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Immanuel Kants Denken der Zweckmässigkeit und die koloniale Episteme

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Immanuel Kants Denken der Zweckmässigkeit und die koloniale Episteme

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Über dieses Buch

Die Rassentheorie, die Geschichtsphilosophie, die Ästhetik und die Naturteleologie haben eine Gemeinsamkeit: In all diesen Themengebieten entwickelte Immanuel Kant ein Denken der Zweckmässigkeit. Die Fokussierung auf diesen Strang macht eine Verbindung sichtbar, die von seinen frühen Schriften zu den unterschiedlichen »Rassen« der Menschen hin zur Kritik der Urteilskraft und damit zu seiner Selbstreflexion über die kritische Philosophie reicht. Karin Hostettler arbeitet das mit diesem Denken verbundene Othering und die damit einhergehende Selbstaffirmation heraus und zeigt so die Selbstverortung der kritischen Philosophie in einer kolonialen Episteme auf.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783732851768

1Einleitung


Beim Recherchieren zu meiner Lizentiatsarbeit, die ich zum politischen Denken Immanuel Kants verfasste, stiess ich unerwarteterweise auf Schriften, in denen Kant über den Begriff ›Menschenrassen‹1 nachdachte. Nach der Lektüre dieser Aufsätze fragte ich mich, warum es mich überraschte, diese Texte bei einem der kanonisierten Autoren der Philosophie zu finden. In meinem Studium tauchte der Name Kant dort auf, wo es um Ethik- und Moralphilosophie, Erkenntnistheorie oder Geschichtsphilosophie ging. Zugleich war Kant auch in meinem zweiten Studienfach, den Gender Studies, ein Thema: Denn einerseits hat er sich in durchaus problematischer Weise zu Frauen geäussert, andererseits dienen die Schriften Kants nach wie vor als Ausgangspunkt zur Formulierung feministischer Positionen. Doch auch in diesen kritischen Aufsätzen zum deutschen Aufklärer fanden die Reflexionen zum Begriff der ›Menschenrassen‹ zumeist keine Erwähnung.
Im Rahmen meiner Lizentiatsarbeit schien es mir jedoch nicht möglich, dieses Thema aufzugreifen: Zu sehr befürchtete ich, dass diese Textauswahl als nicht philosophisch genug erachtet werden würde – eine These, die ich nicht bereit war, im Rahmen meiner universitären Abschlussarbeit zu testen. Dass diese Furcht nicht ganz unbegründet war, wurde während der Lektüre von Aufsätzen und Büchern zu Kant deutlich, die ich für die vorliegende Arbeit vornahm: So stellte ich fest, dass oftmals die Aufsätze zu den ›Menschenrassen‹ auch dann nicht in den Blick geraten, wenn es um anthropologische Fragen bei Kant geht. Darüber hinaus finden sich auch Stimmen, die diese Schriften zwar berücksichtigen, jedoch argumentieren, dass nicht alle Äusserungen dieses Autors gleichermassen ernst zu nehmen seien, da einige Aufsätze nicht das hohe Niveau zu halten vermögen, das Kant mit der Kritik der reinen Vernunft bewiesen habe. Auch sei Kants Konzept des kategorischen Imperativs viel relevanter und würde so seinen Rassismus übertrumpfen. Kant unterliege den Vorurteilen seiner Zeit, die jedoch nur durch einen anachronistischen Blick in ihrer Problematik sichtbar würden. Solche Schriften könnten also ruhig dem Vergessen überantwortet werden (vgl. zusammenfassend Kleingeld 2007: 582f. oder Mills 2005). Solche Stimmen machen deutlich, dass die Thematisierung von ›Rasse‹ nicht nur die historische Frage betrifft, wie diese Debatte im 18. Jahrhundert verortet werden muss, sondern auch eine gegenwärtige Artikulation des Selbstverständnisses der akademischen Disziplin vornimmt: Denn während es für Kant möglich war, sich als Philosoph zu diesem Thema zu äussern, wird dies nun retrospektiv als Überschreitung der Disziplin der Philosophie eingeordnet. Damit wird eine Grenze installiert, die problematische Aspekte in diesem Werk in einem Ausserhalb des disziplinären Feldes verortet. Dass sich jedoch von diesem ›Ausserhalb‹ unbequeme Fragen ergeben, die sich letztlich nicht so einfach von der Hand weisen lassen, mag die Vehemenz erklären, mit der das Urteil gesprochen wird: ›Dies ist keine richtige Philosophie‹.2
In der Folge habe ich mich verstärkt in Ansätze der post_kolonialen3 Theorie eingelesen. Ein wichtiger Ausgangspunkt bildet dabei die Einsicht, dass die Herausbildung der Moderne konstitutiv mit dem Kolonialismus verbunden ist. Nimmt man diese Verbindung der Moderne mit dem Kolonialismus ernst, führt dies beispielsweise nach Gilroy (1993) dazu, dass das Taufbecken der Moderne weniger an einem festen Ort, also in Europa zu finden ist, sondern vielmehr in der Verbindung zwischen Afrika, Amerika, der Karibik und Europa, zwischen denen durch Schiffe Menschen, Güter und Ideen transportiert und ausgetauscht wurden. Damit verschiebt und dynamisiert Gilroy die Ursprungserzählung der europäischen Moderne. Chakrabarty (2000) geht der Frage nach, was es für nicht-westliche Gesellschaften bedeutet, Teil der politischen Moderne zu sein. Der Kapitalismus, die Moderne und die Aufklärung werden als Ereignisse gesehen, die ausschliesslich in Europa stattfanden, womit eine komplett internalistische Geschichtsschreibung installiert wird. Zugleich dient dieses westliche Entwicklungsnarrativ als Massstab zur Messung kultureller Differenzen für nicht-westliche Gesellschaften, die so lediglich über ihre Distanz zu diesem angenommenen Idealzustand wahrgenommen werden. Die Vorstellung einer politischen Moderne für nicht-westliche Gesellschaften kann nach Chakrabarty somit nur durch einen widersprüchlichen Prozess vorgestellt werden: Eine Geschichte der politischen Moderne in Indien kann nicht geschrieben werden, ohne dass zugleich eine Kritik an grundlegenden Kategorien der (kritischen) Geschichtsschreibung und an der Natur der historischen Zeit geübt wird.
Ausgehend von solchen Überlegungen stellte ich mir die Frage, was es für die Lektüre europäischer Philosoph_innen4 bedeutet, diese mit einer solchen Kritik an der Erzählung der Moderne und der internalistischen Geschichtsschreibung zu konfrontieren. Wie lässt sich diese internalistische Geschichtsschreibung aufbrechen? Ein Vorgehen liegt meines Erachtens darin, Texte als Ausgangspunkt zu wählen, die im akademischen Mainstream als ›irrelevant‹ überlesen werden. Denn ein internalistisches Geschichtsnarrativ stützt sich unter anderem auf eine bestimmte Auswahl von Texten, die die Verflechtung Europas mit dem ›Rest‹ der Welt unsichtbar macht. Die Nicht-Thematisierung von Aufsätzen Kants über ›Menschenrassen‹ lässt sich so als Beitrag zu einer internalistischen Geschichtsschreibung in der Philosophie verstehen.
Diese wichtigen post_kolonialen Interventionen weisen zudem auf die Gefahr hin, die darin lauert, sich einem einzelnen europäischen Autor zu widmen: Denn sie werfen indirekt die Frage auf, wie eine Befragung der Aufklärung von den Rändern her möglich sein soll, wenn der Fokus auf Texten eines weissen, männlichen, europäischen Philosophen liegt. Chakrabarty (ebd.: 4) macht jedoch darauf aufmerksam, dass eine Befragung kanonisierter europäischer Autor_innen durchaus notwendig sei, da ein einfaches Zurückweisen der Aufklärung ebenfalls keine Antwort sein könne. Diese Autor_innen als Teil einer europäischen Tradition zu verstehen, wird der Tatsache nicht gerecht, dass diese Theorien einen globalen Einfluss ausgeübt haben und nach wie vor ausüben. Zudem findet sich in diesen Schriften ein starkes Fundament, auf dem gerade auch eine Kritik an der Moderne aufbaut. Doch wenn die europäische Moderne zugleich eine starke Grundlage für die post_koloniale Kritik an dieser Moderne enthält, wie ist dann Kant in diesem Spannungsfeld zu verorten? In den folgenden Abschnitten arbeite ich einige Aspekte heraus, die sich aus dem Versuch, post_koloniale Einsichten5 auf Kant zu beziehen, ergeben haben.
Nach wie vor ist es in der Philosophie üblich, zentrale philosophische Texte unabhängig von ihrem Entstehungskontext zu diskutieren: Die Überlegungen und Argumente sind logisch und allgemeingültig, weshalb die Gültigkeit losgelöst von jeglichem Kontext besteht. Die Sub-Disziplin der Philosophiegeschichte nimmt sich den historischen Verflechtungen der Texte zwar an, doch hat dies keinen Einfluss auf den Gültigkeitsanspruch, der beispielsweise der Kritik der reinen Vernunft zugeschrieben wird. Die post_koloniale Kritik an der Moderne nimmt demgegenüber eine grundlegendere Kontextualisierung vor, da die Texte als europäische Erzeugnisse verstanden werden. Damit wird durch das Mitbedenken des Kolonialismus zudem eine andere Kontextualisierung vorgenommen.6 Diese veränderte Kontextualisierung hat Auswirkungen darauf, welche Aspekte des kantischen Werks thematisiert werden. Die philosophisch-historischen Debatten über Kant fokussieren hauptsächlich auf die Kenntnisse der zeitgenössischen europäischen Aufklärung und diskutieren die kantischen Schriften fast ausschliesslich in diesem Rahmen. Aus einer post_kolonialen Perspektive stellt sich jedoch die Frage, welches Wissen Kant zur aussereuropäischen Welt oder von nicht-weissen Schriftsteller_innen (wie beispielsweise Phillis Wheatly, einer der ersten afro-amerikanischen Dichterinnen, die publiziert hat, oder Anton Wilhelm Amo, einem afro-deutschen Philosophen; beide Zeitgenoss_innen Kants) zur Verfügung stand und ob oder wie er dieses in sein kritisches Denken integriert hat. Auch Reiseberichte wie jene Georg Forsters, die in der Kant-Rezeption berücksichtigt werden, müssen kritisch begutachtet werden, da diese von Europäer_innen und für ein europäisches Publikum verfasst wurden; nicht-europäische Menschen erscheinen in dieser Diskussion lediglich als Objekte. Dennoch bilden solche Schriften eine wichtige Quelle zur aussereuropäischen Welt. Diese grundsätzliche Verschiebung des Kontextes zieht mit sich, dass innerhalb von Kants Werk andere Texte ins Zentrum rücken: So bilden die Aufsätze zum Begriff der ›Menschenrassen‹, aber auch allgemein die überall im Werk verstreuten Bemerkungen zu aussereuropäischen Menschen, zu ›Wilden‹ und ›Unzivilisierten‹ sowie Äusserungen zur Sklaverei oder zum Kolonialismus den Ausgangspunkt meiner Lektüre.
In der Geschichtsschreibung zum Kolonialismus wird der Aufklärungszeit insofern eine spezifische Rolle zugeschrieben, als dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein epistemischer Umbruch vollzog. So standen in dieser Periode des Kolonialismus die kulturellen und wissenschaftlichen Interessen im Vordergrund (vgl. Lüsebrink 2006). Anthropologische und naturkundliche Untersuchungen gewannen im 18. Jahrhundert an Bedeutung und auch Entdeckungsreisen dienten weniger ökonomisch-imperialen als wissenschaftlichen Zwecken (vgl. Meyer 2017: 85f.). Doch lässt sich nicht nur eine Intensivierung dieser wissenschaftlichen Interessen feststellen, sondern weitergehend ein epistemischer Umbruch. So spricht Hall (2002) von »einer entscheidenden epistemischen Verschiebung innerhalb des Kolonisierungsprozesses« (ebd.: 235), die in der Aufklärung stattfand. Er skizziert, dass mit der Aufklärung ein panoptisches Auge installiert wurde, durch das »alle Formen des menschlichen Lebens über den universalen Leisten einer einzigen Seinsordnung geschlagen« (ebd.) wurden, und dass dadurch »Differenz in Form eines fortwährenden Markierens und Neumarkierens von Positionen innerhalb eines einzigen diskursiven Systems (différance) neu gefaßt werden mußte« (ebd.).
Meine These ist, dass diese Charakterisierung durchaus auf Kant zutrifft; bei ihm lässt sich die Herausbildung eines Denkens beobachten, das den Bezugspunkt der endlichen, abgeschlossenen Welt wählt und darin die Menschen in neuer Weise verortet. So diskutiert Kant die Möglichkeit eines Denkens, das von einer Einheit ausgeht und innerhalb dieses Rahmens wesentliche und unwesentliche Differenzen zu bestimmen mag (vgl. zur Herausbildung Kapitel 2, zur Einheit der Menschengattung und den ›rassischen‹ Differenzen darin Kapitel 3). Dennoch muss für Kant eine nicht unwichtige Variation dieses universalen, überschauenden Blicks betont werden, da Kant eine kritische Philosophie entwickelt und damit eine bedeutungsvolle Relativierung vornimmt. Der Zusammenhang zwischen einem überschauenden Blick und der kritischen Philosophie soll hier in aller Kürze umrissen werden.
Die Kritik bestimmt Kant in der Vorrede zur ersten Auflage in der Kritik der reinen Vernunft als Bestimmung der Quellen, des Umfangs und der Grenzen des Vernunftvermögens (vgl. KdrV A: XII). Damit benennt er bereits unterschiedliche Aspekte von Kritik. In der Vorrede zur zweiten Auflage gewichtet Kant den Moment der Grenze stärker, wenn er festhält, dass der Nutzen der Kritik der reinen Vernunft primär ein negativer sei (vgl. KdrV B: XXIV). So nimmt er – durch die Vernunft selbst – eine Eingrenzung des Vernunftgebrauchs vor, indem er den Vernunftgebrauch auf den Bereich der möglichen Erfahrungen beschränkt. Die Vernunft erkennt also, dass sie nur in bestimmter Hinsicht Erkenntnisse produzieren kann, und zwar nur, wenn sie sich auf die Erscheinung von Dingen bezieht – auf die Phaenomena. Demgegenüber können keine widerspruchsfreien Aussagen über das Ding an sich, das Noumenon, oder das Unbedingte getroffen werden – hier überschreitet die Vernunft ihre eigene Begrenzung in unzulässiger Weise. Die Selbsterkenntnis der Vernunft (vgl. ebd.: A XI) führt also zunächst zu einer Selbstbegrenzung – eine Begrenzung, die Kant in einer Fussnote als »Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft« (KdrV B: XL) bezeichnet, da die Existenz der Dinge ausserhalb unserer Wahrnehmung nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden kann. Konzentriert man sich auf diesen Aspekt von Kritik, wird deutlich, dass Kant den universalen, allumfassenden Blick auf die Welt kritisiert und ihm seine Legitimität abspricht, sofern damit Aussagen getroffen werden, die sich auf die Welt an sich beziehen.
Kant entwickelt jedoch in seinen Schriften, die er zur Theorie von ›Menschenrassen‹ verfasst, und in seiner Geschichtsphilosophie eine andere Bestimmung des kritischen Unternehmens. Denn obwohl er eine grundlegende Beschränkung der möglichen Erkenntnis vornimmt, konstatiert er zugleich ein Begehren der Vernunft, die Grenze zu überschreiten. In der Kritik der Urteilskraft ergründet Kant diese Möglichkeit. Er untersucht die Begründung für ein Denken, das zwar auf der Einsicht der Kritik der reinen Vernunft und deren grundlegender Einschränkung in erkenntnistheoretischer Hinsicht basiert, doch zugleich auch darüber hinausreicht. Kant findet in diesem kritischen Denken, das auf dem Prinzip der Zweckmässigkeit beruht, eine Möglichkeit, wie über die Grenze hinausgegangen werden kann. Denn obwohl jenseits dieser Grenze keine sichere und damit vom Verstand legitimierte Erkenntnis gewonnen werden kann, gibt es dennoch ein Begehren der Vernunft, Fragen zu Gott, zu den Dingen an sich, zur Freiheit und zum Unbedingten aufzuwerfen und mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Dieses Begehren nach einem Unbedingten ist auch verbunden mit der Frage nach einer Einheit der Natur: eine Einheit, die sich dann postulieren lässt, wenn ein Anfang angenommen werden kann, der wiederum nicht von einem anderen Anfang bedingt ist und so einen Endpunkt in einer ansonsten endlosen Reihe von Kausalverbindungen setzt.
Die Vorstellung einer solchen Einheit überschreitet aber immer schon den Bereich des möglichen Wissens. Doch Kant findet in der Form des regulativen Urteils ein Vorgehen, wie trotz der Beschränkung durch die Vernunft ein solches Denken von Einheiten möglich wird. Das regulative Urteil wird dabei in Abgrenzung zum konstitutiven erläutert: Ein konstitutives Urteil nimmt eine Subsumption einer empirischen Beobachtung unter einen allgemeinen Begriff vor, wobei die Zuordnung zwischen dem Konkreten und dem Begriff eine notwendige ist. Kant spricht deshalb auch von einem bestimmenden Urteil. Im Gegensatz dazu findet im regulativen Urteil eine losere Verbindung statt, da zwischen einem konkreten Gegenstand und einer Idee keine notwendige Verbindung hergestellt werden kann. Die Idee nimmt lediglich eine anleitende Funktion ein. Obwohl es durch regulative Urteile möglich ist, die Grenze des sicheren möglichen Wissens zu überschreiten, kann dennoch nicht mit der gleichen Sicherheit Wissen gewonnen werden. Mit diesem Verständnis von Kritik lassen sich hypothetische Aussagen treffen, deren Reichweite nicht durch eine klare Grenze angegeben wird, sondern durch den Bezug auf eine Annahme von einem Ursprung und einem Ziel – also mittels zweier Bezugspunkte, die nur angenommen, aber nicht bewiesen werden können. Für die Betrachtung der lebendigen Natur bedeutet dies, dass eine solche Erkenntnis im Rahmen eines regulativen Urteils angeleitet ist durch einen Bezugspunkt, der den Bereich der Naturerkenntnis überschreitet. Wenn also Kant im Rahmen des Denkens der Zweckmässigkeit die Einheit der Welt thematisiert, lässt sich diese Bestimmung durchaus dem panoptischen, kolonialen Blick, der zu seiner Zeit installiert wurde, zuordnen. Jedoch machen gerade seine kritischen Überlegungen deutlich, dass Aussagen über einen solchermassen abgeschlossenen Bereich Mutmassungen bleiben müssen.
Die grundlegende These der vorliegenden Arbeit ist, dass ausgehend von den Aufsätzen zum Begriff der ›Menschenrassen‹ das Denken der Zweckmässigkeit7 ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden muss. Dieses Denken der Zweckmässigkeit untersuche ich durch ein Close Reading verschiedener kantischer Texte. So entwickele ich meine Interpretation dezentriert, ausgehend von der genauen Lektüre der jeweils im Zentrum stehenden Texte. Der Zusammenhang zwischen den Kapiteln ergibt sich, weil die kantische Philosophie den Anspruch verfolgt, systematisch aufgebaut zu sein. Allerdings verstehe ich die kantische Philosophie nicht als geschlossenes System, das auf logische Widersprüche hin abgeklopft werden muss. Vielmehr folge ich der Charakterisierung von Mikkelsen (2013: 1f.): In jedem Bereich, den Kant als Teil seiner kritischen Philosophie neu ausarbeitet, überprüft er jene Konklusionen, die er vorher in Bezug auf andere Bereiche gezogen hatte. Anders gesagt, versteht Kant die einzelnen Beiträge als (funktionale) Teile einer als Einheit zu verstehenden kritischen Philosophie, was er in der Kritik der reinen Vernunft als gegliedertes Ganzes benennt (vgl. KdrV B: 860f./A: 832f.)8. Ich nehme Kant in diesem Anspruch ernst, ohne jedoch davon auszugehen, dass tatsächlich ein abgeschlossenes System vorliegt. Der Zusammenhang besteht also vielmehr im Anspruch auf diese Einheit – also einer anleitenden Idee von Einheit – und i...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titleseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Auftakt: Vorkritische Schriften zu physiologischen, ästhetischen, nationalen und kulturellen Differenzen und Geschlecht
  7. 3 Entwicklungen und Verwicklungen des Begriffs der ›Menschenrasse‹
  8. 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie
  9. 5 Die Kunst des kritischen Denkens: Kritik der ästhetischen Urteilskraft
  10. 6 Der Ort der kritischen Philosophie: Kritik der teleologischen Urteilskraft
  11. 7 Schluss
  12. 8 Danksagung
  13. Literatur