zwölf
Mai 2001
Knarrend öffnet sich die Tür zum Bootshaus. Annie hält den Atem an, die Dunkelheit im Inneren des Schuppens beschwört wieder den Drachen aus ihrer Kindheit herauf. Verrückt, schilt sie sich. Sie hatte immer angenommen, das Bootshaus müsste verschlossen sein, weil Bob sie vor dem beschützen wollte, was sich darin verbarg.
Jeremiah schiebt sich an ihr vorbei und verschwindet im Dunkeln. Kurz darauf flackert das Licht einer Petroleumlampe und Annie späht vorsichtig in den Raum. Jeremiah ist nicht zu sehen und Annie schreckt zusammen, als er plötzlich neben ihr auftaucht und den Schein der Laterne auf sie richtet.
„Geh vor“, lädt er sie ein und hält die Lampe hoch.
Sie macht einen ersten vorsichtigen Schritt. Die Schwelle zu überschreiten fühlt sich an, als würde sie eine andere Welt betreten – eine Welt, in der es dunkel ist und nach Sägemehl, altem Holz und einem Hauch von Lagerfeuer riecht.
Das Licht der Laterne wirft gespenstische Schatten, Annie erkennt eine Werkbank und einen Hocker. Ein altes Kanu hängt von den Sparren herunter und bewegt sich im Wind ächzend hin und her. Der Rumpf sieht frisch geschliffen aus, die alte Farbe wurde weitgehend entfernt und viele Stellen offenbaren das kahle Holz.
„Roys Boot.“ Jeremiah schaut sie fragend an, zögernd, ob er mehr sagen soll. „Bob hatte nichts dagegen, dass ich es restauriere, ich hoffe …, dass das okay ist.“
Es dauert einen Moment, bis sie versteht, dass er auf eine Antwort wartet. „Oh! Okay für mich …?“
„Na ja, du bist seine Enkelin. Es ist dein Boot, von Rechts wegen.“
Seltsam, sie steht hier und betrachtet ein Boot, das ein Mann gebaut hat, den sie nie kennengelernt hat … und dessen Blut in ihren Adern fließt.
„Ja, natürlich … Es … es sieht so aus, als … müsse es dringend mal wieder aufs Wasser“, antwortet sie.
„Genau wie du.“ Jeremiahs Augenwinkel kräuseln sich zu einem angedeuteten Lächeln.
„Na ja, es gibt da gewisse Unterschiede – zwischen mir und einem Boot.“
Jeremiah geht nicht weiter darauf ein, sondern überlässt es ihr, den Raum zu erkunden.
Annie geht tiefer ins Bootshaus, in eine Ecke, in der man die Spuren eines Brandes sieht. Die Wände sind schwarz verkohlt, wo die Flammen hochgeschlagen haben. Dort lehnt eine Leiter, zwischen Stapeln von Holzschindeln, die in ordentlichen Reihen gebündelt nebeneinander aufgereiht sind. Daneben liegt eine orangefarbene Bohrmaschine.
Jeremiah zeigt in die Ecke. „Ich hoffe, dass ich damit fertig werde, bevor Bob nach Hause kommt.“ Ein Anflug von Zweifel überschattet kurz sein Gesicht, trotzdem würde Annie ihn am liebsten dafür umarmen, dass er so selbstverständlich von Bobs Heimkehr spricht.
„Und hier“, Jeremiah geht voraus bis in die Mitte des Schuppens, „hier steht dein Drache.“
Er zeigt auf einen großen Block, etwa fünf oder sechs Meter breit, der fast bis zu den Dachbalken reicht und mit fleckigen alten Tüchern bedeckt ist. Die Form ist irgendwie schief, wie ein missratener Würfel. Seine Kanten sind nicht glatt, an verschiedenen Stellen fehlt etwas – von was auch immer, das da unter den Tüchern verborgen ist.
Annie tritt näher heran und mit einem fragenden Blick zu Jeremiah hebt sie den Stoff an.
Ihr Puls schnellt in die Höhe und ihr Atem stockt.
Sie nimmt ein größeres Stück Stoff fest in die Hand und wirft es mit Schwung nach oben, sodass es sich über den Würfel schlägt und den Blick freigibt auf das, was da aufgetürmt ist. Staub steigt auf, senkt sich auf sie, um sie und glitzert in den Sonnenstreifen, die durch die Ritzen dringen. Annie hustet und wedelt mit der Hand vor dem Gesicht, um nicht alles einzuatmen. Gleichzeitig rutscht der Stoff von dem Würfel und landet auf dem Boden.
Lage um Lage sind die Behältnisse sorgfältig aufgeschichtet. Manche sind einfach nur schlichte Kartons, anderen sieht man trotz Staub und Alter noch an, dass es edle Hutschachteln oder Verpackungen aus teuren Boutiquen waren. Blechdosen mit Dellen und Beulen wechseln sich ab mit einfachen, in Zeitungspapier gewickelten Brocken, überall stehen Absender-Adressen darauf. Die Päckchen stammen aus den unterschiedlichsten Lebensumständen. Manche scheinen aus ärmlichen Verhältnissen zu kommen, andere aus den Villen der Wohlhabenden. Und jedes einzelne Objekt trägt eine Zahl, genau wie die Kartons, die Annie in der Kammer im Haus gefunden hat.
„Noch mehr Steine“, sagt Annie. Jeremiah wirft ihr einen überraschten Blick zu.
„Das weißt du?“
Sie schüttelt den Kopf. „Von denen hier wusste ich nichts. Aber im Haus habe ich auch solche Päckchen gefunden, in der Kammer neben dem Kinderzimmer. Das war früher ein begehbarer Kleiderschrank, jetzt ist er voll mit solchen Stein-Sendungen.“
„Und die waren schon damals da, als du hier gewesen bist?“
Wieder schüttelt Annie den Kopf. „Nein, in der Kammer waren damals Kleider, ich habe keinen einzigen Stein gesehen. Aber ob es diese Sammlung hier schon gab …?“ Sie hebt einen Karton auf, der auf dem Boden ganz außen in der Ecke steht. Das braune Packpapier ist an der Oberseite sorgfältig aufgeschnitten. Es ist dunkel im Schuppen, sie kneift die Augen zusammen, kann das sein? Der Poststempel ist von 1964. Unter dem Packpapier kommt eine große Packung Knox-Gelatine zum Vorschein, im typischen Design der Sechzigerjahre. Annie hebt den Deckel, und wo einst Gelatine war, liegt ein roter Sandstein, der so aussieht, als käme er von den Sedona-Felsen in Arizona. „Anscheinend lagern diese Steine hier schon eine ganze Weile.“ Sie runzelt die Stirn: „Woher wusstest du denn, dass es Steine sind?“
Verlegen zuckt er mit den Schultern. „Ich bin hier der Paketbote.“
„Ja, und?“ Annie schaut ihn herausfordernd an. Hat er keine bessere Erklärung? „Diese Sendungen sind aus der Zeit, als man noch an den Leiter des Postamts adressiert hat.“ Annie schaut genauer hin. Tatsächlich: An den Postamtsleiter. Ansel-by-the-Sea, Maine. „Oh.“
„Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen. Aber wenn man auf so etwas stößt“, eine ausladende Armbewegung deutet auf den Steineberg, „an so einem Ort“, ihr Blick folgt seiner Geste zu den Schatten, die auf den Wänden tanzen, „dann muss man doch einfach nachschauen.“ Jeremiah vergräbt die Hände tief in seinen Hosentaschen. „Und außerdem sind sie wirklich ans Postamt adressiert.“
„Nur, dass du nicht nach Ansel gekommen bist, um Postamtsleiter zu sein“, erinnert Annie ihn und stellt die Schachtel wieder an ihren Platz.
„Trotzdem bin ich es jetzt“, erwidert er und grinst so, dass seine Grübchen zum Vorschein kommen.
„Aber was haben diese Steine mit Bob zu tun?“, fragt sie, wieder ernst.
„Keine Ahnung“, erwidert Jeremiah. „Ich weiß nur eins.“
Annie wartet, was jetzt kommt
„Morgen ist Stadtratssitzung. Annie, wenn du es wirklich herausfinden willst, dann kannst du dort mal fragen.“
uv
Am nächsten Abend geht Annie die Markstraße entlang. Die Blumenkästen an den weißen Häusern leuchten mit einer üppigen Pracht roter Geranien im Wechsel mit blauen Glockenblumen. Das europäische Flair versetzt sie zurück in die Zeit, in der sie in Alpenzell abends durch ähnliche Straßen ging.
Der Kuchen ist noch warm, sie trägt ihn mal in der einen, mal in der anderen Hand. Um die Häuser am Marktplatz besser sehen zu können, schirmt sie mit einer Hand ihre Augen vor dem hellen Licht der Abendsonne ab. Jeremiah hatte ihr vorher noch ein paar Tipps gegeben. Um in dieser Ratsversammlung gehört zu werden, musste man zwei Voraussetzungen mitbringen: Man musste in Ansel geboren und aufgewachsen sein und man musste etwas zu essen mitbringen. Punkt eins konnte sie nicht bieten, also hatte sie sich für den zweiten Punkt umso mehr Mühe gegeben und einen Kuchen nach einem alten Familienrezept gebacken, das hier in der Gegend bekannt und beliebt war. Ein Blick auf die Uhr – 18.50 Uhr. Akzeptable zehn Minuten, bis die Sitzung beginnt.
Sie geht über den Grünstreifen und betritt die Bücherei. Zumindest … denkt sie, dass es die Bücherei ist. Als sie zuletzt hier war, stand da nur dieser alte Triebwagen, der über ein verlassenes Gleis von Birchdown Mountain bis hierher gezogen worden war. Er war an allen Seiten vom Boden bis zur Decke mit Regalen ausgestattet worden. Doch heute ist er das Foyer eines neuen Gebäudes, das hinter ihm aufragt.
Annie geht durch den Wagen und zu den gläsernen Flügeltüren, hinter denen sie bereits eine kleine Versammlung sieht. Stühle sind in drei Reihen angeordnet, unterbrochen von einem Mittelgang, davor sitzt eine Frau an einem Tisch. Die Sitzung scheint schon in vollem Gang zu sein. Hat sie sich in der Zeit geirrt?
So leise wie möglich zieht sie die Tür auf und zuckt zusammen, als diese vernehmlich quietscht. Sofort drehen sich alle zu ihr um.
„Können wir Ihnen behilflich sein?“ Die Frau, die vorn sitzt, mustert Annie über die Ränder ihrer Nickelbrille hinweg.
„Es tut mir sehr leid“, entschuldigt sich Annie. „Ich dachte, ich wäre zu früh für die Sitzung, aber …“
„Das sind Sie auch, meine Liebe“, sagt die Frau und ihre Stimme klingt etwas weniger schneidend als davor. Auf dem kupfernen Namensschild, das vor ihr auf dem...