Das russische Imperium
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Das russische Imperium

Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion

  1. 477 Seiten
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Das russische Imperium

Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion

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Über dieses Buch

Dieses Buch ist ein Zeitzeugnis: Eine Geschichte Russlands vom Aufstieg zur europäischen Großmacht bis zum Untergang des sowjetischen Imperiums im Jahr 1991. Dietrich Geyer, einer der bedeutendsten deutschen Osteuropahistoriker hat in seiner letzten Tübinger Vorlesung die Geschichte Russlands von der Thronbesteigung der Romanovs 1613 bis zum Zerfall des Sowjetreiches betrachtet. Das Buch spricht von den Herrschern des Zarenreiches, von Adligen und Bauern, von Reichsbildung und Nationalitätenpolitik, von der Revolution und ihren Folgen. Geyers Darstellung ist der Versuch, die Grundzüge russischer Staatlichkeit und Mentalität sichtbar zu machen. Mit der ihm eigenen Sprachgewalt, dem Kenntnisschatz aus fünf Jahrzehnten Russlandforschung und großer Souveränität führt Geyer den Leser durch vier Jahrhunderte russischer als europäischer Geschichte.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110665000
Auflage
1

Erster Teil Autokratie und Imperium 1547 – 1855

1 Grundbegriffe und Orientierungen

1.1 Einleitung

Reichsgeschichte im Blick auf Russland von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts: das ist der chronologische Rahmen, in dem der erste Teil dieser Ausführungen steht. Die kalendarische Abgrenzung mag banal erscheinen, denn sie wird durch zwei Daten dynastischer Art markiert: am Anfang durch die Zarenkrönung Iwans IV. am 16. Januar 1547, am Ende durch den Tod Kaiser Nikolaus’ I. am 18. Februar 1855.
Historiker, die etwas auf sich halten, bevorzugen in der Regel anspruchsvollere Periodisierungskriterien. Sie orientieren sich am Wechsel der Epochen, an Etappen und Wendepunkten, bei denen viele Kräfte und Faktoren zusammenwirken: Herrschaftsformen und ihre Legitimationsgrundlagen, soziale Ordnungen, kulturelle Werte und Traditionen, Beziehungen zur Außenwelt, Krieg und Expansion, Bündnisse und Nachbarschaften. Vor diesem weiten Horizont können Kalenderdaten kaum mehr als Merkzeichen im Gang der Begebenheiten sein – Orientierungspunkte, die auf den Wandel der Epochen und Zeiten verweisen.
Iwan IV. Wassiljewitsch (1530 – 1584) als Iwan Grosnyj, der Schreckliche bekannt, wurde als siebzehnjähriger Moskauer Großfürst zum Zaren gekrönt. Er war die erste russische Herrschergestalt, von der Selbstzeugnisse überkommen sind. Im Westen waren seine Taten Gegenstand der zeitgenössischen Flugschriftenliteratur – publizistische Reaktionen auf die Verwüstungen, die moskowitische Truppen seit den ausgehenden 1550er Jahren in Livland angerichtet hatten. Mit dem Angriff auf den Staat der Ordensritter waren deutsche Reichsinteressen unmittelbar berührt, Interessen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Aus dieser Zeit stammen die ersten Embargolisten, mit denen Kaiser Ferdinand II. jeglichen Handel mit den Moskowitern unterbinden wollte. Nachhaltig waren die Furchtkomplexe, die der Livländische Krieg (1558 – 1583) im Westen hinterließ. Es waren Schreckensbilder von der moskowitischen Gefahr, von Moskowien als einem barbarischen Staat, der unter dem Regiment blutrünstiger Tyrannen stehe und für die christlichen Völker nicht weniger bedrohlich sei als der türkische Erbfeind.
Abgeschlossen wird das erste Großkapitel mit dem Tod des Zaren Nikolaus I. und dem Regierungsantritt Alexanders II. Auch hier ist der Regierungswechsel nur eine Merkzahl für tiefergreifende Veränderungen. 1855 war Krieg. Russland kämpfte gegen Großbritannien und Frankreich, die an der Seite des türkischen Sultans standen und entschlossen waren, den orientalischen Ambitionen des Zarenreiches Einhalt zu gebieten. Dieser Krieg, der militärisch auf der Krim entschieden wurde, hat den Gegensatz zwischen dem autokratischen Russland und dem liberalen Europa in handgreiflicher Weise aktualisiert. Er endete mit der russischen Niederlage, die im März 1856 durch den Friedensvertrag von Paris besiegelt wurde. Russland verlor seine Stellung als Stütze der konservativen Mächte, als Bastion der europäischen Reaktion, als Gendarm Europas und Schutzherr der Christen im Osmanischen Reich.
1547 bis 1855: Was hält diese dreihundert Jahre zusammen? Keine Antwort ist denkbar auf diese Frage, die einen zeitübergreifenden Faktor überginge. Die Kontinuität der russischen Autokratie, die Zählebigkeit der uneingeschränkten Vollgewalt der Zarenmacht. Wer von russischer Reichsgeschichte spricht, kann von der Selbstherrschaft nicht schweigen. Es war dieses Institut der Staatsverfassung, das Russland als Kontrapunkt zum aufgeklärten Europa erscheinen ließ; hier Freiheit und ständische Libertät, dort Despotie und Tyrannei.
Auf solch grobe, auf Unversöhnlichkeit justierte Gegensätze verkürzt, wird kein auch nur leidlich seriöser Historiker die Unterschiede bringen, die zwischen Russland und dem sogenannten Abendland bestanden haben. Auch im Westen hat es an autokratischen Herrschaftsformen bekanntlich nicht gefehlt. Wohl aber gehörten zwischen Verachtung und Furcht pendelnde Vokabeln zu den Kammertönen, die in der westlichen Russlandpublizistik über die Zeiten hin zu hören waren. Dazu notierte der kaiserliche Gesandte Sigismund von Herberstein in dem berühmtesten Moskowiterbuch des 16. Jahrhunderts: „Sein Gewalt hat der Großfürst gebraucht sowohl über die Geistlichen als über die Weltlichen, sei es um das Gut oder das Leben. Seiner Räte keiner hat des Herrn Meinung widersprechen dürfen, bekennen durchaus, des Fürsten Willen sei Gottes Willen (…). Alle im Land nennen sich ihres Fürsten Chlopn, das heißt verkaufte Knecht (…) Dies Volk hat eine größere Lust zu Dienstbarkeit denn zu Freiheit. Ich weiß nit eigentlich, ob dieses unbarmherzig Volk eines solchen Tyrannen zu seinem Fürsten bedürfe, oder ob durch der Fürsten Tyranney dies Volk also unmildt und grausamlich wird“.1
Zweihundert Jahre später, als der Begriff der Freiheit in Westeuropa mit dem der bürgerlichen Freiheit schon verbunden war, schien sich Russland in dieser Hinsicht nicht wesentlich verändert zu haben. So schrieb der junge Johann Gottfried Herder, der von der Rigaer Domschule aus nach Osten sah, in seinem Reisetagebuch von 1769: „ein Ruße (…) hat für Bürger kein Wort in seiner Sprache. Der junge Ruße von Stande sieht an Bürgern nichts als Knechte (…). Der Ruße ist (…) ist nie andres, als niedrig in seiner Schmeichelei, damit er groß gegen andre sei: d. I. er ist Sklave um Despot zu werden“.2
Ich nenne dies die Kontinuität der Autokratie bei Abwesenheit ziviler Gesellschaft eigenen Rechts. Noch unter Nikolaus I. ist diese Herrschaftsform unangetastet, nur dass sie inzwischen in anderer Weise begründet, legitimiert wird durch eine Dreierformel, die sich aus den Begriffen Rechtgläubigkeit (prawoslawie), Selbstherrschaft (samoderschawie) und Volkstum (narodnost) zusammensetzt, durch konservative Prinzipien einer Abwehrideologie gegen die Bedrohung aus dem Westen, gegen Liberalismus und Demokratie, gegen Volkssouveränität und Parlamentarismus, gegen die Hydra der Revolution und alle Feinde der monarchischen Legitimität. Selbst russische Liberale meinten, dass Russland für den Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie (mit gewählter Volksvertretung) vor allem deshalb nicht reif sei, da sich aus der weit überwiegend analphabetischen Bevölkerung des agrarischen Landes eine tragfähige Zivilgesellschaft noch nicht herausgebildet habe. Allenfalls ein Teil des Adels mochte zu politischer Partizipation fähig sein – nur die alte Herrenklasse, nicht aber das Volk in allen seinen Ständen.
Kontinuität der Autokratie und einer Untertanenverfassung ohne Freiheit und politische Rechte – das hieß zugleich, dass Dorf und Stadt direkt oder indirekt in die Leibeigenschaftsordnung eingebunden blieben. Die Unverwüstlichkeit überkommener Ordnungen bedeutet freilich nicht, dass sich Russland in seinen sozioökonomischen und soziokulturellen Verhältnissen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert nicht verändert hätte. Im Gegenteil: Was Kontinuität der Herrschaftsform bedeutet, ist erst im Blick auf den sozialen Wandel zu erschließen.
Dabei wird, versteht sich, auch die sogenannte Europäisierung Russlands zu erörtern sein – ein Problem, das im Zeitalter des Rationalismus und der beginnenden Aufklärung eine neue Zuspitzung erfahren hat. Gemeint ist die Umbruchsphase, die seit Peter dem Großen große Dimensionen erreicht: mit dem Eintritt Russlands als Großmacht ins europäische Staatensystem und in die europäische Neuzeit ohnehin. Im Großen Nordischen Krieg (1700 – 1721) biwakieren russische Truppen in Pommern, Mecklenburg und Holstein, und die Petersburger Politik genießt nach dem Sieg über Schweden Dauerpräsenz im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Im Siebenjährigen Krieg steht zarisches Militär jahrelang in Königsberg, Immanuel Kant leistet der Kaiserin Elisabeth den Untertaneneid, und im Oktober 1760 sind die Russen als Verbündete Habsburgs gar in Berlin.
In der Zeit Nikolaus’ I. (1825 – 1855) ist die Frage Russland und Europa zu einem Schlüsselthema russischer Debatten geworden, das sich als Problem in großer Schärfe stellte: Russland und Europa, Russland und der Westen – geht es dabei um Anpassung, Imitation oder um einen Sonderweg? Solche Fragen haben seit mehr als hundertfünfzig Jahren zu den ewigen, den verfluchten Fragen russischer Selbstverständigung gehört. Als solche haben sie den Untergang des Zarenreiches wie auch den des Sowjetimperiums überdauert und reichen, wie man tagtäglich sehen kann, in unsere Gegenwart hinein.

1.2 Herrschaft, Staat, Imperium

Autokratie, samoderschawie, Selbstherrschaft, die unbeschränkte Gewalt des Herrschers, des Großfürsten und Zaren von Moskau und der ganzen Rus (seit 1547), des Kaisers als Imperator des Russländischen Reiches (seit 1721) – diese Herrschaftsform als Staatsverfassung ist ein Kontinuum russischer Geschichte seit dem 15. Jahrhundert. Sie hat eine Haltbarkeitsdauer, die erst seit der Revolution von 1905 in Zweifel steht. Manches spricht jedoch dafür, dass diese Tradition im Sowjetsystem, zumal in seiner stalinistischen Fasson, eine Fortsetzung gefunden hat und auch heute noch nicht ganz versunken ist. Im russischen Wort für Staat (gosudarstwo) ist der Herrscher (gosudar) nach wie vor enthalten, und der Ruf nach einer starken Hand, die das Chaos bannen und bezwingen soll, ist alt und erneuert sich von Zeit zu Zeit.
Imperium, der zweite Begriff von langer Dauer, meint das Russische Reich: Rossijskaja imperija, ein Vielvölkerreich, das über die Epochenbrüche hinweg mit manchen Veränderungen und territorialen Verschiebungen den Wandel der Zeiten überdauert und erst mit der Selbstauflösung der UdSSR im Dezember 1991 ein Ende gefunden hat – ein vorläufiges, wie Skeptiker mitunter meinen. Dieses Ende war ein Ergebnis des Zusammenbruchs der Zentralgewalt (des Moskauer Zentrums), bewirkt durch den Kollaps des ökonomischen Systems und seiner institutionellen und ideologischen Klammern: der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der marxistisch-leninistischen Weltanschauungslehre.
Mit dieser Behauptung wird ein Anachronismus in Kauf genommen, denn die Bezeichnung Imperium stammt in Bezug auf Russland erst aus der petrinischen Zeit. Auch der Ausdruck Rossija ist erst im 17. Jahrhundert in Umlauf gekommen, damals noch überlagert von Begriffen wie Moscowia, Moskowskoe gosudarstwo oder Moskowskoe zarstwo. Indessen hat die russische Reichsgeschichte, wie erwähnt, wenn auch nicht begrifflich, so doch faktisch bereits früher begonnen. Das Imperium (als Herrschaftsraum mit Bevölkerungen nicht nur ethnisch-russischen Charakters) entsteht, wo unsere Darstellung beginnt: in der Mitte des 16. Jahrhunderts.
Zur Entstehungsgeschichte der Herrschaftsverfassung, der Selbstherrschaft, der Autokratie ist festzuhalten, dass in der Regierungszeit Ivans IV. (1547 – 1584) die Vollgewalt des Moskauer Großfürsten und Zaren bereits außer Zweifel steht. Die Moskauer Autokratie hat sich zwischen dem 14. und der Mitte des 16. Jahrhunderts ausgebildet, in einem Prozess, der mit territorialer Expansion zusammenging, mit der kontinuierlichen Erweiterung des Herrschaftsraumes über die Grenzen des Moskauer Fürstentums hinaus. Dort hatte Iwan Kalita (Iwan I.), von den mongolischen Tributherren der Goldenen Horde unterstützt, 1328 die Großfürstenwürde an sich gezogen – in der Rivalität mit anderen Teilfürsten der Rurikidendynastie, darunter die Fürsten von Twer, Rjasan und Jaroslawl.
Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war die von den Moskauer Großfürsten ausgehende Reichsbildung, war das Sammeln der russischen Länder im Wesentlichen abgeschlossen Es waren die Inkorporation und Vereinigung jener Fürstentümer und Stadtrepubliken, die aus der Konkursmasse des altrussischen Kiewer Reiches überkommen und nicht in den Herrschaftsbereich des großen westlichen Nachbarn geraten waren: der polnisch-litauischen Adelsrepublik, der eigentlichen Großmacht des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Osteuropa. Dieses Einsammeln war durch den Großvater und den Vater Iwans IV. vollendet worden, durch Iwan III. (1462 – 1503) und Wasilij III. (1503 – 1533). Diese beiden Herrscher hatten die griechisch-orthodoxen Territorien der alten Rus als ihr Vätererbe, ihre wotschina, beansprucht. Durch Erbfolgeregelungen oder gewaltsame Unterwerfungen wurden der Moskauer Herrschaft Twer, Rjasan, Rostow, Jaroslawl und andere Fürstentümer einverleibt, dazu die mit der deutschen Hanse verbundenen Stadtrepubliken Nowgorod und Pskow.
Hinzu kam der Anspruch auf Kontinuität, auf die legitime Nachfolge der altrussischen Kiewer Rus. Er wurde in den Moskauer Chroniken unübersehbar dargetan, manifestiert durch die Kontinuität der Rurikiden-Dynastie und die Kontinuität des orthodoxen Glaubens, des oströmisch-griechisch-byzantinischen Christentums. Das christliche Russland blickt auf das Jahr 988 zurück, in dem der Kiewer Großfürst Wladimir I. (965 – 1015) die Taufe empfing und die heidnischen Götzenbilder in den Dnjepr werfen ließ.
Im Prozess der Vereinigung der Teilfürstentümer unter der Gewalt des Moskauer Großfürsten – ein Vorgang, der, wie erwähnt, im 14. Jahrhundert beginnt und in der sowjetischen Historiographie als Herausbildung des zentralistischen russischen Staates beschrieben wird – im Zuge der Sammlung der russischen Länder hat sich die Autokratie als spezifische Form moskowitischer Herrschaft überhaupt erst durchgesetzt. Herrschaft als Selbstherrschaft, samoderschawie, Autokratie – das heißt, alle Rechte, Privilegien und Immunitäten konnten nun nur aus einer Quelle kommen: aus der Gnade des Herrschers, der Gott allein verpflichtet ist. Die Macht des Großfürsten, seine Souveränität, die Freiheit von tributären Pflichten bedeutet, ruht in Gott, und keine irdische Instanz darf sie in Zweifel ziehen. Die Person des Herrschers ist jeglicher Kritik entzogen, denn kritisieren hieße, sich aufzulehnen gegen den Allerhöchsten, den dreieinigen Gott.
Entscheidend für die Durchsetzung der autokratischen Herrschaft war, dass die griechisch-orthodoxe Kirche in Gestalt des Moskauer Metropoliten die Allgewalt des Großfürsten theologisch legitimierte und den Aufstieg Moskaus dadurch erst möglich machte. Vorausgegangen war 1299 die Übersiedlung des Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus an den Großfürstensitz in Wladimir, bis dieser höchste geistliche Würdenträger sich 1328 für die Stadt Moskau entschied. Erst mehr als hundert Jahre später, infolge der Florentiner Union, wird die Autokephalie der Moskauer Kirche durchgesetzt; von da an bezieht sich der Metropolitentitel nicht mehr auf Kiew, sondern auf Moskau und die ganze Rus. Die Kirche stützt den Moskauer Großfürsten gegen seine Rivalen im Kampf um das neue Zentrum, beim Sammeln der russischen Erde, bei allen Anstrengungen, der tributären Herrschaft der Goldenen Horde zu entkommen.
Seit 1453, dem Untergang von Byzanz, ist der Moskauer Großfürst der einzige weltliche Machthaber, der den orthodoxen Glauben schützt – der einzige Protektor der heiligen Kirche, der die Funktionen des byzantinischen Kaisers womöglich übernehmen kann. Infolge des Widerstands der orientalischen Patriarchen, des ökumenischen voran, hatte die russische Kirche auf eine entsprechende Rangerhöhung jedoch noch lange zu warten. Erst 1589 wurde aus der Moskauer Metropolie ein eigenständiges Patriarchat.
Weltliche Herrschaft und rechtgläubige Kirche in Moskau sollten – und das war byzantinisches Erbe – in einem Verhältnis der Symphonie zueinander stehen. Der Moskauer Selbstherrscher war ohne die geistlichen Legitimationsinstanzen nicht zu denken, die heilige Kirche nicht ohne den Schutz und Schirm der weltlichen Gewalt. Der Unterschied zur lateinisch-christlichen Welt tritt an dieser Stelle besonders scharf hervor. In Moskau gab es keinen Dualismus zwischen regnum und sacerdotium, zwischen Reichsidee und ecclesia-Gedanken, stattdessen gab es (oder sollte es doch geben) die wechselseitige Durchdringung von Herrschaft und Glauben, die im Begriff der Symphonia aufgehoben war.
Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts tritt neben die Kontinuität der Autokratie und neben die Kontinuität weltlich-geistlicher Symphonie eine weitere Konstante russischer Geschichte: die Reichsbildung durch Expansion, die Reichsgeschichte als Expansionsgeschichte. Doch auch diese Konstante ist losgelöst von der Selbstherrschaft und ihrer theologischen Begründung nicht darstellbar. Damals begann die Machterweiterung der Moskauer Herrschaft über die Grenzen der altrussischen Teilfürstentümer hinaus: Expansion nach Osten wie nach Westen und nach Süden hin, Expansion in Territorien mit eigener Herrschafts- und Kulturtradition, eigener Sozialverfassung, eigener Konfession, eigener Sprache und ethnischer Struktur.
Andreas Kappeler hat den Vorgang der Ostexpansion das „Sammeln der Länder der Goldenen Horde“3 genannt. Gemeint sind die Herrschaftsgebiete, die Khanate und Einzelteile, in die das einst so mächtige mongolisch-tatarische Reich zerfallen war: das Reich Dschingis Khans und seiner Nachfolger, die zwischen 1237 und 1240 das Kiewer Reich überfallen, verwüstet und zweihundert Jahre unter ihrer Tributherrschaft gehalten hatten.
Die russische Expansionsbewegung beginnt mit der Unterwerfung der beiden wolga-tatarischen Khanate Kasan (1552) und Astrachan (1556). Sie erweist sich als ein lang anhaltender Prozess, der die Eroberung Sibiriens bis nach Kamtschatka einschließt und erst unter Katharina II. 1783 durch die Liquidierung des krimtatarischen Khanats abgeschlossen wird, dessen Herrscher, ein Vasall des Sultans, in Bachtschyssaraj residiert.
Zur Quintessenz dieser Eroberungen und Territorialgewinne gehört, dass seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nichtchristliche, zumal muslimische Bevölkerungen unter die Herrschaft des orthodoxen Zaren kommen, Völker und Stämme mit eigenständiger Kultur, Sprache und Konfession. Im Fortgang der Zeit wird immer deutlicher, dass dieser Vorgang der Reichsbildung durch Expansion ein Imperium mit multikonfessioneller und polyethnischer Struktur entstehen lässt. Mit anderen Worten: seit Iwan IV. beginnt sich Moskowien zu einem Vielvölkerreich zu erweitern, zu einem Imperium von kontinentalen Dimensionen, mit asiatischen Territorien, die ungleich weiträumiger sind als die, die geographisch zu Europa gehören.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt jedoch nicht nur der Vorstoß des russisch-orthodoxen Moskowien in den tatarisch-islamischen Osten und Südosten; es beginnt auch eine westliche, dem christlichen Abendland zugewandte Expansionsbewegung. Den Anstoß gaben der Krieg gegen Livland, den säkularisierten Staat des deutschen Ritterordens, und die sich anschließenden Kriege gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik und das schwedische Königreich. Dies geschieht in einer Zeit, in der weite Teile Europas, das Ordensland und Polen eingeschlossen, von der Reformation überzogen und erschüttert werden. Die Lubliner Union von 1569, d. h. die Staatenverbindung zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Brester Kirchenunion von 1596, mit der die orthodoxen Diözesen der Rzeczpospolita den Primat des Papstes anerkennen, ohne den byzantinischen Ritus in altkirchenslawischer Sprache aufzugeben.
Beide Vorgänge sind Reaktionen auf die Dauerkonfrontation, die für das Verhältnis zwischen der polnisch-katholischen Welt und dem Moskauer Zarenreich charakteristisch bleibt. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ist die russische Westbewegung...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. Erster Teil Autokratie und Imperium 1547 – 1855
  6. Zweiter Teil Zwischen Reform und Revolution 1855 – 1917
  7. Dritter Teil Russland unter kommunistischer Herrschaft 1917 – 1991
  8. Epilog
  9. Nachwort: Gesellschaft als staatliche Veranstaltung. Dietrich Geyer schreibt Geschichte (von Jörg Baberowski)
  10. Anmerkungen
  11. Ausgewählte Publikationen zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion von Dietrich Geyer
  12. Personenregister