Das schwächste Glied?
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Das schwächste Glied?

Erfolgreiches Fehlermanagement: Was Ärzte von Piloten lernen können

  1. 208 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Das schwächste Glied?

Erfolgreiches Fehlermanagement: Was Ärzte von Piloten lernen können

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Annähernd 80% der Flugzeugunglücke werden durch menschliche Fehler verursacht. Etwa 50% der schwerwiegenden, unerwünschten Vorfälle, die sich in Krankenhäusern ereignen, könnten durch die Einführung von zum Beispiel Checklisten verhindert werden. Trotzdem betrachtet die Welt der Medizin Komplikationen weiterhin von einem rein technischen Standpunkt. In nur wenigen Ausnahmen werden menschliche Verhaltensweisen und der Einfluss von Stress als Faktor in der Kette der Ereignisse, die zu Misserfolgen führen, in Betracht gezogen.Dieses sehr nachdenklich stimmende Buch bietet einige überraschende Antworten auf die Frage, wie Arbeitspraktiken verbessert werden können, und öffnet somit unsere Augen für das gewaltige Potenzial, das in jedem von uns steckt. Beide Autoren sprechen aus ihren beruflichen Erfahrungen, beschreiben und analysieren ihre eigenen Fehler und zeigen dabei eine Reihe von erstaunlichen, praktischen Lösungen auf.Dieses Buch richtet sich nicht nur an Beschäftigte im Gesundheitswesen, sondern auch an all diejenigen, die ihre täglichen Arbeitsabläufe verbessern möchten.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783868673371
Auflage
1

Kapitel | 1

Menschliche Faktoren

Das Konzept „Menschliche Faktoren“ fußt auf einer Untersuchung der Interaktionen zwischen einem Individuum und seiner Arbeitswelt. Einbezogen sind andere Menschen (Lifeware), Technik (Hardware), Dokumentation (Software) und Umgebung (Environment).
Studien belegen, dass in den meisten Fällen Probleme nicht ausschließlich in Einzelfeldern auftreten, sondern bei deren Interaktion. Auf medizinischem Gebiet wurde dies von einem Team in Nashville (Tennessee, USA) belegt. Aus der Studie von Dr. Morris et al. geht hervor, dass die Hauptursache auftretender Probleme in mangelnder bzw. gänzlich fehlender Kommunikation zwischen den oben genannten Einzelbereichen besteht.
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Visuelle Darstellung des SHELL-Modells. Das Diagramm zeigt die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Akteuren und/oder Sachfeldern.
Wie wir sehen, sind hier zahlreiche Faktoren in Betracht zu ziehen: Kommunikation, Psychologie, Ergonometrie, Pädagogik etc. Menschliche Faktoren beeinflussen daher zahlreiche, sehr unterschiedliche Felder.

Menschliche Irrtümer akzeptieren

In den 1980er Jahren kam in der Luftfahrtindustrie erstmals das Konzept „Menschliche Faktoren“ zur Anwendung. Seitdem hat es steigenden Einfluss gewonnen und erfreut sich gegenwärtig großer Aufmerksamkeit. Warum? Nun, der enorme Fortschritt auf dem Gebiet der Flugsicherheit seit den 1950er Jahren – Ausdruck generellen technischen Fortschritts – begann, an seine Grenzen zu geraten. Ein anderer Weg zur weiteren Verbesserung der Sicherheit musste gefunden werden.
Allgemein bekannt ist die viel zitierte Tatsache, dass bei 80 Prozent aller Flugzeughavarien menschliche Faktoren die Ursache sind. Dies wurde bereits in den 1960er Jahren festgestellt, sodass ein stärkerer Fokus auf diese Faktoren nur natürlich war. Im Ergebnis sank die Unglücksrate in den vergangenen 50 Jahren um das Fünfzehnfache. Dennoch bleiben menschliche Faktoren weiterhin die Hauptursache. Die intensive Beschäftigung mit diesem Phänomen hatte erheblichen Erkenntnisgewinn zur Folge.
Heute ist dieses Basiswissen, mit dem menschliche Fehler reduziert sowie Effektivität und Sicherheit erhöht werden können, anwendbar: beim Gestalten von Trainingskursen, bei der Konstruktion von neuen Flugzeugtypen und entsprechender Ausrüstung sowie bei der Modernisierung von Systemen und Verfahrensweisen. Nachfolgend einige praktische Beispiele zur Anwendung des Konzepts „Menschliche Faktoren“:

1.Trainingsprogramme zum Thema Umgang mit Stress

Wenn man unter Stress steht, werden die auftretenden diversen Symptome wahrscheinlich früher oder später dazu führen, dass man Fehler begeht. Es gibt aber Faktoren zur Stressreduzierung, die man trainieren kann; vor allem das Wissen darüber, was Stress erzeugt und wie sich dieser manifestiert. Wenn man verstehen lernt, wie es der Pilot, der 2009 seinen Airbus A320 im Hudson River landete, geschafft hat, dabei absolute Ruhe zu bewahren, so hat man schon einiges begriffen: nicht wie man ein Flugzeug in einen Fluss setzt, sondern wie man in anderen Situationen absolut cool bleiben kann.

2.Techniken mit dem Ziel, die Kommunikation unter Teammitgliedern zu verbessern

Manchmal versteht man nicht, wozu man aufgefordert wird, manchmal ist man es selbst, der eine Aufgabe nicht entsprechend klar formuliert – und schon beginnt der Ärger. Zur Verbesserung der Kommunikation gibt es gewisse Techniken. Zum Beispiel, wenn man in einem Team arbeitet, das Schaffen einer Atmosphäre, die sich auf Kommunikation förderlich auswirkt. Deshalb versammelt etwa ein Flugzeugkapitän vor dem Start seine gesamte Crew, was sowohl das Arbeitsklima verbessert als auch eine Synergie erzeugt, die zu gesteigerter Effektivität des Teams führt. Fast noch wichtiger ist die Verbesserung der Kommunikation zwischen Kapitän und Copilot. Funktioniert sie ohne Probleme, dann wird der Copilot nicht zögern, seinem Kapitän einen Fehler zu signalisieren, der diesem möglicherweise unterlaufen ist.

3.Instrumentenanordnung im Cockpit, die Pilotenfehler möglich macht

Man hat gerade unbeabsichtigt einen falschen Schalter im Cockpit betätigt. Das würde nicht viel ausmachen, wenn ein Ergonomie-Spezialist bei der Gestaltung des Instrumenten-Panels hinzugezogen worden wäre. Die wissen nämlich, dass ein Schalter früher oder später einmal aus Versehen aktiviert wird. Und sie tun zusammen mit den Konstrukteuren ihr bestes, um sicherzustellen, dass die aus derartigen Fehlern resultierenden Folgen unter Kontrolle gehalten werden können. Zahlreiche Sicherheitseinrichtungen wurden in den Flugzeugen installiert, um die Folgen eines Pilotenirrtums oder -fehlers zu minimieren, sollte ein solcher trotz gründlichem Abarbeiten entsprechender Checklisten dennoch passieren.

Warum ist die medizinische Welt noch immer skeptisch gegenüber dem Thema „Menschliche Faktoren“?

Der menschliche Faktor wird in der medizinischen Welt tatsächlich bis heute kaum oder gar nicht in Betracht gezogen. Demgegenüber sind Flugzeugpiloten durchaus bereit anzuerkennen, dass ihnen Fehler unterlaufen können. Sie betrachten es als völlig normal, dass sie vor jedem Start penibel ausführliche Checklisten abarbeiten müssen, selbst wenn sie 15 000 Flugstunden auf dem Konto haben. Flugkapitäne sind ebenfalls darin trainiert zu akzeptieren, dass andere Crewmitglieder durchaus Bedenken gegenüber gewissen Entscheidungen des „Chefs“ äußern können (siehe den Abschnitt zu Fehlermanagement in Kapitel 3). Dies ist freilich nicht in allen Kulturen der Fall.5
Hingegen wurden die wenigen auf den menschlichen Faktor zielenden Initiativen auf medizinischem Feld von Gesundheitsprofis misstrauisch beobachtet, selbst wenn sie das medizinische und chirurgische Vorgehen erheblich sicherer machen könnten. Doch der praktische Mediziner ist in den meisten Fällen von seiner Unfehlbarkeit überzeugt. Ärzte haben Macht über das Leben, manchmal auch über den Tod. Sie sind mit den persönlichsten und intimsten Aspekten des menschlichen Lebens befasst. Ausgestattet mit solcher Macht glauben sie, ihnen könnten keine Fehler unterlaufen. Sie weigern sich sogar einzuräumen, dass Fehler überhaupt vorkommen können.
Die Weigerung seitens der medizinischen Profession, menschliche Faktoren in Betracht zu ziehen, resultiert auch aus der Tatsache, dass sich – anders als in der medizintechnischen Forschung – für entsprechende Untersuchungen kein Sponsor finden lässt. Auf diesem Feld ist auch kein schneller Profit zu erwarten, denn die Einbeziehung auf menschliche Faktoren zentrierter Methoden würde noch nicht bedeuten, dass Mediziner damit zum Kauf bestimmter neuer Technik animiert werden. Erforderlich hingegen sind Investitionen in menschliche Ressourcen sowie Training. Und doch könnten im Gesundheitswesen, in Kliniken wie Privatpraxen, erhebliche Mittel eingespart werden. Dazu später mehr.

Menschliche Faktoren können dazu dienen, die Einstellung einer Person zu verändern

Irrtümer möglichst auszuschließen, ist eine wichtige Maxime für Mediziner wie Piloten. Doch wie es im bekannten Sprichwort heißt: Irren ist menschlich! Einem jeden sind schon Irrtümer unterlaufen und so wird es bleiben. Denn jede menschliche Tätigkeit schließt auch den Irrtum ein. Ermüdung, Überarbeitung, Missverständnisse, komplizierte Situationen, mangelnde Aufmerksamkeit – Irrtümer kommen immer wieder vor. Würden Menschen keine Irrtümer unterlaufen, käme menschlichen Faktoren kaum Bedeutung oder Interesse zu, doch paradoxerweise würde dann der Fortschritt auf vielen Gebieten erheblich langsamer eintreten. Die Entdeckung des Penicillins ist dafür ein sehr gutes Beispiel.6
Wenn wir uns weigern, unsere Irrtümer zu akzeptieren7, leugnen wir damit, dass es in unserer Natur liegt, fehlbar zu sein. Es ist, als würden wir den Schnellkochtopf aufs Gas stellen und zugleich die Augenlider mehr und mehr zusammenkneifen, in der Hoffnung, er werde nicht explodieren, bevor …
Wenn wir hingegen unsere Irrtümer anerkennen, müssen wir den nächsten Schritt gehen und uns bewusst werden, dass Irrtümer Bestandteil unseres täglichen Lebens sind. Daraus folgt: Wir müssen eine Denkweise ändern, die Irrtum mit Versagen gleichsetzt: „Dir ist ein Irrtum unterlaufen“, verbunden mit der unterschwelligen Folgerung „das ist gar nicht gut“. Nötig ist das Erreichen einer eher positiven, eher konstruktiven Einstellung zum Irrtum: „Lasst uns sehen, was wir tun müssen, um die Wiederholung eines bestimmten erkannten Irrtums zu vermeiden.“
Solcher Wechsel im Denken über den Irrtum leitete in der Luftfahrtindustrie die bis heute andauernde Anwendung des Konzepts „Menschliche Faktoren“ ein. Leider hat in der medizinischen Welt dieser Wechsel noch kaum begonnen.
Aspekte der Kultur haben großen Einfluss, wenn es darum geht festzustellen, wie die menschlichen Faktoren in Einklang zu bringen sind. Dieser Prozess wird nur erfolgreich sein, wenn damit eine völlig neue Art des Denkens entsteht, die dann Einfluss auf unser Handeln gewinnt. Die Wichtigkeit des Ganzen ist nicht zu leugnen. Die Einstellung des Menschen zu seiner Arbeit ist eng verbunden mit seiner Fähigkeit, bestimmte Aufgaben oder Situationen zu meistern. Die perfekt erledigte Aufgabe, die richtige Aktion zur richtigen Zeit am richtigen Ort, den Umständen und der Umgebung angepasst – all das ist Resultat komplexer mentaler Prozesse, bei denen unterschiedliche Fähigkeiten abgerufen werden. Bei der Ausbildung dieser Fähigkeiten spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, darunter unsere Wertvorstellungen, unsere Anschauungen, mit anderen Worten: unsere Kultur.
In einer Studie mit einer Gruppe von Piloten wurden sämtliche Irrtümer und Fehler registriert, die ihnen unterlaufen waren. Alle flogen den gleichen Flugzeugtyp, in der gleichen Umweltzone und mit den gleichen Flugabläufen. Den Piloten, die mit einer hohen Sicherheitskultur vertraut waren, unterliefen fünfmal weniger Irrtümer als jenen, für die Sicherheitskultur noch relatives Neuland war. Diese Zahlen sollten indes keine Angst vor dem Fliegen erzeugen: Es stimmt zwar, dass einer Cockpit-Crew durchschnittlich zwei Irrtümer pro Flug unterlaufen – was Tausenden im Verlauf einer Fliegerkarriere entspricht –, dass jedoch kein Fluggast sie bemerkt, liegt daran, dass die Piloten gelernt haben, Fehlerursachen sehr rasch zu finden und abzustellen!
Das ist Welten entfernt von den Gepflogenheiten in der Medizin. Nehmen wir zum Beispiel einen Dentalchirurgen, der häufig unter sehr stressigen Bedingungen tätig ist. Bei ihm ist es nicht ungewöhnlich, zehn bis zwölf Stunden am Tag ohne Pause zu arbeiten, unter erheblichem Druck nicht nur seitens der Patienten, sondern auch der Versicherungen, der Medien etc. Zu erfahren, wie viele Irrtümer dem Arzt oder Zahnarzt pro Tag im Durchschnitt unterlaufen, wäre äußerst interessant. Doch das Ergebnis entsprechender Studien dürfte wohl kaum an die Öffentlichkeit gelangen!
Das hier Gesagte resümierend bleibt nochmals festzustellen, dass in der Luftfahrt große Fortschritte erzielt wurden, dass die Piloten den Umgang mit Stress lernen und viele andere Dinge – doch der Leser wird sicher sagen: Ich bin kein Pilot, das alles betrifft mich nicht wirklich. Tatsächlich aber wollen wir mit diesen kurzen Ausführungen eine unleugbare Tatsache ins Bewusstsein rufen: Wir alle sind anfällig für Fehler und Irrtümer. Wenn man das akzeptiert, hat man eine Erkenntnis gewonnen, die nach und nach das Verhalten ändern und zu mehr Sicherheitsbewusstsein führen wird. Man wird vorsichtiger agieren bei Müdigkeitserscheinungen, beim Umgang mit neuer, komplexer Technik, beim Auftreten einer neuen Situation etc.
Das ist der erste Schritt, und ein sehr bedeutsamer dazu.

Situationsbewusstsein

François Barthelet ist Dentalchirurg. Einige Zeit steuerte er auch privat Flugzeuge und Helikopter. Als er beschloss, die Fliegerei aufzugeben, hatte er 600 Pilotenstunden im Flugzeug und 200 Stunden im Hubschrauber absolviert. Als fanatischer Flugliebhaber verbrachte er große Teile seiner Freizeit mit befreundeten professionellen Piloten. So konnte er beispielsweise viele Stunden lang neben dem Piloten eines Hubschraubers sitzen, der auf 1500 Fuß Höhe unterwegs war und aus dem eine Fernsehkamera ein Radrennen übertrug.
Eines Morgens entschloss er sich, per Hubschrauber allein von Issy-les-Moulineaux nach Süd-Paris zu fliegen. Der Heliport, von dem er startete, unterliegt heute strikten Regeln. Doch zu besagter Zeit konnten Privatpiloten dort nach Belieben starten und landen. Barthelet bestieg also eine Alouette 2, einen sehr stabilen, mit nur einem Triebwerk ausgestatteten Hubschrauber, mit dem er bereits vertraut war. Die Wolkendecke hing sehr niedrig (2000 Fuß/700 Meter). Diese Information hatte er erhalten. Dennoch entschied er sich, auf jeden Fall zu starten. Rückblickend räumte er ein, mit einem Flugzeug wäre er nicht gestartet, doch mit Helikopter, das sei etwas anderes, mit dem könne man überall landen. So also sah er die Dinge, mit der Einstellung: Mir kann nichts passieren, ich finde stets einen Ausweg. Doch gegen Ende des Fluges hingen die Wolken tiefer und tiefer. Das bereitete ihm solange keine Sorge, bis er knapp unter der Wolkengrenze die Spitzen von Starkstrommasten erblickte. Dann fand er sich plötzlich inmitten dicker Wolken. Dazu muss man wissen, dass einem Helikopterpiloten ohne entsprechendes Training in solcher Situation nur eine geschätzte Überlebenszeit von einer Minute verbleibt. Es tritt ein Gefühl absoluter Orientierungslosigkeit ein, die Maschine kann in Seitenlage geraten, ohne dass man es merkt. Nun, François Barthelet hat überlebt und kann seine Geschichte erzählen – ganz wesentlich deshalb, weil er Ruhe bewahrt hat. Er sagte sich wieder und wieder, was seine professionellen Pilotenfreunde ihm während der gemeinsamen Flüge eingebleut hatten: „Wenn du in Wolken gerätst, konzentriere dich völlig auf das Cockpit und die Instrumente. Ganz wichtig: Versuche niemals, durch Blicke nach draußen irgendwelche visuellen Hilfen zu bekommen. Versichere dich, dass du die Höhe hältst, das Variometer sollte 0 anzeigen, und bleib in der Schwebe.“ All diese Ratschläge befolgte er, ohne Gedanken an die möglichen Konsequenzen seines Fehlers zu verschwenden. Als die Wolken durchflogen waren, machte Barthelet eine Wendung um 180 Grad und erblickte am Horizont den Eiffelturm. Er brachte den Hubschrauber knapp über die vorgeschriebene Mindesthöhe, sah unter sich die Autobahn Richtung Westen, folgte ihr und flog zurück nach Issy.
François Barthelet hätte diese Geschichte auch für sich behalten können, doch er zog es vor, sie zu erzählen, auch wenn er damit das Risiko einging, kritische Bemerkungen zu ernten.
Von diesem Bericht lässt sich vieles lernen. Erstens, weil er ein gutes Ende hat, aber auch deshalb, weil François Barthelet seitdem über seinen Fehler nachgedacht hat. Heute ist ihm klar, dass übersteigertes Selbstvertrauen die Ursache war. Er war überzeugt von seinen Fähigkeiten, er war sich sicher, dass ihm mit dem Hubschrauber nichts passieren könne. Sein Situationsbewusstsein war beeinträchtigt. Am Ende unseres Gesprächs räumte er ein, es sei durchaus möglich, dass es bei der Behandlung von langjährigen Patienten, mit denen er ein gutes Verhältnis pflegt, einmal zu einer gleich kritischen Situation kommen könne, denn sein übersteigertes Selbstvertrauen führe manchmal zu einer gewissen Sorglosigkeit. Alle Ärzte wissen um die Schwierigkeiten bei der Behandlung ihnen nahestehender Patienten, wir werden später darauf zurückkommen.
Die Wahrnehmungen des Dentalchirurgen und des Piloten sowie die Gegebenheiten des Operationsraums und des Cockpits (ebenso die jeweilige Umwelt) stimmen nicht immer überein. Gewisse Elemente, etwa Erfahrung oder Umsicht, führen zu verbesserter Wahrnehmung einer Situation. Andere Elemente jedoch trüben unsere Wahrnehmung, genannt seien Ermüdung, Stress, zu große (oder zu geringe) Arbeitsbelastung, äu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Das schwächste Glied ?
  2. Titel
  3. Copyright
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Vorbemerkung
  7. Prolog
  8. Einführung
  9. 1. Menschliche Faktoren
  10. 2. Stress
  11. 3. Risiko und Gefahr
  12. 4. Irrtümer
  13. 5. Get-there-itis: krankhaftes „Ich muss das zu Ende bringen“
  14. 6. Checklisten
  15. 7. Menschliche Faktoren im Trainingsprogramm
  16. 8. Wissen transferieren — Die Anwendung von Konzepten der Luftfahrt in medizinischen Fachbereichen: der Fall dentale Implantatchirurgie
  17. 9. Wichtige Punkte zur Erinnerung
  18. Schlussbemerkungen
  19. Epilog
  20. Literaturverzeichnis
  21. Danksagung