Handbuch Zivilgesellschaft
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Handbuch Zivilgesellschaft

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Über dieses Buch

Über die Zivilgesellschaft wird in Deutschland zwar viel geforscht und auch immer wieder öffentlich debattiert. Doch bisher fehlte ein Kompendium, das den Stellenwert und die Bedeutung dieses Themas umfassend aufzeigt, den Forschungsstand abbildet und Anregungen für die weitere Beschäftigung mit der Zivilgesellschaft bietet. Auch bleiben öffentliche Debatten allzu oft an Definitionsfragen hängen und verhindern so einen weitergehenden Diskurs. Das Handbuch soll diese Lücken schließen helfen und Entscheidungsträger/-innen, Wissenschaftler/-innen, Medienvertreter/-innen, Lehrkräfte, Studierende und andere Interessierte an das Themenfeld heranführen.

In 10 Kapiteln werden traditionelle und neue Erscheinungsformen der Zivilgesellschaft einander gegenübergestellt. Als Folien dienen ein analytisches Bereichskonzept von Zivilgesellschaft, die Hirschmansche Einteilung in 'loyal, exit, voice' und die im Maecenata Institut entwickelte Funktionsdifferenzierung. In Anlehnung an das Habermassche Konzept der deliberativen Demokratie wird die politische Dimension von Zivilgesellschaft herausgestellt.

Vermittelt werden sollen Grundlagen, Strömungen, Diskurse und Verknüpfungsansätze, die das soziale Phänomen beschreiben, einordnen und theoretisch begründen. Dazu werden die maßgeblichen Autoren mit ihren Kernaussagen vorgestellt und die Diskurse und Forschungslinien beleuchtet, die die Theoriebildung und Praxisentwicklung zur Zivilgesellschaft bestimmt haben. Die Vielseitigkeit der Herangehensweise und die damit verbundene interdisziplinäre Anknüpfbarkeit bieten Chancen für vielseitige Erkenntnisgewinne

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1Historischer Zugang

1.1Ursprünge der
Zivilgesellschaftsforschung

Zivilgesellschaft ist als Begriff zwar neu, aber als Phänomen und als Forschungsgegenstand alt. Schon in der Antike, genauer seit der Zeit der großen Transformation, die Karl Jaspers beschrieben und in der Zeit des 6.—4. Jahrhunderts vor Christus festgemacht hat18, finden sich in allen Kulturen unabhängig voneinander theoretische Überlegungen und praktische Beispiele für ein freiwilliges, mehr oder weniger organisiertes und nachhaltiges Handeln zugunsten der Gemeinschaft, das sich in einer Dichotomie zur politischen Herrschaft vollzieht ebenso wie zu der Art, wie solche Gemeinschaft entsteht und wie sie ihrerseits auf ihre Mitglieder zurückwirkt. Ob mehrere Gemeinschaften parallel entstehen können, welche Loyalität sie einfordern können, ob einzelne Menschen mehreren Gemeinschaften zugehören können oder in jedem Fall zugehören, ob und inwieweit diese Macht über ihre Mitglieder ausüben und nicht zuletzt, was sie bewirken können, gehört zu den Grundfragen gemeinschaftlichen Lebens, mit denen von jeher experimentiert worden ist und mit denen sich Theoretiker der politischen Ordnung auseinandergesetzt haben. Nachfolgend wird eine Auswahl beispielhaft vorgestellt.

1.1.1Aristoteles und die antiken Wurzeln

Die Geschichte der Zivilgesellschaft als Begriff und politische Realität beginnt spätestens in der griechischen Polis. Aristoteles (384—321 v.Chr.) verwendet als erster den Begriff koinonia politike, dessen lateinische Übersetzung societas civilis später von Cicero (106—43 v.Chr.) in den Diskurs eingeführt wird und etymologisch am Anfang der Begrifflichkeit steht. Allerdings versteht Aristoteles darunter etwas grundlegend anderes als heute. In seinem Sinne umfasst der Begriff das Gemeinwesen insgesamt – ohne zwischen ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ zu unterscheiden – und charakterisiert ihn als Sammlung von Menschen, die in einer ohne Zwang zustande gekommenen politischen Ordnung vereint sind. Zivilgesellschaft beschreibt in diesem Sinne alles, was über das unmittelbar partikulare oder individuelle hinausgeht. Dieses ist Gegenstand der von Aristoteles begründeten politischen Wissenschaft, deren Blick somit nicht auf staatliches Handeln begrenzt ist. Damit ist Aristoteles zugleich der Begründer einer Definition von Zivilgesellschaft als Handlungslogik, denn seine politische Ordnungsvorstellung verfolgt das normative Ziel eines guten Lebens „unter Häusern und Geschlechtern zum Zwecke eines vollkommenen und sich selbst genügenden Daseins“19. Dazu gehören für ihn Verwandtschaftsbeziehungen, aber auch religiöse und gesellige Vereinigungen. Sie „sind das Werk der Freundschaft; denn es ist Freundschaft, wenn man sich entschließt, zusammenzuleben“20.
Aus dem Kerngedanken der Freundschaft entwickelt Aristoteles das Ziel des glücklichen und tugendhaften Lebens. Damit ist ein Konzept vorgedacht, das freiwillige Vereinigungen als konstitutives Element der gesellschaftlichen Ordnung begreift. Dieses Konzept ist zugleich Teil der Kritik an Platon (428/27—348/47 v.Chr.), der eine Gemeinsamkeit in allem und an allem postuliert hatte. Für Aristoteles hingegen ist der Staat eine Vielheit und benötigt nur ein geringes Maß an Einheitlichkeit, um hinreichend zu funktionieren. Indem Aristoteles aber auch Platons Idee der Herrschaft der Tugendhaften zurückweist, weil damit alle übrigen als ehrlos und tugendlos gelten müssten, relativiert er den normativen Ansatz seines eigenen Gesellschaftsmodells.
Das aristotelische Denken hat in Europa die politische Theorie bis ins 18. Jahrhundert hinein dominiert. Die neben der Polis bestehenden korporativen Elemente der Gesellschaft, die Aristoteles zwar gesehen, aber nicht unterschieden hat, sind so lange unstrittiger Teil einer Gesellschaft geblieben, bis der Staat – beginnend mit Jean Bodin am Ende des 16. Jahrhunderts – nicht mehr nur als dominierende, sondern alleinige Autorität konzipiert wurde. Damit war auch die Diskussion darüber eröffnet, ob es neben dem Staat und dem Privatbereich seiner Mitglieder weitere legitime Sphären der Gesellschaft geben könne.

1.1.2Adam Ferguson und die schottische Aufklärung

Im 18. Jahrhundert entwickeln sich in Europa zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen über die Gesellschaft. Vor allem in Frankreich setzt sich unter dem Einfluss von Jean Bodin21 (1530—1596) und seinen aus den Religionskriegen gewonnenen Erkenntnissen das Bild des Citoyen durch, dessen Kollektivität sich allein im nationalen Staatsverband artikuliert. Die britische Tradition hingegen führt zur Herausbildung des Konzepts der Civil Society, das vor allem von den sogenannten schottischen Aufklärern und namentlich von Adam Ferguson vertreten wird. Thomas Hobbes (1588—1679) neigt eher der in Frankreich vorherrschenden Position zu22; Adam Smith (1723—1790) dagegen legt 1759 eine „Theorie der menschlichen Gefühle“23 vor, die auf der Annahme beruht, dass jeder Mensch grundsätzlich fähig ist, Empathie für andere Menschen zu empfinden. Smith, der vor allem als Vater der Nationalökonomie im Gedächtnis geblieben ist und auf den sich gern all jene berufen, die den Menschen als ein Wesen mit ausschließlich eigennützigen Interessen begreifen, hat damit ausdrücklich die Begrenzungen einer gänzlich den Marktgesetzen gehorchenden Gesellschaft aufgezeigt.
Während Smith die in der Gesellschaft kollektiv zu leistenden Aufgaben auf Staat und Markt verteilt, entwickelt Adam Ferguson (1723—1816) in seiner 1767 erschienenen Schrift „An Essay on the History of Civil Society“24 weitergehende Fragestellungen. Er teilt mit seinen schottischen Zeitgenossen die Überzeugung, dass der Mensch als soziales und „moralisches“ Wesen geschaffen ist. Kommunikation, Austausch, gemeinsames Nachdenken sind für ihn Voraussetzungen des intellektuellen und gesellschaftlichen Fortschritts, der gerade deswegen dem menschlichen Dasein inhärent sei.
Ferguson beschäftigt sich zunächst mit den Unterschieden zwischen dem Naturzustand und der Gesellschaft. Er weist das von Hobbes entwickelte Modell eines Krieges aller gegen alle zurück und neigt eher Jean-Jacques Rousseaus (1712—1778) Idealisierungen vom Naturzustand zu. Allerdings hält Ferguson auch diese Ideen für ungenügend und argumentiert, dass beide Modelle zum einen ähnlicher sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen, und zum anderen den Kern des Problems verfehlen, weil der Mensch eben von Natur aus soziale Kontakte sucht und es somit einen vorsozialen Naturzustand gar nicht geben konnte. Die Existenz der Gesellschaft ist demnach in der menschlichen Natur angelegt.
Einen Unterschied markiert Ferguson zwischen primitiven (rude) und fortgeschrittenen (polished oder polite) Gesellschaften. In letzteren drohen besonders die Mechanismen des Marktes den sozialen Impetus zu bedrängen. Deshalb beschäftigt Ferguson das Problem, inwieweit die Herrschaft des Rechts tatsächlich in der Lage ist, die Freiheit des Menschen zu sichern. Ebenso konstatiert er, dass das Rechtssystem ständig der Gefahr der Korruption ausgesetzt ist, und zwar unabhängig davon, ob die politischen Führer gute oder schlechte Absichten verfolgen. Daraus leitet er eine unbedingte Notwendigkeit von checks and balances, einer ausgewogenen Verteilung von Macht mit Wächterfunktionen ab.
Hinsichtlich der Zivilgesellschaft ist ein weiterer Gedanke Fergusons besonders wichtig: Nüchtern stellt er fest, dass Konflikte unausweichlich sind und ein Maß an Unordnung mit sich bringen. Gerade „überlegene Geister“ sähen das als eine Gefährdung an, weshalb sie versuchen werden, Freiheiten einzuschränken oder sie den weniger Überlegenen zu verweigern. Gesellschaftlicher Fortschritt birgt insofern die Gefahr ihres Niedergangs in sich. Protestbewegungen und Demonstrationen sind, gerade weil sie nicht jedermann gefallen, ein notwendiger Teil der checks and balances. Ferguson argumentiert daher entschieden für eine Entstaatlichung von Politik. Diese ist für ihn zu wichtig, um sie den Politikern zu überlassen. Die bürgerlichen Freiheiten (civil liberties) können für ihn nur erhalten werden, wenn sich jeder Bürger als Politiker sieht, anstatt in Passivität zu verfallen.
In mancher Hinsicht nimmt Ferguson Hegels Konzept einer bürgerlichen Gesellschaft vorweg, weil er ebenfalls verschiedene Ebenen der Kollektivierung unterscheidet und beide als legitim akzeptiert. So wird sein Begriff der Civil Society auch regelmäßig falsch als „Bürgerliche Gesellschaft“ übersetzt. Doch trennt er deutlich zwischen dem Marktgeschehen und der bürgerschaftlichen Mitgestaltung und Kontrolle des Staatswesens – freilich ohne einen gesonderten Bereich für kollektive Tätigkeiten zu definieren, die weder dem Staat noch dem Markt zugeordnet werden können. Staat und Markt sind für Ferguson Funktionen der Gesamtgesellschaft, die er dann als Civil Society bezeichnet, wenn sie Grundsätzen der Freiheitserhaltung und Mitwirkung folgt. Zugleich arbeitet er bereits Funktionselemente wie Protest, Wächter oder Partizipation heraus, die auf den modernen Begriff der Zivilgesellschaft verweisen. Seine Sichtweise ist von Pragmatik bestimmt. Die gedankliche Nähe zu der von Thomas Reid (1710—1796) etwa gleichzeitig in Schottland entwickelten Theorie des gesunden Menschenverstandes (common sense) ist nicht zu übersehen.

1.1.3Georg Friedrich Wilhelm Hegel und die bürgerliche Gesellschaft

Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770—1831) unterscheidet unter anderem in seiner 1821 erschienenen Rechtsphilosophie zwischen der „bürgerlichen Gesellschaft“ und dem „Staat“.25 Er ist darin zwar nicht der erste, wohl aber für das Konzept der Zivilgesellschaft schon deshalb der folgenreichste, weil Zivilgesellschaft heute oft synonym als Bürgergesellschaft bezeichnet und im Hegelschen Verständnis von bürgerlicher Gesellschaft definiert wird.
Die bürgerliche Gesellschaft umfasst bei Hegel sowohl das Wirtschaftsleben, das „System der Bedürfnisse“, als auch die Korporationen, dazu die privatrechtliche „Rechtspflege“ und – seltsamerweise – die „Polizei“. Dieser Gesellschaft steht der „politische Staat und seine Verfassung“ gegenüber. Während das System der Bedürfnisse von einem tendenziellen „Verlust der Sittlichkeit“, von egoistischer Interessenverfolgung gekennzeichnet ist, sind die Korporationen für Hegel ein reintegrierender Faktor, der die Individuen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entlang von „Rechtschaffenheit“ und „Standesehre“ vereinigt. Da bewusst gewählt, gehören die Korporationen nicht im engeren Sinn zu jenem abstrakten und willenlosen Prozess hinter dem Rücken der Beteiligten, der das Wirken der Marktgesellschaft kennzeichnet. Legt man ein dualistisches Verständnis von Individuum und Gesellschaft zugrunde, so ordnet Hegel das wirtschaftliche Handeln der Gesellschaft zu, während Aristoteles es im Bereich des Individuellen verortet hatte. Allerdings fasst Hegel gewinnorientiertes und nicht-gewinnorientiertes kollektives Handeln unter dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zusammen und grenzt es vom hoheitlichen Handeln des Staates ab, während Aristoteles staatliches Handeln und nichtgewinnorientiertes Handeln von Korporationen als Einheit ansah und dieses vom gewinnorientierten Handeln abgrenzte.
Hegels Konzept entwirft die bürgerliche Gesellschaft als eine Zone zwischen Individuum und Staat, die drei Zugängen ausgesetzt ist: a) dem Zugang durch die Individuen über deren trans-individuelles, teils interessengebundenes, teils auf die Allgemeinheit orientiertes Verhalten; b) dem Zugang über die Kräfte des Marktes, die einerseits für die Befriedigung der Bedürfnisse Sorge tragen, andererseits aber von partikularistischen Zielen geprägt sind; und c) dem Zugang von Seiten des Staates über die in der bürgerlichen Gesellschaft wirksamen Ordnungskräfte. Dabei weist Hegel dem Staat eine übergeordnete Stellung zu, die sich nicht nur aus seinem Gewaltmonopol ergibt, sondern eine Vielzahl von Eingriffsrechten in die bürgerliche Gesellschaft beinhaltet. Dennoch behält die Gesellschaft eine eigene Legitimation und Würde, die sich besonders daraus ableitet, dass sie als „sittliche Wurzel des Staates“ gesehen wird, wobei hier offenkundig nicht das System der Bedürfnisse, sondern die Korporationen gemeint sind. Trotzdem nimmt die bürgerliche Gesellschaft in Hegels System nur einen intermediären Rang ein. Sie bleibt dem Staat stets untergeordnet, denn erst in ihm findet nach Hegel das Individuum letztlich seine Erfüllung.
Obwohl schon zu seinen Lebzeiten bspw. von Schopenhauer heftig kritisiert, hat das Hegelsche Denken eine kaum zu überschätzende Rezeptionsgeschichte erfahren; das bis heute in Deutschland bestehende Grundvertrauen in staatliches Handeln leitet sich daraus ab. Insofern vollzieht sich die Entwicklung einer positiven Theorie der Zivilgesellschaft notwendigerweise als Widerspruch gegen Hegelsches Denken.

1.1.4Alexis de Tocqueville und die bürgerlichen Assoziationen

„Es entbehrt nicht der Ironie, dass einer der kanonischen Texte der amerikanischen Demokratie von einem französischen Aristokraten verfasst wurde.“26 Bis heute gilt Alexis de Tocqueville (1805—1859) als einer der wesentlichen Theoretiker der Zivilgesellschaft. Mehr noch: Die US-amerikanische Gesellschaftstheorie ist ohne Tocqueville nicht denkbar; kein gesellschaftspolitischer Diskurs in den USA kommt ohne einen Verweis auf sein Werk „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/40) aus.27 Besonders im 20. Jahrhundert gründet sich Tocquevilles Ruhm weitgehend auf seine als zutreffend geltenden Prognosen zur Entwicklung der amerikanischen Demokratie hin zu immer mehr Gleichheit der Bürger sowie zur Bedeutung der USA in der Welt. In ihrer Verknüpfung erscheinen diese Prognosen geradezu als prophetisch. Einige moderne Sozialwissenschaftler, etwa Robert Putnam (*1941), lassen sich schon deshalb gern als Neo-Tocquevillians bezeichnen. Tocquevilles Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft und das moderne Konzept der Zivilgesellschaft kann daher kaum überschätzt werden. Dabei beruht seine Analyse weniger auf einer bewussten Prüfung gesellschaftlicher Modelle, sondern auf scharfsinnigen Beobachtungen im Verlauf einer Reise.
Als französischem, der Aristokratie entstammendem Staatsbeamten ist ihm ein im Staatsrecht verankertes Gesellschaftsmodell geläufig, in dem nicht-staatliche Vereinigungen und Institutionen Misstrauen erregen und als unwichtig für die gesellschaftliche Entwicklung angesehen werden. Allerdings sieht die Realität in Frankreich oft anders aus als in der Staatstheorie, die Tocqueville vor Augen hat. Mit Erstaunen und keineswegs unkritisch, ja vielfach ausgesprochen skeptisch, beobachtet er, wie sich die ausdrücklich auf demokratischen Grundsätzen aufbauende Gesellschaft der Vereinigten Staaten tatsächlich entwickelt. Ihn als Kronzeugen der Vorzüge der amerikanischen Gesellschaft anzurufen, wie es gerade Amerikaner oft tun, erscheint daher übertrieben. Allerdings beschreibt er zutreffend das Wesen der amerikanischen Gesellschaft im 19. Ja...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Dank
  5. Inhalt
  6. Einführung
  7. 1 Historischer Zugang
  8. 2 US-Amerikanisch dominierte Civil Society Diskurse
  9. 3 Europäische Zivilgesellschaftsdiskurse
  10. 4 Empirische Zivilgesellschaftsforschung
  11. 5 Die Makro Perspektive: Zivilgesellschaft, Staat und Markt
  12. 6 Die Meso Perspektive: Zivilgesellschaftliche Organisationen
  13. 7 Die Mikro-Perspektive: Bürgerschaftliches Engagement
  14. 8 Der Beitrag der Zivilgesellschaft
  15. 9 Internationale Zivilgesellschaft
  16. 10 Aktuelle Debatten
  17. Nachwort
  18. Bibliographie