodelle und Motorrad-Wertungsfahrten und die letzten Entwicklungen im Wettlauf um Geschwindigkeitsrekorde. Das Neue euphorisierte ihn. Und das barg natürlich Gefahr. Denn im Angebot waren nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Ideologien, die unterschiedlichsten neuen Ideen für das gesellschaftliche Zusammenleben – oder zumindest ihre Ausdehnung in breitere Bereiche der Gesellschaft hinein. Rudolfs Privatleben war in den Dreißigerjahren darauf ausgerichtet, endlich seine dritte Frau, meine Großmutter, heiraten zu können. Anna arbeitete bereits seit einigen Jahren bei ihm im Geschäft. Unter dem Einfluss der katholischen Kirche in der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur war an Heirat aber nicht zu denken. Jetzt, unter den Nationalsozialisten, war es mit einem Schlag möglich. Und das christlich-soziale Milieu war gespalten, in ländliche Bauernsöhne und städtische Gewerbetreibende.
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Szenen aus Filmaufnahmen in Berlin: am Brandenburger Tor.
Onkel Thomas pflegte die beiden Lager kurzerhand mit einem launigen Spruch zu einen: Linz reimt sich auf Provinz, sagte er. Meinen Vater kränkte das. Er wollte kein Landkind sein. Die wenigen Erzählungen Thomas’ über Berlin formten in seinem Neffen das Bild einer Stadt, in der er leben wollte. Für ihn hatte Berlin vermeintlich alle Voraussetzungen dafür. Dass dies seit 1933 nicht mehr stimmte, verstand mein Vater noch nicht. Er hatte sie im Kopf, wie sie auch in ihrer Glanzzeit niemals war: hell erleuchtet bis spät in die Nacht, überall Vergnügen, Vergnügen, Vergnügen. Was Vergnügen bedeutet, hätte er nicht recht benennen können. Aber das waren ohnedies mehr Gefühle und Gedanken, die er bei sich behielt.
Er dachte, gleich einiges davon zu sehen, wenn sie den dunkelgrünen Eisenbahnwaggon verlassen würden, in dem sie seit Regensburg die nächtliche Reise verbrachten. Doch nur wenige Orte vermögen die üblichen Städte-Klischees auch in der Realität zu erfüllen. Außerdem hatte Rudolf gar nicht vor, sich mit seinem Sohn lange in Berlin aufzuhalten. Er kam ja nur, um sein neues Auto abzuholen. Und da sollte ihm mein Vater behilflich sein.
Und doch blieb er gleich vor dem prächtigen Portal des Anhalter Bahnhofs stehen. Das Gebäude war eine Kathedrale der neuen Religion des Fortschritts, der Geschwindigkeit und Mobilität, mit einer von den beiden aus Linz kommenden Reisenden nie zuvor gesehenen riesigen Ankunftshalle. Alles war größer hier. Berlin war größer als Linz, aber es war nicht nur in jenem Sinne größer, wie man es beim Aussteigen aus dem Zug nicht gleich erkennen konnte, also an Fläche und Einwohnerzahl. Es war größer in dem Sinne, als es zwar wie Linz aussah, aber so, wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Die Stuckaturen an den ähnlich anmutenden Häusern waren gewaltiger, die Toreingänge höher, die Laternen wuchsen wie überdimensionale Maiglöckchen am Straßenrand, und selbst die Sockel der Häuser, auf denen das Erdgeschoß saß, reichten viel weiter hinauf.
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Impression vom Sechstagerennen am Kaiserdamm 1926, mit Rudolfs Beschriftung.
Mein Vater erinnerte sich erst viel später wieder an die bürgerliche Attitüde des gebildeten Erklärens, die sein Vater unmittelbar nach Ankunft in Berlin an den Tag legte. Er wusste, sein Vater konnte rasch wechseln zwischen einem geradezu uninteressierten Laissez-Faire, Erziehung war schließlich Sache der Mutter und des Kindermädchens – wenn es nicht fast gleich alt gewesen wäre –, und einer professoralen Strenge, mit der er seinem Sohn die Welt erklärte. Hier am Askanischen Platz erklärte er Tag und Nacht, zwei allegorische Figuren über der Bahnhofsfassade. Sie flankierten die riesige Bahnhofsuhr. Es muss kurz nach acht Uhr Morgen gewesen sein.
Ich erinnerte mich erst sieben Jahre später wieder an diesen Moment, sagte mein Vater. Und es schien mir, als hätte mich an diesem Tag im Jahr 1938 die Figur Tag durch die Stadt begleitet. Ich brauchte damals noch nicht mein Wissen aus Karl May, ich genoss die flirrende Atmosphäre, wie sie Erich Kästner beschrieben hatte.
Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser. Das war also Berlin.
Auf ihrem Weg nach Spandau, zum Auto-Union-Werk, kamen auch noch Hakenkreuzfahnen und antisemitische Parolen dazu. Kästners Emil und die Detektive, aus der die Beschreibung Berlins stammt, war zwei Jahre zuvor von den Nazis verboten und seine Bücher waren verbrannt worden....

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. Davor. Das Leben ist Reise genug.
  6. Rückfahrt
  7. Rückkehr
  8. Bibliografie Anmerkungen Autor
  9. Audiovisuelle Quellen
  10. Anmerkungen
  11. Bildnachweis
  12. Impressum
  13. Der Autor