Anarchie!
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Anarchie!

Idee - Geschichte - Perspektiven

  1. 450 Seiten
  2. German
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Anarchie!

Idee - Geschichte - Perspektiven

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Über dieses Buch

Bunt, bizarr und widersprüchlich, verführerisch für die einen, Inbegriff des Bösen für die anderen, zieht sich die Idee der Anarchie durch die Geschichte der Menschheit. Ist sie ein weltfremder Traum oder ein noch zu realisierender Entwurf? Das Buch berichtet von Versuchen, diese Vision zu verwirklichen. Anarchie, ein Wort, das von jeher Schrecken ausgelöst hat, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als faszinierende Wundertüte. Sie will das "brutale" Chaos der heutigen Gesellschaft durch das "sanfte" Chaos vernetzter horizontaler Strukturen ersetzen, in dem die Herrschaft des Menschen über sich und die Natur überflüssig wird. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen lassen das Interesse an sozialen Entwürfen wieder wachsen, die bisher im Schatten standen. Horst Stowasser stellt die bestechendste Utopie vor: den Anarchismus. Verständlich geschrieben und umfassend angelegt, ist dieses Buch ein Standardwerk. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche Ideenwelt macht der Autor eine Reise durch die reiche Geschichte anarchistischer Experimente.

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Teil 1

Die Idee

Kapitel 1

Einiges zur Verwirrung

»Das Wort ›Utopie‹ allein genügt
zur Verurteilung einer Idee.«
— JACK LONDON
WAS EIN ANARCHIST IST, weiß jeder: ein gewalttätiger Mensch, ein Terrorist zumeist, außerdem schmuddelig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend wo er geht und steht. Seine Lieblingsbeschäftigung besteht im Werfen von Bomben, die er üblicherweise unter einem wallenden, schwarzen Umhang verbirgt, das Gesicht von einem aus der Mode gekommenen Schlapphut verdeckt. Notfalls greift er auch zu Dolch oder Revolver – Hauptsache, er kann seinen Blutdurst stillen.
Oder aber er ist krank, erblich gar. Ein wissenschaftliches Standardwerk des 19. Jahrhunderts definiert Anarchisten schlicht als »Idioten oder angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln, behindert sind und asymmetrische Gesichtszüge tragen«. Anarchie als Geisteskrankheit also – das erklärt und entschuldigt alles.
Sodann die Variante der Verblendung: Anarchisten seien »kleinbürgerliche Chaoten«, die den »objektiven Gang der Geschichte« noch nicht erkannt hätten; lauter zwar in ihren Absichten, aber letztendlich doch »voluntaristische Helfershelfer der Konterrevolution«. Deshalb gehörten sie als »Linksabweichler« auch am besten »liquidiert«. Diese Tonart schlugen in der Vergangenheit mit Vorliebe Marxisten aller Richtungen an, die inzwischen angesichts des Scheiterns ihrer ›objektiven Geschichtswahrheiten‹ jedoch in Schweigen verfallen sind.
Schließlich die moderne Definition – eine Mischung aus Psychoanalyse und Düsternis: Anarchisten wären demnach frühkindlich geschädigte Psychoten, die ihre privaten Probleme in abgrundtiefen Hass auf die Gesellschaft umwandeln und sich zur Rechtfertigung eine ›Philosophie des Nichts‹ schmiedeten. Sie seien ebensosehr zu bedauern wie zu bekämpfen.
Tragisch, niemand scheint sie lieb zu haben, die Anarchisten.
Sie ahnen schon, all dies ist Unsinn, und Sie ahnen richtig. Das macht die Sache allerdings nicht einfacher, denn eine korrekte Definition ist schon deshalb schwierig, weil Anarchismus keine einheitliche Bewegung ist, sondern eine vielfältige und damit auch widersprüchliche. Das liegt in ihrem Wesen, denn ihr Wesen ist Freiheit, und Freiheit ist nicht uniform.
So gibt es unter Anarchisten denn auch alle möglichen Überzeugungen und Strategien der Veränderung. Von Ökologen über Gewerkschafter, Pädagogen, Siedler und Alternativunternehmer bis hin zu den Befürwortern revolutionärer Gewalt und Anhängern strikter Gewaltfreiheit ist alles vertreten. Es finden sich unter ihnen Atheisten und Religiöse, Asketen und Schlemmer, Materialisten und Esoteriker. Für die einen ist der entscheidende Hebel zur Überwindung der Herrschaft die Erziehung, für die anderen der zivile Ungehorsam oder die direkte Aktion; diese wollen mit dem gleichen Ziel Gegenstrukturen aufbauen, jene die Arbeiterschaft gewinnen; Selbstverwaltung ist das Credo von manchen, auch Unterwanderung ist für viele angesagt und wieder andere schwören auf Propaganda, Aufklärung oder das vorgelebte Beispiel. Schließlich gibt es auch ausgemachte Individualisten, denen der Rest der Menschheit ziemlich schnuppe ist und last but not least noch immer welche, die davon träumen, diesem Rest der Menschheit ihre Vorstellungen lieber mit Gewalt aufzuzwingen – mehr oder minder sanft. Die Spezies der blutrünstigen Bombenwerfer allerdings, die das Anarchismusbild so nachhaltig geprägt hat und die Phantasie der Bürger so angenehmgruselig beflügelt, ist, wie wir noch sehen werden, seit langem ausgestorben.
Nun betrachten Anarchisten diese Vielfalt keineswegs als Makel, im Gegenteil, sie sehen darin eine Chance und Bereicherung – die Vorwegnahme jener Vielfalt, die sie in einer künftigen Gesellschaft anstreben. In der Tat nimmt der Anarchismus für sich in Anspruch, die einzige Gesellschaftsstruktur zu sein, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Menschen eben sehr unterschiedlich sind.
Was aber haben Anarchisten denn dann eigentlich gemeinsam? Gibt es überhaupt eine Berechtigung, von ›Anarchismus‹ und ›Anarchisten‹ zu sprechen, wenn alles so schön beliebig ist?
Versuchen wir es der Einfachheit halber mit einer vorläufigen Kurzdefinition, die sich lediglich auf die Gemeinsamkeiten beschränkt:
Anarchisten streben eine freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. So soll eine andere Ordnung entstehen, in der Prinzipien wie die ›freie Vereinbarung‹, ›gegenseitige Hilfe‹ und ›Solidarität‹ an die Stelle heutiger Realitäten wie Gesetze, Konkurrenz und Egoismus treten könnten. Autoritärer Zentralismus würde durch Föderalismus ersetzt: die dezentrale Vernetzung kleiner und überschaubarer gesellschaftlicher Einheiten. Menschenverachtende und umweltzerstörende Gigantomanie wären dann absurd; an ihre Stelle träten freie Zweckzusammenschlüsse, die die Menschen auf der Basis gleicher Rechte und Pflichten direkt miteinander eingingen. Besonders originell an diesen Vorstellungen ist die Idee, dass es auf einem geografischen Gebiet nicht mehr nur eine Gesellschaft gibt, einen für alle gleichermaßen verbindlichen Staat, sondern eine Vielfalt parallel existierender gesellschaftlicher Gebilde. »Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften«, wie es der anarchistische Philosoph Gustav Landauer einst formulierte. Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.
In der praktischen Umsetzung dieser eher abstrakten Ideen sind sich wohl die meisten Anarchisten darin einig, dass gewisse Institutionen einer solchen freiheitlichen Gesellschaftsform hinderlich sind, um es einmal freundlich auszudrücken. Zunächst der Staat als Institution und autoritäres Ordnungsprinzip, ebenso aber auch der ›Staat im Kopfe‹: Herrschaftsideologie und Autoritätsgläubigkeit. Ferner die ihn tragenden Säulen wie Kapital, Polizei, Kirche, Justiz, Patriarchat, die angepassten Massenmedien, die herkömmliche Erziehung, die klassische Kleinfamilie und dergleichen mehr, womit wir bei den ›Lieblingsgegnern‹ angelangt sind, mit denen sich Anarchisten traditionsgemäß und vorzugsweise auseinandersetzen.
Das alles ginge aber noch nicht wesentlich über das symbolhafte Bild jenes rebellierenden Sklaven hinaus, das wir eingangs bemüht haben. Anarchisten würden in der Tat verantwortungslos handeln, wenn sie sich darauf beschränken wollten, Negatives zu zerschlagen, ohne etwas Positives an seine Stelle setzen zu können. So zeichnen sich wirkliche Anarchisten immer auch dadurch aus, dass sie an Modellen für eine neue, freiheitliche Gesellschaft arbeiten, und diese in praktischen Experimenten beispielhaft zu verwirklichen versuchen – auch wenn das im Rahmen der bestehenden autoritären Wirklichkeit nur unvollkommen gelingen kann.
»Nett, aber naiv«, so könnte man den Tenor aller wohlwollenden Kritiker zusammenfassen. »Das ist vielleicht ein schöner Wunschtraum, aber nicht zu verwirklichen. Der Mensch ist dazu nicht geschaffen, er ist egoistisch, er braucht Autorität und die strenge Hand von Gesetz, Ordnung und Moral. Und selbst wenn er so leben könnte – die Herrschenden würden ein solches System niemals zulassen, und da diese nicht zu besiegen sind, wird es beim Traum bleiben.«
Anarchisten behaupten natürlich das Gegenteil. Für sie ist eine solche Gesellschaft nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich. Und sie erklären auch, warum: Gerade weil der Mensch egoistisch sei, so lautet eine ihrer Thesen, sei Anarchie eine adäquate Lebensform. Oder, dass Herrschaft und Autorität nicht dasselbe wären und erstere die Herausbildung einer wohlverstandenen und positiven, nämlich freiwilligen ›Autorität‹ überhaupt erst verhindere. Und natürlich brauche der Mensch so etwas wie ›Moral‹ und eine ›Ordnung‹, aber nicht unbedingt die, die wir heute haben. Unsere Gesetze seien das ziemliche Gegenteil von Moral – Anarchie hingegen die moralisch höchste Form der Ordnung, weil sie sich ihre Regeln und Grenzen freiwillig setze. Vor allem aber müsse es nicht eine Art der Ordnung und eine Ethik geben – es könnten derer ruhig mehrere neben- und miteinander bestehen.
So etwas klingt in den Ohren staatlich geprägter Menschen – und das sind wir alle – paradox. Diese vermeintlichen Paradoxien sollen uns jetzt nur am Rande interessieren, denn iher Widerlegung wäre theoretisch, bestenfalls plausibel, und hätte letztlich keine Beweiskraft. Beweiskraft hat das Beispiel, das Experiment. Und diese Beispiele gibt es – nur kennt sie kaum jemand. Wer hätte je davon gehört, dass es im 20. Jahrhundert bereits große, funktionierende anarchistische Gemeinwesen gab, ganze Länder umfassend, mit Großstädten, Dörfern und Industrie, in denen von der U-Bahn über die Milchwirtschaft bis hin zum Schulwesen eine moderne Massengesellschaft nach an-archischem Muster funktionierte? Oder davon, dass es anarchistischen Guerillaarmeen in den 1920er Jahren gelang, riesige Landstriche zu befreien, um in ihnen den Aufbau einer Gesellschaft in freier Selbstverwaltung zu versuchen? Kein Mensch ahnt heute, dass das Mittel des ›zivilen Ungehorsams‹, das Kolonialmächte in die Knie zwang und Regierungen stürzte, voll und ganz in der Tradition des gewaltfreien Anarchismus steht. Und wer weiß schon, dass es Anarchisten waren, die in Deutschland vor über achtzig Jahren bereits einen Sechsstundentag in der Schwerindustrie erkämpften? Auf unseren Streifzügen durch die verzweigten Pfade anarchistischer Experimente werden wir derartigen Beispielen in solch unterschiedlichen Ländern wie Argentinien und Indien, Deutschland, der Ukraine, Spanien und der Mandschurei begegnen.
Freilich – nichts von alledem existiert mehr, und viele dieser großen und kleinen Experimente blieben in der Praxis weit hinter den hohen Idealen des Anarchismus zurück. Wahr ist aber auch, dass kein einziges von ihnen an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde ging – sie wurden samt und sonders militärisch zerschlagen. Wahrlich ein ›schlagender‹ Beweis; allerdings keiner, der die Unmöglichkeit einer anarchistischen Gesellschaft beweisen könnte.
Heute existiert Anarchismus nur als Konzept, als soziale Bewegung, und in bescheidenen praktischen Ansätzen. Der endgültige Beweis, ob Anarchie eine funktionsfähige Struktur ist, steht mithin noch aus; ebenso, ob sie eine wünschenswerte Lebensform ist. Das könnten schließlich nur diejenigen Menschen beantworten, die in ihr leben.
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Literatur: NN: Was ist eigentlich Anarchie? Berlin 2003 (4. [10.] Aufl.), Karin Kramer, 162 S. / Horst Stowasser: Leben ohne Chef und Staat Berlin 1993 (4. [12.] Aufl.), Karin Kramer, 194 S., ill. / Hans Jürgen Degen, Jochen Knoblauch: Anarchismus – Eine Einführung Stuttgart 2006, Schmetterling, 214 S. / Ulrich Klemm: Freiheit & Anarchie – Eine Einführung in den Anarchismus Frankfurt 2005, Verlag Edition AV, 55 S. / Nicolas Walter Betrifft: Anarchismus Berlin 1984, Libertad, 160 S. / Daniel Guérin: Anarchismus. Begriff und Praxis Frankfurt 1969, Suhrkamp, 164 S. / April Carter: Die politische Theorie des Anarchismus Berlin 1988, Ahde, 305 S. / Paul Eltzbacher: Der Anarchismus Berlin o.J. [1900], Libertad, 305 S. / Justus F. Wittkop: Unter der Schwarzen Fahne Frankfurt 1973, Fischer, 270 S., ill.

Kapitel 2

Der Begriff »Anarchie«

»Warum mir aber in neuester Welt
Anarchie gar so gut gefällt?
Ein jeder lebt nach seinem Sinn,
das ist nun also auch mein Gewinn!
Ich lass’ einem jeden sein Bestreben,
um auch nach meinem Sinn zu leben.«
— JOHANN WOLFGANG V. GOETHE
DAS WORT ANARCHIE ist so alt wie die abendländische Zivilisation. Seit es Herrschaft gibt, gibt es auch Ideen herrschaftsfreien Lebens, und seit den alten Griechen ist uns das Wort anarchia [άυ αρκία] überliefert. Es bedeutet »keine Herrschaft«, also die Abwesenheit von Macht und Hierarchie. Ein provokantes Wort, das in den Köpfen der Menschen augenblicklich schlimme Visionen erzeugt: Chaos, Unordnung, Verwilderung, Zerstörung. So ist die Bedeutung des Wortes heute weitgehend auf die Ängste reduziert, die den Normalbürger bei dieser Vorstellung befallen; sein eigentlicher Wortsinn ging dabei komplett verloren. Was blieb, waren griffige ›Übersetzungen‹ wie »Gesetzlosigkeit«, »Zügellosigkeit«, »Chaos«. Das ist etwa genauso korrekt, wie wenn man die Begriffe »Zahnarzt« mit »Folter«, »Liebe« mit »Sünde« oder »Ökologie« mit »Rückschrittlichkeit« übersetzen würde.
In der Umgangssprache mag dies ja noch als spontaner Ausdruck eines Angstgefühls hingenommen werden. Es geht jedoch um mehr als nur um Unwissenheit oder Ungenauigkeit. Seit Jahrhunderten wird im offiziösen Sprachgebrauch dieser negative Begriff von Anarchie verwendet; seit dem 19. Jahrhundert in der offensichtlichen Absicht, den Anarchismus als Philosophie oder politische Bewegung zu diskreditieren. Aus diesem Grunde haben ganze Generationen von Politikern und Literaten, Kommunisten und Adligen, Pfarrern und Hausdamen diesen Begriff von Anarchie verbreitet. Für sie verbindet sich das Wort mit einem kalten Schauer und dem Gedanken an Weltuntergang, und diese apokalyptische Vision gaben sie millionenfach weiter.
Selbst in seriösen Nachschlagewerken wie dem Duden wird Anarchie vorzugsweise und durchaus falsch mit »Gesetzlosigkeit« oder »Chaos im politischen Sinn« übersetzt. In der Duden-Redaktion aber sitzen gebildete Semantiker, die auch »Liebe« nicht mit »Sünde« übersetzen. Es handelt sich also schon längst nicht mehr um irgendwelche unterschwelligen Ängste, sondern um ein anschauliches Beispiel, wie subtil Sprache zur Meinungsmache benutzt werden kann. Denn die Formel Anarchie = Gesetzlosigkeit ist ja nicht bloß sprachlich falsch und inhaltlich schief, sie soll beim Leser etwas bewirken. Die Vorstellung nämlich, dass bei einer Verwirklichung anarchistischer Ideen die Gesellschaft zwangsweise ins Chaos stürzen müsste, und dass umgekehrt Herrschaft die einzig denkbare Form der Ordnung sei. Das aber ist bloße Meinung, allenfalls Spekulation, vielleicht sogar Manipulation – mit einer korrekten Worterklärung hat es jedenfalls nichts zu tun.
»Aber wollen denn die Anarchisten nicht den Staat abschaffen, sind sie nicht Gegner von Justiz, Polizei und Gesetzbuch, und ist es da nicht richtig, ihnen ›Gesetzlosigkeit‹ vorzuwerfen?« könnte man fragen. Ersteres stimmt, und der Vorwurf wäre berechtigt, wenn der Anarchismus an die Stelle dieser Institutionen keine anderen Strukturen zu setzen wüsste. Die Ablehnung unseres heutigen Herrschafts-, Justiz- und Strafsystems heißt aber nicht, dass es keine Regeln, Vereinbarungen oder ethische Grenzen im gesellschaftlichen Zusammenleben mehr gäbe. Es sind schließlich auch andere Formen denkbar. Dass die Inhaber der Macht diese aus wohlverstandenem Eigeninteresse bekämpfen, liegt auf der Hand. Dass die Phantasie der meisten Menschen nicht ausreicht, über das heute Bestehende hinauszudenken, ist wiederum nicht Schuld der Anarchisten. Andere Denker haben da mehr visionäres Vermögen bewiesen.
Immanuel Kant definiert Anarchie kurz und bündig als »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«. Für ihn ist der Begriff »Gesetz« eben nicht das Bürgerliche Gesetzbuch, sondern die Gesamtheit sozialer Regeln. Ähnliches musste Elisée Reclus im Sinn gehabt haben, als er postulierte, »Anarchie ist die höchste Form der Ordnung«: Wenn Regeln unter Menschen freiwillig und ohne Gewaltanwendung eingehalten werden, so meint er, sei dies eine höhere Stufe gesellschaftlicher Entwicklung als die autoritäre, in der soziales Verhalten durch den Zwang des Staates, die Drohungen der Justiz und die Gewalt der Polizei ständig erzwungen werden müsste. Pierre-Joseph Proudhon, einer der Väter des modernen Anarchismus, griff das Wort »Anarchie« in seiner ursprünglichen Bedeutung wieder auf und rührte es um 1840 mittels eines witzigen Dialogs mit einem Spießbürg...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Widmung
  5. Impressum
  6. Inhalt
  7. Einleitung Vom Zorn und von der Freiheit
  8. Teil 1: Die Idee
  9. Teil 2: Die Vergangenheit
  10. Teil 3: Die Zukunft
  11. Anhang Kontakte
  12. Glossar
  13. Editorische Notiz