Soziales Leiden
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Soziales Leiden

Zur zweiten Natur unserer Freiheit

  1. 262 Seiten
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Soziales Leiden

Zur zweiten Natur unserer Freiheit

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Über dieses Buch

Heute bleibt die Vorstellung von "sozialem Leiden" als Indiz der gesellschaftlich erzwungenen Unfreiheit begrifflich und normativ oft konturlos. Aus diesem Grund analysiert Sembler den Begriff mit Bezug auf die Grundprämissen der Kritischen Theorie. Er entwickelt die These, dass es sich für diese Tradition nicht nur darum handelt, soziale Leidenserfahrungen zu kritisieren, sondern gleichzeitig in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst auch die potenziell emanzipatorischen, zur Leidensabschaffung beitragenden Kräfte ausfindig zu machen. Er zeigt anhand einer Diskussion materialistischer sowie anerkennungstheoretischer Leidenskritik, dass sich diese These auf die sozialontologische Prämisse Hegels zurückführen lässt, derzufolge die Struktur von sozialen Lebensformen als eine freiheitsermöglichende zweite Natur beschrieben werden kann. Somit lässt sich für heute Debatten die wichtige Schlussfolgerung ziehen, dass in soziale Leidenserfahrungen nicht weniger als die Freiheit von Subjekten auf dem Spiel steht.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110678307

1 Einleitung

In vielfältigen gesellschaftstheoretischen Debatten und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen spielt gegenwärtig der Begriff „soziales Leiden“ eine bedeutende Rolle.1 In der Kulturanthropologie spricht man beispielsweise von „sozialen Leiden“ insbesondere mit dem Ziel, die subjektiven Auswirkungen von gravierenden sozialen Notständen (extreme Armut, Hungersnot) sowie traumatisierenden Gewalterfahrungen (Krieg, Folter) zur Darstellung zu bringen.2 In ähnlicher Weise wird in der medizinischen Anthropologie die Idee von sozialem Leiden in Bezug auf die Frage verwendet, inwiefern und wie kulturelle Bedingungen die Wahrnehmung von Krankheiten und Leidenszuständen prägen und das Selbstverständnis der Betroffenen bestimmen können.3 Ein letzter einflussreicher Anwendungsbereich ist im Zusammenhang soziologischer und sozialpsychologischer Studien zu sehen möglich, in denen von „sozialem Leiden“ vor allem gesprochen wird, um die subjektiv belastenden Folgen von jüngsten gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozessen und neuen sozialen Organisationsformen, beispielsweise innerhalb der Arbeitswelt, zum Vorschein zu bringen.4
In all diesen exemplarischen Fällen lässt sich letztendlich die gemeinsame Überzeugung erkennen, dass die Idee von sozialem Leiden, sofern für den Leidensbegriff eben der Hinweis auf eine subjektive Dimension konstitutiv ist, die wesentliche Möglichkeit enthält, die unsichtbaren oder sehr häufig nur diffusen subjektiven Konsequenzen von gesellschaftlichen Zuständen – insbesondere von Phänomenen sozialer Ungerechtigkeit und Herrschaftsverhältnissen – zu erschließen. Dieser Absicht entsprechend wird in diesem Zusammenhang allerdings häufig auf die Schwierigkeit hingewiesen, eine allgemeine Ätiologie sozialen Leidens feststellen zu können; infolgedessen hat hier zunehmend die Ansicht an Bedeutung gewonnen, dass Leidenszustände aufgrund ihres geprägten subjektiven Erfahrungsgehalts vor allem aus der Perspektive der Betroffenen gedeutet und deshalb je nach kulturellen Kontexten auf spezifische Weise erkundet werden müssen.5
Aufgrund dieses erfahrungsbezogenen Bedeutungsgehalts des Begriffs „soziales Leiden“ ist andererseits nicht überraschend, dass dieser Begriff in letzter Zeit auch im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der Sozial- und politischen Philosophie herangezogen worden ist, um die Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie auf einer erweiterten Grundlage zu reflektieren.6 Statt einseitiger Konzentration auf normative Grundsätze und institutionelle Arrangements, wie dies sowohl für gegenwärtige liberale sowie prozeduralistische Gerechtigkeitskonzeptionen charakteristisch sei, würde die Kategorie eines sozialen Leidens die Möglichkeit eröffnen, die konkreten negativen Erfahrungen von Gesellschaftsmitgliedern in der Behandlung von Gerechtigkeitsfragen ernster zu nehmen, sofern mit ihm auch jene subjektiv belastenden Sozialphänomene, die von der etablierten Öffentlichkeit und politischer Sprache ausgeschlossen sind, thematisiert – wenn nicht sogar erst wahrgenommen – werden.7
Eben aus diesem Grund steht vor allem die Frage, welche gesellschaftlichen Mechanismen jene erzwungene soziale Unsichtbarkeit von Leidensformen erklären können und wie diesen potenziell entgegenzuwirken wäre, im Mittelpunkt dieser gegenwärtigen sozialphilosophischen Versuche.8 Die Gesellschaftskritik wird dementsprechend mit der Aufgabe beauftragt, diese naturalisierenden Effekte von sozialen Institutionen und kulturellen Deutungsmuster in dem Maße zu entschärfen, wie sie die Funktion eines „Wortführers“ von verdrängten oder verdeckten Leidenserfahrungen übernimmt.9 Wird in diesen Aushandlungen insofern die machtgeprägte, politische Dimension von Leidenserfahrungen stark hervorgehoben, so ist es jedoch nicht ungewöhnlich, dass dies unter gleichzeitiger Vernachlässigung des deskriptiven, ätiologischen Sinns des Begriffs „sozialen Leidens“ stattfindet: Ob und inwiefern es tatsächlich angemessen ist, eine soziale Ungerechtigkeit oder ein Herrschaftsverhältnis als Entstehungsbedingung einer sozial verursachten Leidenserfahrung aufzufassen, bleibt in diesen Auseinandersetzungen häufig ungeklärt oder nur angedeutet.
Ausgehend von diesen gegenwärtigen Diskussionen möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, den Begriff „soziales Leiden“ im begrifflichen Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie herauszuarbeiten und zu präzisieren. Anhand einer systematischen Rekonstruktion möchte ich schrittweise beweisen, dass für die Denktradition der Kritischen Theorie jene beiden heutzutage erörterten Verwendungen des Leidensbegriffs ständig von besonderer Bedeutung gewesen sind und sich als wesentliche Aufgaben einer innerhalb ihres kategorialen Rahmens verfahrenden sozialphilosophischen Leidenskritik verstehen lassen. Denn ein wesentliches Ziel der Kritischen Theorie kann in der Tat mit dem Versuch identifiziert werden, auch freiheitseinschränkende subjektive Erfahrungen, die unter der Wahrnehmungsschwelle einer gegebenen Gesellschaftsform liegen (und manchmal sogar für die Betroffene selbst unauffällig bleiben können), zu erschließen und in diesem Versuch gleichzeitig die Bedingungen aufzuklären, die potenziell zu deren Abschaffung – das heißt zur sozialen Emanzipation – führen könnten. Eine gesellschaftstheoretische Ätiologie von sozialen Leidenserfahrungen sowie eine Kritik an ihrer möglichen Naturalisierung lassen sich insofern – so möchte ich im Folgenden argumentieren – als zentrale Fragestellungen einer im kategorialen Rahmen Kritischer Theorie situierten sozialphilosophischen Leidenskritik annehmen.
Im Zusammenhang mit einer gesellschaftstheoretischen Ätiologie sozialen Leidens stellt sich nämlich zunächst jene Frage, die mit Freud als der Gegenstand einer Kulturkritik aufgefasst werden kann – das heißt, welche jene Leidenserfahrungen sind, die auf die Wirkung von gesellschaftlichen Einrichtungen zurückzuführen und deshalb als unnötig oder vermeidbar anzusehen sind.10 Diese Feststellung von „sozialen Leidensquellen“ (Freud) setzt deshalb die Ausarbeitung eines Maßstabs voraus, anhand dessen sich unter den sehr vielfältigen, möglicherweise individuelles Leiden auslösenden Phänomenen menschlichen Lebens eben diejenigen Erfahrungen unterscheiden lassen, die als sozial verursacht und daher berechtigterweise als überflüssig verstanden werden können. Neben diesem deskriptiven, ätiologischen Ziel lässt sich die Kritische Theorie – wie gesagt – gleichzeitig von der emanzipatorischen Absicht leiten, die machtgeprägte Aufrechterhaltung von unnötigen Leidensformen zu kritisieren und in der sozialen Wirklichkeit selbst jene praktischen Interessen oder Kräfte zu identifizieren, die eine Abschaffung von überflüssigen Leidenserfahrungen ermöglichen können.
Den Schlüssel für die Beantwortung dieser beiden Fragen – die ätiologische und die emanzipationstheoretische Fragestellung einer sozialphilosophischen Leidenskritik – findet die Kritische Theorie unter verschiedenen Bedingungen stets – so die leitende These der vorliegenden Arbeit – in jener auf Hegel zurückgehenden sozialontologischen Prämisse, derzufolge die Struktur von sozialen Lebensformen als eine zweite Natur beschrieben werden muss. Denn mit dem Begriff „zweite Natur“ wird im Wesentlichen unterstellt, wie Hegel in Bezug auf die Entwicklung des subjektiven Geistes ausführt, dass die Subjekte notwendigerweise einen Bildungsprozess, eine geistige Aufhebung von zunächst bloß naturgegebenen Begierden und Neigungen durchführen müssen, um überhaupt erst zur individuellen Freiheit gelangen zu können.11 Eine solche individuelle Befreiung aus Naturbestimmungen kann aber nur stattfinden, so macht Hegel mit Bezug auf die Strukturen des objektiven Geistes klar, indem die Subjekte an institutionellen Zusammenhängen teilnehmen, bei denen sie ihre innere Natur nach sittlichen Gründen – nach der „Form der Allgemeinheit“ – umformen und damit ihre subjektive Willkür hinsichtlich der Erwerbung einer vernünftigeren, wirklichen Freiheit ausbilden können.12
Für eine auf dieser Grundprämisse begründete Ätiologie eröffnet sich deshalb die Möglichkeit, so möchte ich zeigen, soziale Leidenserfahrungen an den historisch sich wandelnden Erfordernissen von zur Freiheit befähigenden Bildungsprozessen der zweiten Natur sozialer Welt zu bemessen: In der Struktur sozialer Lebensformen können immer – so nimmt die Kritische Theorie an – nötige, freiheitsbildenden Beschränkungen menschlicher Willkür von unnötigen, ausschließlich auf die Unzulänglichkeiten von gesellschaftlichen Einrichtungen zurückzuführenden Einschränkungen unterschieden werden, die sich deshalb im Sinne eines sozial induzierten Freiheitsverlusts interpretieren lassen. Dieser Freiheitsverlust kann zusätzlich als ein Leidenszustand in dem Maße verstanden werden, so nimmt die Kritische Theorie weiter an, wie daraus zwingend subjektive Beeinträchtigungen hervorgehen müssen: Immer wenn aufgrund gesellschaftlicher Ursachen die Einzelnen eine in der zweiten Natur von sozialen Lebensformen schon verfügbaren Freiheitsmöglichkeit nur defizitär verwirklichen können, ergibt sich daraus eine Beschädigung von wesentlichen subjektiven Fähigkeiten, das heißt eine Erfahrung sozialen Leids. Die ätiologische Frage einer sozialphilosophischen Leidenskritik besteht daher darin, welche gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse in modernen kapitalistischen Gesellschaften die Verursachung von überflüssigen, sozialen Leidenserfahrungen erklären können sowie welche subjektiven Fähigkeiten (beispielsweise Ich-Kräfte, Interaktionsfähigkeiten usw.) dadurch beschädigt werden. Soziale Leidenserfahrungen werden insofern von der Kritischen Theorie, so ist im Folgenden ausführlich zu erklären, weder rein anthropologisch noch je nach besonderen kulturellen Kontexten auf eine ganz spezifische Weise interpretiert; vielmehr handelt es sich immer um sozial verursachte Freiheitseinschränkungen, die nur mit Bezug auf die innerhalb der zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen bereits verfügbaren Autonomiechancen aufzufassen möglich sind. Soziales Leiden ist daher – kurz gesagt – nicht einfach gesellschaftlich bedingtes Leid, sondern immer in Bezug auf die in der sozialen Welt historisch gegebenen Freiheitsmöglichkeiten als sinnlos sich herausstellendes Leiden.13
Der Begriff „zweite Natur“ besitzt aber bekanntermaßen in der Tradition kritischer Gesellschaftstheorie gleichzeitig eine negative Bedeutung: Mit ihm wird jene Umwandlung des Geschichtlichen in bloße Natur, das heißt die Naturwüchsigkeit von historisch herausgebildeten, durch menschliches Handeln geschaffenen Praxiszusammenhängen bezeichnet.14 Ein solches kritisches Verständnis der zweiten Natur wird jedoch erst durch die soeben angesprochene sozialontologische Vorstellung ermöglicht, derzufolge die soziale Welt eine kollektiv hervorgebrachte und geschichtlich herausgebildete Sphäre darstellt, in der menschliche Wesen ihre Freiheit überhaupt erst ausbilden und verwirklichen können; denn ohne diesen zugrunde liegenden positiven Begriff zweiter Natur wäre die Kritik an der Verselbstständigung von Sinnzusammenhängen eher nur an eine individualistische Konzeption menschlicher Freiheit gebunden.15 Dieser Auffassung liegt letzten Endes auch Hegels Verständnis zugrunde, demzufolge der Unterschied zwischen bloßer Natur und sittlichen Verhältnissen nicht auf rein ontologische Gegebenheiten zurückgeführt, sondern als eine immer im historischen Vollzug sozialer Praktiken vollzogene Bestimmung, das heißt als eine immer bereits innerhalb der zweiten Natur sozialer Lebensformen ausgehandelte Grenzziehung verstanden werden muss.16 Mit diesem negativen Verständnis der zweiten Natur eröffnet sich für die Kritische Theorie deshalb die Möglich...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. 1 Einleitung
  5. Teil 1 Kritische Theorie als Leidenskritik Grundzüge einer materialistischen Leidenskritik
  6. Teil 2 Die zweite Natur sozialer Freiheit Zur Idee einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik
  7. Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden
  8. Literaturverzeichnis
  9. Personenregister
  10. Stichwortverzeichnis