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Warum Gefängnisse niemandem nützen

  1. 312 Seiten
  2. German
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Warum Gefängnisse niemandem nützen

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Über dieses Buch

Wann nützen Gefängnisse und wo richten sie Schaden an? Der Rechtsanwalt und ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli zeichnet ein differenziertes Bild des Strafvollzugs und zeigt Alternativen zu sinnlosen Haftstrafen auf.Unbestreitbar haben wir alle ein Bedürfnis nach Strafe: Wer gegen Gesetze verstößt, soll nicht ungeschoren davonkommen. Den Täter zur Verantwortung zu ziehen, ihn zur Reue anzuhalten, abzuschrecken, den Opfern Genugtuung zu verschaffen und die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen – das sind die Hoffnungen, die sich an Gefängnisstrafen knüpfen. Aber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung weiß Thomas Galli: Selten wird auch nur eins dieser Ziele erreicht.Der promovierte Jurist widerlegt anhand vieler Beispiele aus dem Gefängnisalltag detailliert die Gründe für eine Haftstrafe – zumindest für die Mehrheit aller Straftaten. An die Stelle von Vergeltung und Buße müssen Verantwortung und Wiedergutmachung treten, fordert Galli. Denn durch die ausschließliche Fokussierung auf den Täter geraten die Opfer aus dem Blick.Thomas Galli zwingt uns zu einem Perspektivwechsel und macht deutlich, wie wir unser Strafrecht ändern können, um in einer Welt mit mehr Gerechtigkeit und Sicherheit zu leben.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783896845689
Auflage
1
Thema
Jura
1.Warum strafen wir?
Jemanden zu bestrafen heißt, ihm ein Übel, manchmal einen Schmerz, zumindest aber einen spürbaren Nachteil zuzufügen, weil er anderen ein Leid oder einen Schaden zugefügt oder grundlegende Regeln der Gemeinschaft gebrochen hat. Staatliche Strafe, insbesondere in Form einer Gefängnishaft, ist Gewalt. Warum tun wir das?
Von der Rache zur Strafe
Unserer Art zu strafen liegen individuelle und kollektive Bedürfnisse zugrunde. Insbesondere ein archaisches Rachebedürfnis prägt nach wie vor unsere Strafen, wenn auch in modifizierter Form.
Ein inhaftierter Albaner erzählte mir vor Jahren einiges über die in seiner Heimatregion noch immer praktizierte Blutrache. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er alle Regeln, von denen er mir erzählte, im Detail tatsächlich besser kannte als ein durchschnittlicher deutscher Bürger das Grundgesetz oder Strafgesetzbuch. Es beeindruckte mich jedoch sehr, dass auch diese Blutrache offenbar festen Regeln folgte und nicht die ungezügelte, maßlose, oft tödliche Aggression und Gewalt war, für die ich sie bis dahin gehalten hatte. Der Gefangene war der einzige männliche Überlebende seiner Familie. Sein Vater war schon vor vielen Jahren von einem benachbarten Clan im Streit um ein Stück Ackerland ermordet worden.
Der Bruder des Inhaftierten hatte die Regeln der Blutrache offenbar falsch ausgelegt und zwei männliche Mitglieder der verfeindeten Familie getötet, um seinen Vater zu rächen. Die andere Familie wollte daher den Bruder töten, der jedoch kurz darauf bei einem selbst verschuldeten Motorradunfall starb. Nun wurde der Gefangene zum Ziel der Blutrache. Seine Mutter und seine drei Schwestern waren außer Gefahr. Frauen hatten in den ländlichen Strukturen kaum Rechte, blieben dafür aber nach den Regeln der Blutrache weitgehend geschützt. Im Kern ging es um die Ehre, die wiederhergestellt werden sollte, und Frauen zu töten galt als ehrlos.
Aber auch der Albaner selbst war nicht völlig schutzlos. Er durfte nicht in seinem bzw. in dem Haus seiner Familie angegriffen werden. Und daran hielt sich die gegnerische Partei, elf Jahre lang. Interessanterweise diente diese Regel, wie er mir erzählte, auch der Entlastung derjenigen, die Blutrache üben mussten, um ihre öffentliche Ehre wiederherzustellen. Es gab bestimmte Tage wie den Ostersonntag, an denen sie von dieser Pflicht befreit waren, und eben bestimmte Orte wie das Zuhause. Elf Jahre lang also verließ der Albaner fast nie das Haus, in dem er zusammen mit seiner Mutter und den Schwestern wohnte. Das war eine immense Belastung nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie, der er als Arbeitskraft auf den Feldern fehlte. Auch für die gegnerische Familie war die Blutrache eine große Belastung, sie musste das Haus des Albaners durchgehend im Auge behalten. Wenn er von anderen Bewohnern der Gegend außerhalb seines Hauses gesehen worden wäre, hätte das die Ehre der Familie, die zur Blutrache verpflichtet war, weiter befleckt. Nach elf Jahren aber hielt es der Albaner nicht mehr aus. Er floh mithilfe der albanischen Mafia nach Deutschland, wo er mit falscher Identität dabei half, mit dem Betreiben einer Pizzeria Geld zu waschen, bis er schließlich ertappt und inhaftiert wurde.
Ich wurde durch diesen Gefangenen mit einem für uns archaisch wirkenden Bedürfnis nach Rache konfrontiert. In Gebieten wie dem, aus dem der inhaftierte Albaner stammte, gilt noch das alttestamentarische Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Die Ehre, die nur durch Rache wiederhergestellt werden kann, soll als ein soziales Konstrukt nicht nur das individuell verletzte Selbstwertgefühl wieder stärken, sondern auch ein möglichst ausgeglichenes Miteinander der Gemeinschaft fördern und ein zu großes Machtgefälle zwischen den einzelnen Familienverbänden verhindern helfen. Wenn eine Familie etwa eine wichtige männliche Arbeitskraft durch Mord verliert, könnte die Familie des Mörders auf Dauer eine Vorherrschaft ausbauen, würde ihr nicht ebenfalls eine Arbeitskraft genommen. Auch werden Familien, die sich rächen, wohl weniger oft angegriffen. Rache hat dann vor allem eine abschreckende Wirkung.
Rache kann in gesellschaftlichen Strukturen ohne eine funktionierende Justiz auch zur individuellen Pflicht werden, die den Rächer belastet. Wir gehen davon aus, dass es uns besser geht, wenn wir Rache genommen haben. Tatsächlich scheint es denjenigen, die tatsächlich Rache nehmen, danach nicht selten schlechter als zuvor zu gehen. So kommt der Rechtswissenschaftler Tobias Andrissek zu dem Schluss: »Das direkte Ausleben persönlicher Aggressionsgefühle wirkt entgegen landläufiger Meinung so gut wie der Versuch, ein Feuer mit Benzin zu löschen.«12 Wenn die Rache dem Täter allerdings erfolgreich eine Lektion erteilt und ihm verdeutlicht, dass sein Verhalten ungebührlich war, kann das die Zufriedenheit des Rächenden fördern.13
Das Bedürfnis, uns zu rächen, ist im Laufe der Jahrhunderte zu einem Bedürfnis nach Bestrafung geworden, die weniger blutig und maßlos ist, delegiert werden kann und nach festen Regeln abläuft. Wir haben allerdings nicht nur dann einen dringenden Wunsch nach Bestrafung, wenn wir selbst oder ein uns nahestehender Mensch verletzt worden sind. Auch wenn wir erfahren, dass ein Dritter verletzt wurde, wollen wir den Täter bestraft wissen. Intuitiv und damit vor allen rationalen Erwägungen fühlen wir den Wunsch in uns aufkommen, dem Täter ein Leid zuzufügen, dessen Maß sich an dem bemisst, was er dem anderen angetan hat. Dieses Vergeltungsbedürfnis kennen sicher viele von uns.
Wer kann von sich sagen, noch nie das Bedürfnis verspürt zu haben, jemandem ein Leid zuzufügen, der einen selbst oder einen anderen verletzt oder geschädigt hat – nicht nur als Abwehr der Tat, sondern auch, wenn der Angriff schon länger zurückliegt? Psychologisch ist unser Wunsch, Gerechtigkeit durch Vergeltung zu schaffen, nachvollziehbar, wie die Sozialpsychologen Mario Gollwitzer und Michael Wenzel überzeugend formulieren: »Sowohl eine positive Selbstachtung (…) als auch das Erleben von Sicherheit, Kontrollierbarkeit und Vorhersehbarkeit sind Voraussetzungen (…) für die Bereitschaft, soziale Beziehungen einzugehen. Opfer eines Vergehens zu werden bedroht unser Selbstachtungs- und unser Sicherheitsbedürfnis: Vergeltung ist ein Versuch, mit dieser Bedrohung umzugehen.«14
Und seien wir ehrlich: Wünschen wir uns nicht oft, dass es jemandem, der etwas Schlechtes getan hat, selbst auch schlecht gehen soll? Tief in uns empfinden wir es als ein Gebot der Gerechtigkeit, Menschen, die betrogen, gestohlen oder getötet haben und damit grundlegende soziale Regeln gebrochen haben, zu bestrafen. Auch dies ist gut nachvollziehbar. In einem solchen Normbruch liegt oft auch ein Angriff auf das Wertefundament unserer Gesellschaft und die Gefahr einer Destabilisierung der sozialen Ordnung.15 Darunter hätten dann alle Mitglieder einer Gesellschaft zu leiden.
Vergeltungsbedürfnis: angeboren oder erlernt?
Unser Vergeltungsbedürfnis ist wohl zum Teil von Geburt an in uns angelegt und vorläufiges Ergebnis einer evolutionären Entwicklung. Die Psychoanalytiker Tomas Böhm und Suzanne Kaplan sprechen von einem »evolutionspsychologischen Schatten«, einem Erbe unserer Vorfahren, das uns zu Rächern macht.16 Möglicherweise haben sich Gruppen von Menschen durchgesetzt, die weniger oft von anderen angegriffen und getötet wurden, weil sie sich gerächt und damit auch künftige Angreifer abgeschreckt haben. Auch ist es gut denkbar, dass Gruppen, die eine bessere und stärkere Kooperation untereinander mit Strafen durchgesetzt haben, evolutionäre Vorteile hatten.17
So berichtet der Neurowissenschaftler Nikolaus Steinbeis über eine u. a. von ihm durchgeführte Studie mit Kindern und Schimpansen: »Was wir relativ klar sehen konnten, ist, dass sowohl die Schimpansen als auch die sechsjährigen Kinder bereit sind, Kosten auf sich zu nehmen, um Bestrafung weiter zu beobachten, wenn sie das für gerecht oder entsprechend empfinden. Und das ist für uns ein Indiz, dass die Wurzeln dieser Bereitschaft, Bestrafung zu sehen, relativ weit zurückgehen. Und da geht es gar nicht mal darum, ob das schlussendlich bestraft wird oder nicht, sondern einfach nur um die Möglichkeit, dass bestraft werden könnte. Und allein diese Möglichkeit führt dazu, dass Menschen eine größere Bereitwilligkeit haben, miteinander zu kooperieren.«18
Bei manchen Straftaten nehmen wir mehr oder weniger bewusst an, dass der Regelbrecher von seiner Tat profitiert hat und man ihm deshalb auch etwas wegnehmen muss. Bei Eigentums- oder Vermögensdelikten leuchtet dies unmittelbar ein. Auch bei einer Körperverletzung kann sich der Täter die Freiheit genommen haben, seine Aggressionen derart auszuleben. Da wir uns dies in der Regel versagen, wollen wir dem Täter im Gegenzug die Freiheit auf Zeit entziehen. Eine psychologische Triebkraft des Strafbedürfnisses ist daher neben der Wut und der Angst auch der Neid.
Stellen wir uns vor, wir würden von einem Kampfhund angefallen und schmerzhaft ins Bein gebissen. Das in einem durch einen solchen Angriff aktivierte Verteidigungs- und Aggressionspotenzial würde noch einige Zeit nachhallen, auch wenn der Angriff bereits vorüber ist. Tage oder Wochen nach dem Vorfall hätte man jedoch wohl kein allzu großes Bedürfnis mehr danach, den Hund zu bestrafen. Es ist eben ein Tier, das allein von seinen Instinkten geleitet wird. Ganz anders wäre das, wenn uns ein anderer Mensch, zum Beispiel mit einem Messer, schmerzhaft verletzt. Auch wenn der Angriff längst vorüber und die körperliche Wunde verheilt wäre, hätte man wohl für längere Zeit noch das Bedürfnis, dass dieser Mensch bestraft wird.
Zu einem guten Teil sind Rache und Vergeltung jedoch sozial erlernt19 und abhängig von kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit20 und moralischen oder religiösen Wertungen über »gut« und »schlecht«. Das betrifft die Frage, welche Handlungen eine Gemeinschaft bestrafen will. In über 50 Ländern, vorwiegend in Afrika, dem Nahen Osten und Asien, wird zum Beispiel Homosexualität noch immer bestraft. Der Besitz auch von harten Drogen (wie etwa Heroin) zum Eigengebrauch ist in Portugal keine Straftat, während selbst der Besitz kleinster Mengen in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit dem Tode bestraft werden kann.
Aber auch die Frage, wie Vergeltung erfolgt, ist zum großen Teil sozial erlernt. Das reicht von der Leistung eines materiellen Ersatzes für das Opfer bei indigenen Völkern bis hin zur Vollstreckung der Todesstrafe in den USA. In einigen islamischen Stammesgesellschaften war es Brauch, dass – zum Ausgleich bei Tötungsdelikten – die Familie des Täters eines ihrer Mädchen an einen der nächsten Verwandten des Opfers gab, um einen Sohn zu gebären, der den Verlust des Menschenlebens aufheben sollte.21 Wir sollten uns daher bewusst machen, dass unser Bedürfnis, Menschen zur Strafe in Gefängnisse zu sperren, nicht naturgegeben, sondern erlernt ist. Wir könnten unseren derzeitigen Vergeltungsbedürfnissen also auch ganz andere Inhalte geben – wenn uns bessere einfielen.
Das Beispiel des Mordes in der Wiener Innenstadt liefert uns noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Die meisten von uns wären wohl deutlich empörter, wenn die Opfer keine Mitglieder der Mafia, sondern unbeteiligte Passanten gewesen wären. Warum ist das so? Schließlich ist es doch in beiden Fällen Mord? Hierbei spielt unser Mitgefühl mit den Opfern eine wichtige Rolle. Mafiamitglieder hält man selbst für Täter und verspürt daher weniger Anteilnahme.
Viel stärker aber wirkt aus meiner Sicht die teilweise bewusste und wohl auch unbewusste Angst davor, es hätte auch uns selbst treffen können. Man ist zwar kein Mitglied einer kriminellen Organisation, aber man ist durchaus auch Passant in der Innenstadt. Psychologisch betrachtet ist es diese Angst, die sich in Wut auf den Täter verwandelt. Instinktiv wollen wir alles tun, auch mit Gewalt, damit er uns nicht auch angreifen kann.
Diese Wut ist deutlich größer, wenn einem nach unserem Verständnis Unschuldigen Schaden zugefügt worden ist. Jemandem, der sich selbst an die Regeln gehalten hat. Jemandem, der sich verhält, wie wir selbst es tun. Wenn wir also etwas so Schreckliches wie die eigene Ermordung nicht verhindern können, nicht einmal, wenn wir selbst alle Regeln beachten, werden wir mit zutiefst ängstigender Machtlosigkeit und Willkür konfrontiert. Daher empfinden wir es als weit weniger schockierend und bedrohlich, wenn jemand geschädigt oder sogar getötet wird, der aus unserer Sicht selbst schuldig ist. Unsere Empfindung für das Opfer hängt auch ganz entscheidend davon ab, ob es aus unserem eigenen oder einem anderen Milieu stammt. Wer beispielsweise nichts mit Rockern zu tun hat, entwickelt weniger Angst, Wut und Strafbedürfnis bei Gewalttaten in deren Umfeld. Auch das zeigt den sozialen Sinn der Vergeltung. Sie soll die Einhaltung von Regeln durchsetzen, die uns schützen und an die wir uns umgekehrt selbst halten. Gleichzeitig erklärt es, warum wir wenig Mitgefühl mit Straffälligen haben. Sie haben etwas getan, was wir unserer Meinung nach nicht tun würden.
Unser Bedürfnis danach, dass jemand einen Schaden erleidet, der uns oder einem Dritten größeren Schaden zugefügt hat oder sich ganz allgemein die Freiheit herausgenommen hat, grundlegende Regeln zu überschreiten, an die wir uns halten, hängt also sehr von unserer kulturellen Prägung, unserem individuellen Wissen sowie der individuellen und potenziellen Betroffenheit ab.
Die albanische Blutrache hat also mehr mit uns und unserem Bedürfnis nach Strafe zu tun, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Zwar ist das individuelle Ausleben von Rachegelüsten in unserer Gesellschaft nicht mehr rechtmäßig, aber das emotionale Gefühl der Rache in uns selbst ist damit längst nicht verschwunden. Im Individuum lebt das Bedürfnis nach ihr fort. Nicht zuletzt ist Rache das Motiv vieler Straftaten. Rache am konkreten Opfer oder Rache an der Gesellschaft im Allgemeinen.
Als Gemeinschaft haben wir die Bestrafung als Vergeltung von begangenem Unrecht an die Gerichte delegiert. Das archaische »Auge um Auge, Zahn um Zahn«-Prinzip der Rache ist abgeschafft, aber auch die Todesstrafe für alle Kapitalverbrechen. In seiner Verpflichtung zu den Menschenrechten verbietet sich der Gesetzgeber, selbst Menschen das Leben zu nehmen. Dennoch geht es im Kern unserer Strafen darum, dem Täter ein Übel zuzufügen. Die Höhe dieses Übels bemisst sich wesentlich nach der Schwere des Unrechts, das er begangen hat.
Seit der Übernahme der Bestrafung durch den Staat trat die symbolische, kommunikative und pädagogische Funktion des Strafens immer stärker in den Vordergrund. Strafe ist nicht nur die Ausübung von Aggression oder Gewalt. Sie soll dem Bestraften verdeutlichen, dass sein Verhalten falsch war und nicht wieder vorkommen darf. Und sie soll darüber hinaus öffentlich zum Ausdruck bringen, was diejenigen zu erwarten haben, die bestimmte Regeln brechen.
2.Wozu gibt es Gefängnisse?
Bis ins 16. Jahrhundert hinein wurden Menschen vor allem eingesperrt, um sie körperlich zu bestrafen, zu foltern oder hinzurichten. Geschlossene Anstalten mit einer größeren Zahl von Insassen waren zunächst Spinn- und Arbeitshäuser für arme Menschen, Bettler, Vagabunden und dergleichen. Das Zuchthaus, Vorgänger unserer heutigen Gefängnisse, entstand zwecks Disziplinierung zur Arbeit und Unterbringung von Armen. 1595 wurde in Amsterdam ein erstes »Tuchthuis« (Zuchthaus) errichtet, zwei Jahre später ein »Spinhuis« (Haus für Spinn- und Näharbeiten) für Frauen.22 Auf die Idee, den Freiheitsentzug selbst als Form von Strafe zu verwenden, ist man erst im Laufe der Zeit gekommen.
1608 wurde in Bremen das erste Zuchthaus in Deutschland eröffnet, weitere folgten.23 Diese Zuchthäuser verwandelten sich zunehmend in Gefängnisse, in denen nur noch Straftäter untergebracht wurden. Die Freiheitsstrafe löste so schrittweise drastischere Formen von Strafe, wie etwa körperliche Strafen oder die Todesstrafe, ab. Das Gefängnis hat es also nicht schon immer gegeben, wir haben es vor einigen Jahrhunderten erfunden, könnten aber auch andere Formen der Strafe finden.
Das gilt umso mehr, wenn man sich bewusst macht, dass die ursprüngliche Idee, eine große Anzahl von Straftätern in einer geschlossenen Anstalt einzusperren, nicht der mehr oder weniger analytischen Überlegung folgte, wie man Kriminalität am besten reduzieren könnte. Die Freiheitsstrafe in Einrichtungen zu vollziehen, in denen man Hunderte von Menschen unterbringen kann, hatte und hat auch heute noch vor allem finanzielle Gründe. Eine Vielzahl von Menschen kann so kostengünstig bürokratisch verwaltet werden. Und die Anstalten an sich gab es bereits, sie mussten im Laufe der Zeit nur anders definiert werden. Dieser Prozess der Umwidmung ist, wenn man so will, noch immer nicht beendet. Es werden auch heute noch weitere rechtliche Begründungen gefunden, warum man Menschen einsperrt, wie etwa die Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber oder die Sicherungsverwahrung von Schwerstkriminellen. So werden aufgrund einer besonderen Situation oder Stimmung in der Öffentlichkeit andere Ziele betont, die der Staat mit den Gefängnissen erreichen will. Mal ist es die Sicherheit der Allgemeinheit, mal die Resozialisierung der Inhaftierten und mal müssen die Gefangenen angeblich erst einmal lernen zu arbeiten. In den meisten Bundesländern gibt es daher noch immer die durch Art. 12 Abs. 3 GG legitimierte Zwangsarbeit im Strafvollzug.
Dass man Gefängnisse auch heute noch braucht, denken die allermeisten Menschen. Wenn ich bei Vorträgen oder Diskussionen danach frage, warum wir sie brauchen, erhalte ich ganz unterschiedliche An...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelei
  3. Inhalt
  4. Widmung
  5. Mein Weg ins Gefängnis und wieder heraus
  6. 1. Warum strafen wir?
  7. 2. Wozu gibt es Gefängnisse?
  8. 3. Keine Resozialisierung durch Haft
  9. 4. Gefängnisse gefährden unsere Sicherheit
  10. 5. Das Gefängnis schreckt kaum ab
  11. 6. Vertrauen in Recht und Gesetz
  12. 7. Schuld und Vergeltung: ein überholtes Prinzip
  13. 8. Strafrechtliche Vergeltung von Schuld schadet uns allen
  14. 9. Wir brauchen Verantwortung statt Schuld
  15. 10. Der christliche Hintergrund: Niemand ist ohne Schuld
  16. 11. Das Gefängnis nützt niemandem
  17. 12. Der Weg zur Strafe der Zukunft
  18. 13. Die Strafe der Zukunft
  19. 14. Die schwersten Fälle
  20. Fortschritt ohne Gefängnis
  21. Dank
  22. Literatur
  23. Anmerkungen
  24. Über den Autor
  25. Impressum
  26. Leseempfehlungen
  27. Körber-Stifung