1 Bruder Philipps âMarienlebenâ
âDie Bedeutung der mittelniederdeutschen Literatur in der deutschen Geistesgeschichteâ â Mit einem Vortrag unter diesem Titel tritt Wolfgang Stammler im Jahr 1924 vor die Mitglieder des âVereins fĂŒr niederdeutsche Sprachforschungâ. In seinen AusfĂŒhrungen widmet er sich der verbreiteten Annahme, dass Literatur im deutschsprachigen Norden vor allem eine ârezeptive TĂ€tigkeit ausgeĂŒbtâ1 habe. Er versteht diese These als Kritik und versucht sie zu entkrĂ€ften, indem er âeine quantitativ gleiche Menge von originalen SchriftdenkmĂ€lernâ2 identifiziert und der niederdeutschen Literatur des Mittelalters so Relevanz verleiht. Bevor er zu diesem Unterfangen ansetzt, verweist Stammler in wenigen kurzen SĂ€tzen auch auf Bruder Philipps âMarienlebenâ:3 Dieses Werk entstamme zwar keineswegs dem niederdeutschen Norden, liege aber bemerkenswerterweise auch in unterschiedlichen Fassungen in niederdeutscher Schreibsprache vor.
Stammlers kurzer Hinweis verdient eine ausfĂŒhrlichere BeschĂ€ftigung. Denn Philipps Dichtung ist nicht nur irgendeine Dichtung unter vielen: Sie ist die erfolgreichste deutschsprachige Ăbertragung der âVita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmicaâ und die meistĂŒberlieferte Reimpaardichtung des Mittelalters. Die Forschung zu diesem literaturhistorisch signifikanten religiösen Epos hat in den vergangenen Jahren zwar an Fahrt aufgenommen, den niederdeutschen Handschriften und Fragmenten wurde aber weiterhin kaum Beachtung geschenkt. Das von Stammler genannte Vorurteil gegen diesen Sprachraum â mehrheitlich rezeptive, kaum produktive Auseinandersetzung mit Literatur â stand einer wissenschaftlichen Untersuchung des niederdeutschen Ăberlieferungszweigs stets im Weg.
Doch lediglich der Befund, dass eine Dichtung auch in niederdeutscher Sprache vorliegt, schlieĂt keinen differenzierten Umgang mit ihr aus. Denn erstens ist niederdeutsche Literatur nicht per se ausgenommen von Bernard Cerquiglinis bekanntem Postulat âOr lâĂ©criture mĂ©diĂ©vale ne produit pas de variantes, elle est varianceâ4. Und zweitens lĂ€sst auch eine mehrheitlich rezeptive, nicht nur eine produktive Auseinandersetzung mit Literatur RĂŒckschlĂŒsse auf einen Sprachraum als Literaturraum zu.
Es ist Anliegen der vorliegenden Studie, das Vorurteil einer bloĂen Wiederholungsarbeit im deutschsprachigen Norden zu hinterfragen und am Beispiel von Philipps religiösem Epos ein detailliertes Bild der Rezeption und Weitertradierung von Literatur in niederdeutscher Sprache zu zeichnen.5 Ausgangspunkt der Analyse sind diejenigen Textzeugen, die das âMarienlebenâ in niederdeutscher Schreibsprache erhalten. Sie dienen nicht als bloĂe âMittel zum Zweckâ, um die Person des Autors besser zu greifen oder eine autornahe Textfassung zu rekonstruieren, sondern â im Sinne der âNew Philologyâ und in den Worten Karl Stackmanns â als Text- und BedeutungstrĂ€ger mit âEigenwertâ6. Ich verstehe die mittelalterliche Handschrift als zweigeteilte Einheit, als Objekt und als Medium:7 Als Objekt rĂŒckt ihre Ăberlieferungsgeschichte in den Vordergrund, die sich ĂŒber ihre MaterialitĂ€t, aber auch ĂŒber ihre Reise vom Zeitpunkt und Ort der Abfassung bis zu ihrem jetzigen Aufbewahrungsort rekonstruieren lĂ€sst. Als Medium steht ihre Textgeschichte im Fokus, d. h. die jeweilige Fassung, in der ein Werk erhalten ist. Die Kategorien âObjektâ und âMediumâ sind nicht strikt voneinander zu trennen, denn: âMateriality may be intimately bound to the ideas it expresses and carries.â8 Indem die Ergebnisse der Ăberlieferungs- und Textgeschichte miteinander in Beziehung gesetzt werden, geben sich die einzelnen Handschriften als âcultural agentsâ9 zu erkennen, die eine âconstruction and reconstruction of cultureâ10 ermöglichen.
Zu diesem Zweck soll die niederdeutsche Ăberlieferung nicht in strenger Opposition zur mittel- und oberdeutschen Ăberlieferung gesehen werden, um so in einem Vergleich âtypisch niederdeutscheâ Elemente der Literaturrezeption zu ermitteln. Ein derartiger Ansatz ist zwar auch denkbar, angesichts des Forschungsstandes zur Rezeption des âMarienlebenâ im ober- und mitteldeutschen Raum derzeit aber noch nicht zu leisten. Stattdessen wird die niederdeutsche Ăberlieferung fĂŒr sich in den Blick genommen, um auf diese Weise einen Beitrag zur Erforschung des niederdeutschen Sprachraums als Literaturraum zu leisten.11 Es soll gezeigt werden, dass eine rezeptive TĂ€tigkeit keineswegs eine produktive TĂ€tigkeit ausschlieĂt und nicht im Sinne einer bloĂen Replik gedacht werden darf: Neun distinkte Textzeugen geben eine vielfĂ€ltige BeschĂ€ftigung mit Philipps Werk zu erkennen und erlauben RĂŒckschlĂŒsse auf die Rezeption und Weitertradierung dieses mittelalterlichen Ăberlieferungsschlagers in niederdeutscher Schreibsprache.
1.1 Autor und Werk
Auch wenn der Autor in Anschluss an Karl Stackmann im Folgenden nicht als âsinnstiftende Instanz fĂŒr d[en] ihm zugeschriebenen Text[]â verstanden wird, so gilt dennoch, âdaĂ wir ĂŒber Namen und biographische Daten von mittelalterlichen Autor-Individuen unterrichtet seinâ, in diesem Fall sogar âden Autor eines Werkes als historische Person identifizieren könnenâ12. Wer war Bruder Philipp und welche Informationen ĂŒber sein Leben und Wirken sind bekannt? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, ist der Text des âMarienlebenâ zu bemĂŒhen, â[d]enn ein Autor wird fĂŒr uns erst durch die Ăberlieferung konstituiertâ13.
ZunÀchst lohnt ein Blick in den Epilog. Hier macht Bruder Philipp Angaben zu seiner Person und nennt den Abfassungsort seiner Dichtung:
bruÌder Philip bin ih genant,
got ist mir leider wenich erkant.
in dem òrden von Kartus
geschriben han in dem huÍŁs
ze Seitz ditz selbe buÍ€chelin (V. 10122â10126)14
Philipp gibt sich demnach als KartÀusermönch zu erkennen.15 Die explizite Nennung der Kartause ze Seitz...