World Wide Wunderkammer
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Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution

  1. 256 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Digitalisierung war für Opernhäuser und Konzertsäle, Theater und Museen lange allenfalls ein Marketingthema. Dass sich für die Zauberorte des Analogen auch digitale Wunderkammern öffnen könnten – kaum vorstellbar. Holger Noltze vermisst dieses neue Terrain und prüft seine Entdeckungen auf ihren Mehrwert für die ästhetische Erfahrung der Zukunft.Langsam erst – manchmal von der Not getrieben, manchmal von Abenteuerlust – entdecken Opern- und Konzerthäuser die eigenständigen Qualitäten des Streaming, entwickeln Museen digitale Sammlungen, die Schaulust und Kunstverstand ansprechen.Es ist höchste Zeit, dass die Kulturinstitutionen sich auf ihre Kernkompetenzen der Kuratierung und qualitativen Unterscheidung besinnen. Dann können sie die Möglichkeiten des Web zur Vertiefung und Differenzierung nutzen, um den Hunger auf ästhetische Entdeckungen jenseits des Erwarteten und Erwartbaren zu wecken. Dafür braucht es neben überzeugenden Erlösmodellen vor allem kluge Lenkung, Fantasie, Komplexitätstoleranz – und die Bereitschaft, ins Unbekannte aufzubrechen.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783896845726
Auflage
1
Thema
Art
TEIL I
Kritik der digitalen Dummheit
»Kurz, er versenkte sich so tief in die Bücher, dass er über ihnen die Nächte vom letzten bis zum ersten Licht und die Tage vom ersten bis zum letzten Dämmer verlas, und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trockneten ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. Sein Kopf bevölkerte sich mit dem, was er in den Büchern fand, mit Verzauberungen und Turnieren, mit Schlachten, Fehden, Blessuren, Liebesschwüren, Amouren, Herzensqualen und anderem abwegigen Unfug.«
MIGUEL DE CERVANTES:
DON QUIJOTE VON DER MANCHA (1605)
Für Kinder: nicht!
Ein Kulturkampf ist im Gang, die Kombattanten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Gekämpft wird um die Flughoheit über den Kinderzimmern, das erklärt die Unversöhnlichkeit, denn wenn es um das Wohl der Kinder geht, wird kaum Pardon gegeben. Dass die Auseinandersetzung über die Frage, was die Digitalisierung in den Hirnen, den Körpern und im Leben der Menschen bewirkt, was sie anrichtet oder wozu sie inspiriert, mit dem Fokus auf dem Nachwuchs geführt wird, ist kein Zufall, denn der Kampf um den kindlichen Kopf ist natürlich der um unsere Zukunft. Da kann und soll man sich sorgen. Und gewarnt wird gern, in Deutschland zumal, wo man eher nicht nur die Vorteile einer Sache sieht.
Wenn Gerald Lembke und Ingo Leipner in Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen ihre Überlegungen als »Kontrapunkt zum vorherrschenden Digital-Diskurs«1 verstehen, ist das eine überraschende Wahrnehmung, denn tatsächlich lassen sich ihre Thesen in den Mainstream der Digitalisierungskritik einordnen. Deren Savonarola ist der Hirnforscher und Bestsellerautor Manfred Spitzer, dessen Erkenntnisse über die Folgen des Digitalen sich bündig so zusammenfassen lassen: Es macht dick, dumm, dement, depressiv. Zumal die Nutzung von Social Media bedeutet für Spitzer den direkten Weg in den Untergang der Menschheit: »Mangelnde Selbstregulation, Einsamkeit und Depression sind in unserer modernen Gesellschaft die wichtigsten Stressoren. Sie bewirken das Absterben von Nervenzellen und begünstigen damit langfristig die Entwicklung einer Demenz. Bei unseren Kindern kann die Ablösung echter zwischenmenschlicher Kontakte durch digitale Online-Netzwerke langfristig mit einer Verkleinerung ihres sozialen Gehirns verbunden sein. Langfristig besteht die Gefahr, dass Facebook & Co zur Schrumpfung unseres sozialen gesamten Gehirns führen werden.«2 Wie man sich so ein »Gesamtgehirn« vorstellen soll, wird nicht recht klar, aber natürlich geht es ums Große, Ganze und Gesamte. Spitzers Thesen zum Untergang des Denkens und damit der Bildung haben alle Zutaten eines Horrorfilms: deformierte Hirne überall, unaufhaltsam. Bloß wie eine Bildung verfallen soll, die es, so das Panorama des Schreckens, doch gar nicht mehr geben dürfte, bleibt rätselhaft. Der Mann ist in ernster Sorge, so viel ist klar, und sammelt Argumente, wo immer sie sich finden: »Googelt man die Stichwörter ›digitale Demenz‹ bzw. ›digital dementia‹, dann erhält man in etwas weniger als einer Fünftelsekunde etwa 8000 und auf Englisch 38 000 Einträge.«3 Das ist dann, zum Erweis der Validität der eigenen These, schon ein wenig lustig. Auf der gleichen Seite wird ja das Googeln als Gegenteil von »selbst denken, speichern, überlegen« gegeißelt. »Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial. Computer- und Internetsucht sind hierzulande mittlerweile häufig auftretende Phänomene mit verheerenden Folgen für die Betroffenen.«4
Das ist ohne Zweifel schlimm, nur war die Suchtpolizei immer schon mit erhöhter Wachsamkeit auf Streife, wenn neue Medien auf den Plan traten. Ein verarmter Landjunker aus der Mancha verwechselt aufgrund von zweifellos suchthaftem Konsum von Ritterromanen Fiktion und Wirklichkeit, hält Windmühlen für Riesen und wird von der Wirklichkeit dafür wiederholt schmerzhaft bestraft: Anfang des 17. Jahrhunderts machte Miguel de Cervantes daraus ein ironisch-exemplarisches Meisterstück für eben das Medium, dessen üble Wirkungen doch höchst komisch vor die Augen seiner Leserinnen und Leser geführt wurden, die sich süchtig lasen an den Abenteuern dieses Don Quijote. Heute wäre man froh, mehr Menschen läsen Cervantes, es geht eben immer noch schlimmer. »Ein Computer zu Hause führt zu schlechteren Schulleistungen«5 – derlei Zuspitzungen klingen ungut nach Teufelsaustreibung, denn das Ding muss natürlich weg, wenn das familiäre Gesamtgehirn noch eine Chance haben soll.
Im Vergleich zu Spitzers am Ende nun doch haltloser Ereiferung sind Lembke und Leipner zwar kaum weniger entschieden kritisch, was die Effekte digitaler Medien auf das noch wachsende junge Hirn angeht, bemühen sich jedoch um Differenzierung. Kinder sollen im Matsch spielen und nicht mit Tablets, finden sie, und die Matsche steht für das Konzept »Wirklichkeit«: Kinder brauchen »starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen«.6 Wo ein digitales Reizbombardement auf das Belohnungssystem eines noch nicht gereiften Hippocampus losgelassen wird, leidet die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, auch mal dicke Bretter zu bohren, nachhaltig – das leuchtet ein. Den Autoren, deren einer immerhin einen Studiengang zu Digitalen Medien leitet, geht es um Ergänzung, um ein sinnvolles Zusammenspiel von realen Erfahrungen und »virtuellen Abenteuern«: Das kann man verstehen, ohne ihren Begriff von Realität weiter problematisieren zu müssen. Irgendwas mit Matsche eben. Die Hirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt bringt die offensichtliche Ambivalenz auf den Punkt: »Einerseits profitieren Erwachsene auf geniale Weise von den Möglichkeiten der digitalen Medien. Andererseits beeinträchtigt Digitalität Babys, Klein- und Schulkinder fatal in der Hirnentwicklung.«7
Für Lembke und Leipner ist es jedenfalls »eine Illusion zu glauben, digitale Medien seien eine sinnvolle Ergänzung, die den Alltag der Kinder bereichert (Komplementarität). In Wirklichkeit rauben sie den Kindern viele Gelegenheiten, sich mit der Welt intensiv auseinanderzusetzen (Substitution).«8 Durchaus einleuchtend erscheint ihre Einschätzung, dass der produktive Umgang mit digitalen Medien ein bereits früher gefestigtes Lernverhalten und die Fähigkeit zu intrinsisch motivierter Konzentration voraussetzt. Es geht nicht nur um Daddeln und Ballern. Auch vermeintlich kindgerechte Lernspiele werden kritisch gesehen, insofern sie das intrinsische Belohnungssystem durch Punkte, Rankings usw. korrumpieren.9 Ihre Wirkungsweise wird nicht anders als toxisch beschrieben: »Ein digitaler Sinnesreiz schleicht sich auf verkürztem Weg direkt ins limbische System ein – und trickst den so wichtigen zweiten Eingangskanal aus, den Gedächtnisspeicher des Großhirns. Er ist für die Korrektur des inneren Antriebs (Motivation) zuständig, um ihn nicht übers Ziel hinausschießen zu lassen. Ohne diese sinnvolle Kontrolle gerät mein ›limbisches Belohnungssystem‹ außer Rand und Band, im schlimmsten Fall entsteht Suchtverhalten.«10
Haben Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt all die Warnliteratur nicht zur Kenntnis genommen? Für sie ist Die digitale Bildungsrevolution ein entschieden euphorisch begrüßtes Ereignis, Risiken und Nebenwirkungen kommen nur am Rande in den Blick. Die Autoren elektrisiert vor allem die Aussicht auf ein Zeitalter neuer Chancengerechtigkeit: »So wie die industrielle Revolution weit mehr als Produktionsprozesse verändert hat, wird die digitale Revolution nicht nur Lernprozesse, sondern auch gesellschaftliche Strukturen verändern. Wenn bisher Abgehängte Zugang zu günstiger und guter Bildung erhalten, wenn Können mehr zählt als Titel, wenn soziale Netzwerke für die Karriere wichtiger sind als persönliche Beziehungen, dann geraten bisherige Eliten unter Druck: Internet-Unis öffnen Harvard für alle, zwanzig Minuten Computerspielen verhilft zu attraktiveren Jobs, Onlineplattformen machen Kindergärtnerinnen zu Millionären. Das führt zu einer faireren Gesellschaft.«11 Haben wir, bei so viel Verheißungsrhetorik, ein Ironiesignal übersehen? Dräger und Müller-Eiselt, Vorstand und Forscher im Dienste der Bertelsmann Stiftung, geben mit ihrer guten Laune zwar ein Gegengift zum gnarzigen Untergangssound der Digitalkritiker, ihr Lob von Massive Open Online Courses und flipped classrooms12 zeigt aber auch ein offenbar strukturelles Problem des Digital-Diskurses: Die Zuspitzungen gehen recht ungebremst in beide Richtungen, Verheißung und Verdammnis. Kulturkampf eben. Das ist einerseits kaum überraschend, erschwert aber leider eben das, wovon man angesichts des dramatischen Veränderungsdrucks bei gleichzeitiger Riesenratlosigkeit am besten mehr hätte: Gelassenheit, abwägend differenzierte Einlassung. Auch die Offenlegung der eigenen, womöglich wirtschaftlichen Interessen würde das Gewicht der Argumentation nicht mindern. Immerhin verfügt die Bertelsmann Stiftung über die Mehrheitsbeteiligung an einem bedeutenden Medienkonzern, dessen Geschäftsmodelle neben der Produktion und Vermarktung von Unterhaltungsfernsehen mit durchaus beschränktem Bildungsauftrag sicher auch für kommerzielle Angebote und Lernplattformen offen wären, die die Möglichkeiten von Big Data für individualisiert optimiertes Lern-Management nicht nur partizipativ, sondern auch ökonomisch aussichtsreich erscheinen lassen. Es werden ja durch digitale Geschäftsmodelle nicht vor allem Kindergärtnerinnen steinreich.
Immerhin einen Vorschlag zur Güte macht der österreichische Leseforscher Gerhard Falschlehner in Anbetracht der »digitalen Generation«, nämlich aufzuhören, das gute alte Buch gegen die digitalen Medien auszuspielen. Falschlehners weitgefasster Lese- und Textbegriff erlaubt den überraschenden Schluss, die Digitalisierung als »wichtigsten Forderer und Förderer des Lesens« zu erkennen: »Jugendliche sind 24 Stunden am Tag in digitalen Medien unterwegs und trennen nicht mehr zwischen realer und virtueller Welt. Sie passen ihr Rezeptionsverhalten an die Notwendigkeiten der Medienwelt an und schreiben mehr denn je – vorausgesetzt, sie können es.«13 Kindern stehe heute eine »faszinierende Medienorgel« zur Verfügung, jetzt komme es natürlich darauf an, auf ihr spielen zu können. »Nicht die digitalen Medien befördern den Analphabetismus, sondern umgekehrt: Analphabetismus verhindert, digitale Medien kritisch und selektiv zu nutzen.«14 Dabei sieht auch Falschlehner die fundamentalen Veränderungen, die bis tief in unsere Hirnstrukturen reichen. Vom Oszillieren zwischen bildlicher Vorstellung und sprachlicher Abstraktion weiß schon die Neurowissenschaft der 1980er Jahre, denn »wir können Bilder lesen und Texte betrachten – die hirnphysiologischen Vorgänge des Verstehens liegen näher beieinander als lange Zeit angenommen«.15 Bilder lesen, Texte betrachten: Anders werden wir mit den explodierenden Informationsmengen vermutlich nicht fertig. Dass die neue Allverfügbarkeit und Gleichzeitigkeit des Weltwissens aber »den herkömmlichen Begriff von Allgemeinbildung obsolet«16 machten, wollen wir nicht glauben, sondern umgekehrt: Ein paar Steine aus dem herkömmlichen Bildungs-Fundament werden mehr denn je nötig sein, um in den Schaumkronen der reinen Allgegenwärtigkeit nicht unterzugehen.
Gehört ein wirklich langer Roman wie Tolstois Krieg und Frieden dazu? Clay Shirky, Vice Provost for Educational Technologies an der NYU, findet, nicht: »The reading public has increasingly decided that Tolstoy’s sacred work isn’t actually worth the time it takes to read it […]. No one reads War and Peace. It’s too long and not so interesting.«17 Nicht so interessant, die Lebenszeit nicht wert. Wie viele süße Katzenbabys könnte man in dieser Zeit betrachten oder Massive Open Online Courses der NYU folgen statt den Geschicken von ein paar Moskauer und Petersburger Adelsfamilien, die versuchen, in den Wirren einer neuen Zeit zurechtzukommen, und das Private ins Politische auf viel zu vielen Seiten verwoben zu sehen? Eine wachsende Zahl der lesenden Öffentlichkeit, den Punkt kann Shirky machen, entscheidet sich gegen Krieg und Frieden. Man darf aber fragen, ob das eine gute Entscheidung ist.
Vielleicht ist es ein Zufall, dass der britische Historiker Niall Ferguson in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit auf die Frage, wie er zu den Geisteswissenschaften kam, bekennt: Gerade die »Lektüre von Krieg und Frieden war für mich einschneidend. Tolstoi zwingt dir Fragen auf: Warum kam es zu dieser großen politischen Umwälzung in Russland? Was hat das Leben der Romanfiguren derart auf den Kopf gestellt?«18 Vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht.
Bedenken second: Politik
Zwischen den Gefechtsständen der Digitalisierungs-Promoter und -Warner öffnet sich das weite Feld der Praxis. Digitalisierung bedeutet ja, nicht zuerst Bücher zu lesen, um herauszufinden, ob das Neue nun gut ist oder schlecht; es heißt erst einmal: machen. Ausprobieren. Anders machen. So kommt die Theorie der Praxis kaum noch nach. Die Politik erst recht nicht. Das etwa muss der FDP-Vorsitzende Christian Lindner gemeint haben, als er sich im Bundestagswahlkampf 2017, ziemlich cool am Rande von irgendwas in sein Smartphone tippend, unter dem Slogan »Digital first. Bedenken second« bundesweit plakatieren ließ.
Der Mann traut sich was, war vielleicht der erste Gedanke dazu, und die Häme ließ nicht auf sich warten; spätestens mit dem Facebook-Cambridge-Analytica-Skandal im Frühjahr 2018 kamen dann auch dem Mutigen selbst Bedenken und er distanzierte sich von dem Spruch, der nun nicht mehr in die Zeit passte.19 Dabei war die Beobachtung, auf die der kesse Satz zielte, ja nicht einmal grundverkehrt: Das alte Analogland ist, auch was seine politischen Repräsentanten und Innovationsentscheidungsprozesse angeht, für die Neulandverhältnisse nicht gut gerüstet. Für den Exportweltmeister und Technologiestandort Deutschland ist das ziemlich blamabel, und dass die Netzabdeckung und die Verfügbarkeit von schnellem Internet auf dem Land zu wünschen reichlich übrig lassen, liegt ja nicht an »Bedenken« im Sinne sorgfältigen Abwägens, sondern eher an einer etwas zipfelmützig-selbstzufriedenen Behäbigkeit. Und wohl auch einer gewissen urbanen Arroganz. Auch der Rat für Kulturelle Bildung kann sich »des Eindrucks nicht erwehren, dass die politischen Prozeduren gemessen am Entwicklungstempo der digitalen Welt deutlich zu langsam sind«.20
Es geht zu langsam mit dem schnellen Internet, und jenseits der Metropolen finden sich ganze Regionen unterversorgt. Auch der hoffnungsfroh angekündigte DigitalPakt Schule, fünf Milliarden des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, in fünf Jahren über Grundschulen und weiterführende Schulen ausgegossen, hatte, nach der mühsamen Klärung der verfassungsrechtlichen Hürden, weil Bildung ja Ländersache und nicht Bundesangelegenheit ist, nicht mehr den Schwung eines Befreiungsschlags oder gar großen Wurfs. Mit dem warnenden Hinweis auf das »Primat der Pädagogik«, nämlich bei aller Euphorie über die unbegrenzten Möglichkeiten »kollaborativen Lernens« in smart digitalisierten Lern-Umwelten die Bedeutung der Inhalte und die entscheidende Wichtigkeit der Qualität des Lehrpersonals nicht außer Acht zu lassen, läuft der Rat für Kulturelle Bildung offene Türen ein;21 denn eben dieses Primat wird gleich in der zweiten der FAQs auf der Seite des BMBF beschworen: »Investitionen in digitale Bildungsinfrastrukturen, pädagogische Konzepte sowie die gezielte Qualifizierung von Lehrkräften gehen Hand in Hand und folgen dem Grundsatz: Keine Förderung ohne Qualifizierung und ohne pädagogisches Konzept.«22
Wer wollte in der Sache widersprechen? Aber es ist diese ministerielle Rhetorik, die ganz indikativisch als Gegebenheit formuliert, was doch erst einmal erwünscht und angestrebt und vermutlich gar nicht so einfach zu realisieren ist, die einen skeptisch werden lässt. Möglicherweise kommen im politischen Geschäft solche Unterschiede zwischen Wunsch und Wirklichkeit abhanden, so wie sich die richtige Idee, dass die digitale Aufrüstung mit besonderem Augenmerk auf die Schule und besser früher als später geschehen sollte, im alltäglichen Anschaffungs-Antragswesen schnell verliert. Und wenn die Smartboards dann im Klassenzimmer stehen, fange...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelei
  3. Inhalt
  4. Vorwort
  5. Teil I: Kritik der digitalen Dummheit
  6. Teil II: Neulandvermessung: Transformationen
  7. Teil III: Was geht? Aussichten ins Freie
  8. Anmerkungen
  9. Bildnachweis
  10. Über den Autor
  11. Impressum
  12. Leseempfehlungen
  13. Körber-Stifung