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Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« - oder: Ist das Theater überfordert?

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Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« - oder: Ist das Theater überfordert?

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Über dieses Buch

Die Deutschen erwarten von ihrem Theater mehr, als nur unterhalten zu werden. Das vermutete nicht nur der junge Brecht, auch Lessing verband seine Absicht, in Hamburg ein Nationaltheater zu gründen, mit der Hoffnung, dass die Deutschen einmal nicht nur eine Nation sein würden, sondern eine »Kulturnation«. Er war überzeugt, dass dabei das Theater eine zentrale, unterstützende Rolle spielen würde. Ist diese hohe Erwartung, die hierzulande mit dem Theater verbunden wird, das Deutsche am deutschen Theater? Längst nimmt die Institution in Deutschland eine exzeptionelle Stellung im kulturellen Gefüge ein. Aber: Ist das Theater damit überfordert? Will - und kann - es mehr sein als »Abendunterhaltung«?Ein kritischer Blick auf eine deutsche Kulturinstitution.

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Information

Nationaltheater ohne Nation – Nation ohne Staat
Über das zwangsläufige Scheitern eines Projekts des aufgeklärten deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert


Das Bürgertum war in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die führende Schicht in Kultur und Bildung, mit dem Durchbruch der industriellen Revolution gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es dies auch im Bereich der Ökonomie. Diese Sphären betrachtete das deutsche Bürgertum als die ihm zustehenden Bereiche gesellschaftlichen Handelns, nicht aber die Sphäre des Politischen. Lange noch blieb der Nationalstaat nur das Sehnsuchtsprojekt deutscher Patrioten. Es bildete sich auch »schon früh eine Neigung heraus, die eigenen Ziele statt durch Eroberung der politischen Macht durch ideologische Bekehrung der herrschenden Machthaber durchzusetzen«. Der aufgeklärte Monarch schien der ideale Lenker des Gemeinwesens zu sein. Für das deutsche Bürgertum war die Forderung nach Reformen stets das angemessenere Mittel, sich in der Sphäre des Politischen zu engagieren, statt der offen erhobenen Forderung nach Freiheit. Diese nämlich hätte Umsturz und Revolution bedeutet. (Vgl. W. Sauer 1970, 418) So ist auch für Lessing das Theater zwar eine unpolitische, im Idealfall jedoch eine nationale Institution, die zur kulturellen Identität der Deutschen beiträgt.
Erreichbar zu sein, schien Lessing dies durch die Besinnung auf »Eigenes«. Im Zusammenhang mit der Forderung nach einem deutschen Nationaltheater meinte »Eigenes« vor allem ein Theater »ohne die Franzosen«, allein mit »Eigenem«: mit einem Repertoire deutscher »Originalstücke«, dargeboten von deutschen Schauspieltruppen, selbstverständlich in deutscher Sprache; – letztlich also ein Theater, das sich weitgehend abschottet von Einflüssen, die dem Deutschen »wesensfremd« sind. Unter den Gegebenheiten der Zeit hieß das: sich abzuschotten gegenüber der Dominanz des französischen Klassizismus. Nur ein auf dem – so verstandenen – »Eigenen« beruhendes Theater wäre dann eben auch eine Institution, die nationale Identität verbürgt. Deswegen wurde Lessing nicht müde, die vermeintliche Dominanz der Franzosen auf dem Gebiet des Ästhetischen anzuprangern.
Ein Blick zurück in die Geschichte! Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts unterschied sich Theater in Deutschland kaum vom Theater in anderen europäischen Ländern, vor allem auch nicht hinsichtlich der Bedeutung, die dem Theater in der Gesellschaft eingeräumt wurde. Im Mittelalter stand Theater, wo immer es stattfand, unter der Aufsicht der römischen Kirche, der Magistrate der Städte oder der Handwerkergilden. Es war Laientheater und gliederte das Jahr nach religiösen oder profanen Festen. Diese gaben die Inhalte, die institutionellen Gegebenheiten und meist auch die szenische Form vor; Konventionen zwar, die aber offen waren für Neuerungen. Auf den Jahrmärkten machten die Spielleute allerorts dieselben Spässe und zeigten ihre Kunststücke zum Vergnügen des einfachen Volks, streng bewacht von der örtlichen Obrigkeit. Mancherorts war dies allerdings eine durchaus subversive Sphäre. Im Spielbetrieb des 16. Jahrhunderts – ob es reformierte bürgerliche Theatervereine waren oder die Jesuiten, die Speerspitze der katholischen Gegenreformation – überall in Europa bekämpfte jede Partei – nicht nur in einem beispiellosen »Krieg der Bilder« – ihre Gegner in den Religionsstreitigkeiten mit der gleichen Schärfe. Stets ging es um dieselben Themen, mal mehr oder weniger grell in Szene gesetzt, in der Sprache der Region oder in Latein; aber immer auch zum Vergnügen des eigenen Lagers. Auch das Theater an den deutschen Residenzen unterschied sich kaum von dem anderer Länder, allenfalls im finanziellen Aufwand, den sich der jeweilige Souverän leisten konnte. Das höfische Theater, das nie auf Literarisches festgelegt war, diente in allen seinen Spielarten in ganz Europa der Repräsentation und dem Divertissement der Hofgesellschaft. Von wenigen regionalen oder lokalen Besonderheiten abgesehen, wurden nahezu dieselben Stücke, Singspiele, Ballette oder die kunstvoll choreographierten Feuerwerke aufgeführt. Schauspieler, Sänger und Musikanten, Tänzer, Theaterarchitekten, Bühnenbildner, Bühnentechniker und Feuerwerker zogen von Engagement zu Engagement, von Land zu Land im Dienste der Fürsten, gelegentlich auch der Städte. Im 17. und lange noch im 18. Jahrhundert hinterliessen englische und französische Wandertruppen, nicht zu reden von der italienischen Commedia dell’arte, Spuren im Theaterbetrieb nahezu aller europäischen Länder und trugen nicht selten zur Professionalisierung von deren »einheimischen« Schauspielern bei. In mehr oder weniger verballhornten Fassungen führten sie Stücke von Shakespeare oder Molière in ganz Europa auf. Das Theater an den Schulen hatte allerorts den selben Zweck: die Erziehung der Schüler – zumeist gehörten diese dem Bürgertum an – zu redegewandten (auch in Latein), im Umgang mit den Oberen auftrittssicheren und staatstreuen Untertanen.
In diesem Zeitraum wurden nahezu alle Länder Europas autoritär regiert. Die Gesellschaften waren in Ständen hierarchisch gegliedert, von denen manche mit weitreichenden Privilegien ausgestattet waren, mit einer souverän herrschenden Institution an der Spitze, einem König oder einem Fürsten. Der Feudalismus, später der Absolutismus waren – kaum umstritten – die politischen und wirtschaftlich-sozialen Organisationsprinzipien der Gesellschaften. Diese Strukturen prägten auch den Theaterbetrieb. Dies betraf die Lizenzvergabe für das Theatergewerbe und die lokalen Auftritte der Theatertruppen. Die Schauspielerei war ein Wandergewerbe und kannte Jahrhunderte lang keine längerfristigen festen Standorte. In Italien gab es neben der Oper bis ins mittlere 20. Jahrhundert für das Schauspiel kein »teatro stabile«. Giorgio Strehlers Mailänder »Piccolo« war das erste wirklich ständige Stadttheater in Italien. Ein Prinzipal, der oft auch der Erste Schauspieler war, stand als unternehmerisch verantwortlicher Anführer an der Spitze seiner Truppe. Was auf der Bühne gezeigt wurde, war der Zensur unterworfen, hatte aber auch den Vorlieben derer zu entsprechen, die die Schauspieltruppen bezahlten. In der Regel finanzierte der Souverän die Schauspieler, Musikanten und Tänzer an seiner Residenz, damit dort ein angemessener Unterhaltungsbetrieb sicher gestellt war. Gelegentlich – nicht nur bei den »masques« am Londoner Hofe – beteiligte sich auch die Hofgesellschaft aktiv an den theatralischen Darbietungen. Ludwig XIV. soll ein vorzüglicher Tänzer gewesen sein. Berühmt war sein Auftritt im Kostüm des Apollon als »Sonnenkönig«. In England übernahmen hohe Aristokraten das Patronat von jeweils einer Theatertruppe, die sich dann nach ihrem Patron nennen durfte: »Lord Chamberlain’s Men« oder »Lord Admiral’s Men«. »Men« hieß es wohl auch deswegen, weil im elisabethanischen England nur Männer auf öffentlichen Bühnen auftreten durften. Auch Shakespeares berühmten Frauenrollen – Ophelia etwa, Desdemona oder Julia – wurden von jungen Männern gespielt. Auch als Bauherrn engagierten sich die Fürsten, zumal wenn es um Theatersäle in ihren Residenzen ging, und auch später noch, als die Theater zunehmend als selbständige Gebäude im engeren Bereich der Höfe errichtet wurden. Außenpolitische, seltener aber kulturpolitische Ambitionen der absolutistischen Theaterherren hatten immer wieder gravierende Folgen für den Theaterbetrieb am Hofe. Schauspieltruppen, die aus Ländern kamen, die plötzlich als Feindstaaten galten, wurden entlassen. Truppen aus befreundeten Ländern dafür engagiert. Der Wechsel in der Regentschaft hatte nicht selten auch einen Wechsel der Vorlieben des neuen Souveräns zur Folge. Das Engagement »einheimischer« Bühnenkünstler war gelegentlich aber auch eine kulturpolitische Kurskorrektur.
Professionelle Schauspieler waren allerdings weitgehend rechtlos. Ihrem sozialen Status nach galten sie noch bis ins 18. Jahrhundert gewissermaßen als Vagabunden. In Spanien hielt man sie für »unpassende Werkzeuge«, um die heiligen Mysterien darzustellen. Mit dieser Begründung wurden im 18. Jahrhundert die Autos sacramentales verboten, jene für Spanien so typischen, religiösen Umzugsspiele zur Verherrlichung der Eucharistie. Im religiösen Spielbetrieb des Mittelalters waren ausschließlich männliche Laiendarsteller geduldet. Spielleute, Tänzer und Gaukler, wurden – so in den Kapitellen mancher Kathedralen – tanzenden, sich widernatürlich verrenkenden Teufeln gleich dargestellt. Geld- und Prügelstrafen waren im Umgang mit Schauspielern noch im 19. Jahrhundert gang und gäbe. In ihrer Höhe waren derartige Sanktionen vielfach durch Theatergesetze geregelt, um die Schauspieler zu Disziplin und Ordnung anzuhalten. In keinem anderen Kunstbereich waren die Menschen, die diese Kunst professionell ausübten, in vergleichbarer Weise diskriminiert. Noch um 1900 schien die vielfach erzwungene Prostitution von Schauspielerinnen ein nicht sonderlich bemerkenswerter Befund zu sein; gehörte dies doch zur Charakterisierung dieser ohnehin als unbürgerlich geltenden Lebenssphäre. Offenbar prägte das Verdikt der römischen Kirche, die das Schauspielergewerbe am Ende der Antike insgesamt geächtet hatte, noch Jahrhunderte lang den Umgang mit dem Theater in Europa, – gänzlich anders als in den ostasiatischen Theaterkulturen. Offenbar war die Einschätzung dieser sinnlichsten, deswegen wohl auch am meisten angefochtensten aller Künste – die der Kirchenlehrer Augustinus in seinen Confessiones einen »wundersamen Wahnsinn« nannte – lange hin ein Problem aus der Sicht der christlichen Morallehre. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden Schauspieler »hoffähig«, soweit sie der Truppe eines prominenten Prinzipals angehörten. Dass einzelne Berufsschauspieler, zumal wenn sie als Autoren eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten, Shakespeare und Molière sind in diesem Zusammenhang viel zitierte Beispiele, auch ein gewisses Ansehen in der Öffentlichkeit genossen, waren Ausnahmen. Beim Tode Calderòns 1681 in Madrid oder beim Tode Ifflands 1814 in Berlin gingen Tausende zu deren Begräbnisfeierlichkeiten auf die Straße. Dennoch haftete der Verehrung einzelner Schauspieler, vor allem auch der Schauspielerinnen, aus bürgerlicher Sicht stets ein ambivalenter, von einem gewissen Exotismus nicht ganz freier Zug an, – zumal im exorbitanten Starkult des 19. Jahrhunderts.
Theater war stets ein Gewerbe besonderer Art und ist dies noch heute, – nicht nur durch quasi-feudalistische Relikte in der Hierarchie dieses Arbeitsplatzes, sondern auch dadurch, dass etwa für Berufsanfänger im künstlerischen Bereich der Mindestlohn deutlich unter dem gesetzlich vorgeschriebenem Mindestlohn in anderen Berufssparten liegt. »Mitbestimmung« war in den 1970er Jahren eine revolutionäre Forderung am Theater, von der nach diesem turbulenten Jahrzehnt keine Rede mehr ist. Dennoch ist es ein Gewerbe, das letztlich den Zweck hat – wie jede Tätigkeit in anderen Bereichen der Kunst auch – damit Geld zu verdienen. Im Theater scheint dieser Sachverhalt belastet zu sein von der Erwartung, dass mit dem Theater, dem »ernsthaften«, auch »höhere Ziele« verfolgt werden. Eine derartige Erwartung scheint offenbar weder gegenüber der Opernszene und schon gar nicht gegenüber dem Film oder dem Fernsehen zu existieren. Die mitunter exorbitanten Gagen, die Schauspieler oder ihre Agenten in diesen Bereichen aushandeln, scheinen mit deren Image durchaus vereinbar zu sein. Tendenziell aber ist dies nur schwer vereinbar mit der Ensemblestruktur im deutschen Theater.
Gegenüber dem feudalen oder dem absolutistischen Organisationsprinzip des Staats war die Idee der Nation, später gleichbedeutend mit der Verfassung des Staats als Republik, der fortschrittliche Gegenbegriff schlechthin, – eine politische Idee der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Dies hatte letztlich zur Folge, dass gegen Ende dieses Jahrhunderts die grossen Revolutionsbewegungen einsetzten, um diese Idee zu verwirklichen. Ihre »Ursprünge lagen in den angelsächsischen Staaten und in Frankreich. Deutschland, ähnlich wie Italien, [wurden davon] erst sekundär ergriffen«. (W. Sauer 1970, 415) Die Forderung nach »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« hatte sich die Französische Revolution in ihrer Anfangszeit auf die Fahnen geschrieben. Es waren Kernbegriffe einer republikanischen Staatsverfassung, konträr gegenüber einer ständisch und hierarchisch verfassten, autoritär regierten Gesellschaft. Der Begriff der Nation war um 1800 ein Begriff des politischen Denkens weiter Kreise der Bürger in einigen großen westeuropäischen Gesellschaften, zumeist war dieser Begriff verbunden mit der Forderung nach einem republikanisch verfassten Einheitsstaat.
In Deutschland aber gingen die bürgerlichen Theaterreformer Ende des 18. Jahrhunderts einen anderen Weg, einen unpolitischen, den Weg in eine Kultur der Innerlichkeit. Auch Lessing schlug diesen Weg ein, ebenso die durchaus patriotisch gestimmte Bewegung der Empfindsamkeit der Kreise um Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) und Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803). Letztlich ging auch Friedrich Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1797) diesen Weg. Damit war eine klare Trennung zwischen Politik und Kunst hergestellt. Bürgerliche Kreise, die einer republikanischen Idee anhingen und diese auch in der Öffentlichkeit – trotz Zensur – offensiv vertraten, gab es in der Publizistik sehr wohl, nur hatten diese Stimmen zu dieser Zeit keine Chance, auf das politische Geschehen Einfluss zu nehmen oder deren Autoren wurden in Haft gesetzt. Die Festung Hohenasperg in Württemberg kam dadurch zu einer fragwürdigen Berühmtheit.
Lessing hatte trotz aller Kritik am Feudalstaat die Forderung nach Freiheit ins Moralische gewendet. Schiller, der in seinen frühen Stücken dem Hass auf die Feudalherren noch freien Lauf ließ, stellte später zwischen dem Ästhetischen – den »Erzeugnissen der Einbildungskraft« – und der politischen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen eine unüberbrückbare Distanz her. Gleiches gilt für Goethe in seiner Weimarer Zeit. Damit aber waren für das deutsche Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts verbindliche Positionen bezogen und sie waren durch das Wort der Weimarer Klassiker legitimiert. Es war dies eine Sichtweise, die noch bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts, in der sogenannten »Tendenzdebatte« (vgl. M. Brauneck 1974, 176 f), nachwirkte.
In Deutschland war die Forderung nach einem Nationaltheater die Erfindung einer aufgeklärten bürgerlichen Bildungselite, die im Theater Anderes sehen wollte als die feudalen Theaterherren, »Eigenes« vor allem; Anderes aber auch als das »gemeine Volk«, das sich in erster Linie amüsieren wollte, wenn es ins Theater ging. Auch Friedrich Schiller (1759-1805) ging in seiner berühmten Rede Vom Wirken der Schaubühne auf das Volk am 26. Juni 1784 vor der »Kurfürstlichen deutschen Gesellschaft« in Mannheim von der politischen Abstinenz des deutschen Bürgertums als einer selbstverständlichen Gegebenheit aus, spricht aber auch mit dem rhetorischen Pathos einer bildungs-aristokratischen bürgerlichen Elite. »Die Schaubühne« sei, so Schiller in dieser Rede, »der gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden bessern Theile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt, und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.« Und, so heißt es weiter, die »Schaubühne« sollte nicht nur »Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung« verbinden, sondern auch helfen, der »weltlichen Gerichtsbarkeit« Geltung zu verschaffen. Wenn die Obrigkeit versagt: »[…] übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl«. Trotz des revolutionär anmutenden Tons dieser Rede wird darin der absolutistische Obrigkeitsstaat an keiner Stelle in Frage gestellt. Schiller hätte dies in seiner damaligen Situation wohl auch nicht wagen können. Dennoch wurde in dieser Rede der Anspruch in der griffigen Formel von der »moralischen Anstalt« festgeschrieben: dass die »Schaubühne« nicht nur den Oberen sondern der Gesellschaft insgesamt den Spiegel vorhält und jeden Einzelnen an seine moralischen Pflichten erinnert. So hat »die gesamte geistige Bewegung des deutschen 18. Jahrhunderts […] beinahe ausschließlich die Erziehung des individuellen Menschen zum Ziele gehabt und ihr alle politischen Forderungen untergeordnet […] Gedankenfreiheit wurde […] als absolut notwendig empfunden, während gesellschaftliche und politische Rechte als vielleicht wünschenswert, aber doch erst in zweiter Linie als nötig betrachtet wurden […] Dem Absolutismus tief verhaftet, träumte das deutsche Bürgertum keine Revolutionsträume, sondern begnügte sich, die Reform, nicht aber die Abschaffung des Obrigkeitsstaats zu betreiben.« Dieses Fazit zieht der Sozialwissenschaftler Hajo Holborn (1970, 91 f) in seiner Analyse des politischen Denkens des deutschen Bürgertums um 1800.
Schon 1768 hatte Lessing seinen »süßen Traum, ein Nationaltheater […] in Hamburg zu gründen«, mit dem resignativen Kommentar versehen, dass dieses Projekt scheitern müsse, da die Deutschen keine Nation seien, und er meinte damit offenbar, dass die Deutschen keine eigene kulturelle Identität hätten. In der Hamburgischen Dramaturgie (1768) heißt es: »Wir sind noch immer die geschworenen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen«. Es folgt dann eine Aufzählung aller für die vermeintliche »Superiorität« der Franzosen gängigen Klischees, – statt Grazie: »Frechheit«, statt Ausdruck: »Grimasse«, statt Poesie: »Geklingel«, statt Musik: »Geheule« – und sofort. Aber auch die Franzosen hätten – so Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie – kein Theater, obwohl sie »prahlen […] das beste Theater von ganz Europa zu haben«. Denn das Theater der Franzosen sei, vor allem die Tragödie: »[S]o flach, so kalt!«
Offenbar also ging es um mehr als um die Regeln in der Kunst. Es ging um die vermeintlich wesenhafte Fremdheit des Französischen gegenüber dem Deutschen. Deutlicher als in Lessings Polemik wird dies in einem Brief des Schauspielers Heinrich Christian Beck (1760-1803), der zu den Theaterreformern dieser Jahre zählte und 1796 Schauspieldirektor am Mannheimer Nationaltheater wurde. Beck schrieb, dass der »Nationalcharakter der Deutschen […] sich weit mehr dem Engländer nähert als dem Franzosen. Wo der Franzose räsoniert, handelt der Engländer […] Ihre Stücke, voll Nerv und Kraft, geben unserem Geiste weit mehr Nahrung als die mit schönen Bildern und Sentenzen verzierten Trauerspiele der Franzosen«. (n. G. Piens 1955, 76) Es war also der vermeintliche Mangel an »Nerv und Kraft« und ein als oberflächlich diskreditiertes Virtuosentum, die aus Sicht der deutschen Reformer das klassizistische Theater der Franzosen so verächtlich – letztlich als undeutsch – erscheinen ließen. Es war dem »Nationalcharakter der Deutschen« – einem ideologischen Konstrukt, das in diesem Zusammenhang vor allem über ein kulturelles Feindbild definiert wurde – vermeintlich fremd.
So war die Forderung nach einem Nationaltheater – einem Theater also, das auch dem »Nationalcharakter der Deutschen« entsprechen würde – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgekommen, im Zusammenhang eines umfassenden kulturellen Reformprojekts, das in Deutschland zwar von einem antifeudalen Impuls bürgerlicher Kreise getragen war, dessen Verwirklichung jedoch im Rahmen einer obrigkeitsstaatlichen Herrschaftsordnung möglich zu sein schien.
Von England inspiriert, war in diesen Jahrzehnten auch in Deutschland eine aufgeklärte bürgerliche Öffentlichkeit entstanden, aus der heraus auch die Forderung nach einem Kulturwandel erhoben wurde. Die dominante Rolle der Aristokratie als Trägerschaft des kulturellen Lebens war zwar längst brüchig geworden, letztlich auch das feudal-absolutistische Gesellschaftsmodell. Von dessen Abschaffung jedoch distanzierten sich die deutschen Theaterreformer entschieden, so sehr ihnen die eigene politische Misere und der Druck, den die Feudalherren auf das Bürgertum ausübten, bewusst waren.
Kulturelles Zentrum des Absolutismus war der Hof von Versailles, der mehr als ein Jahrhundert lang für guten Geschmack, Mode und Lebensart in ganz Europa stilbildend gewesen war, mit dessen finanziellem Aufwand für seine überaus aufwendige Hofhaltung aber kein anderer europäischer Hof mithalten konnte. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet der französische Staat jedoch zunehmend in eine desolate Verfassung. Bereits in den letzten Jahren vor...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Die Deutschen und ihr Theater
  6. Nationaltheater ohne Nation – Nation ohne Staat
  7. Die Reform des Theaters aus dem Geiste der bürgerlichen Aufklärung
  8. Die Weimarer Klassiker und das Theater in ihrer Zeit
  9. Der beschwerliche Weg in die Moderne
  10. Der endgültige Abschied vom Theater als einer Einrichtung zur »Hebung des Kunstsinnes im Volke« und zur »Veredelung der Unterhaltungsbedürfnisse«
  11. Das vorübergehende Ende bürgerlicher Theaterkultur
  12. Theater in den Jahren der NS-Diktatur
  13. Theater in den ersten Nachkriegsjahren
  14. Aufbruch im Theater der BRD in den 1960/70er Jahren
  15. Theater in der DDR nach dem Tode von Bertolt Brecht
  16. Theater in Deutschland im letzten Jahrzehnt des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts
  17. Literatur