Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen"
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Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen"

III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth

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Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen"

III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth

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In den vier "Unzeitgemässen Betrachtungen" verbindet Nietzsche kritische Zeitdiagnosen mit konstruktivem Zukunftsengagement. Krisensymptome der modernen Zivilisation reflektiert er hier ebenso wie problematische Bildungs- und Wissenschaftskonzepte seiner Epoche.

Vor diesem Hintergrund avancieren Schopenhauer und Wagner in der dritten und vierten "Betrachtung" zu 'unzeitgemäßen' Vorbildern. Während Nietzsche das philosophische Ethos Schopenhauers als zukunftsweisendes Gegenmodell zur Gelehrtenkultur und zum Historismus seiner Zeitgenossen darstellt, begreift er Wagners Bayreuth-Projekt als paradigmatischen Impuls für eine Utopie kultureller Erneuerung.

Erstmals kommentiert dieser Band beide Werke umfassend in ihrem Kontext. Durch gründliche Quellenstudien rekonstruiert der Kommentar die für sie maßgeblichen Denktraditionen. Dadurch ermöglicht er neue Einsichten in kulturhistorische Horizonte und Diskurse. Zugleich tragen auch wirkungsgeschichtliche Recherchen zu einem vertieften Werkverständnis bei.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110678116

Kommentar zu Nietzsches Richard Wagner in Bayreuth

Barbara Neymeyr

Überblickskommentar

IV.1 Entstehungs- und Textgeschichte

Ursprünglich hatte N. wesentlich mehr als vier Unzeitgemässe Betrachtungen geplant. In einem nachgelassenen Fragment von 1873/74 nennt er dreizehn provisorische Titel: „Entwurf der ‚Unzeitgemässen Betrachtungen‘. 1. Der Bildungsphilister. / 2. Geschichte. / 3. Philosoph. / 4. Gelehrte. / 5. Kunst. / 6. Lehrer. / 7. Religion. / 8. Staat Krieg Nation. / 9. Presse. / 10. Naturwissenschaft. / 11. Volk Gesellschaft. / 12. Verkehr. / 13. Sprache“ (NL 1873–74, 30 [38], KSA 7, 744–745). Und am 20. Mai 1874 reflektiert N. die Ausgangskonstellation in einem Brief an Richard Wagner sogar humoristisch: „Ich habe ein ganzes Nest voll halbausgebrüteter Eier im Kopfe. Fruchtbarkeit verpflichtet, sagte die Katze als sie 13 Junge warf“ (KSB 4, Nr. 365, S. 230). Diesen Plan erhält N. auch am 25. Oktober 1874 noch aufrecht, wenn er Malwida von Meysenbug mitteilt, er habe jetzt „drei von den 13 Betrachtungen fertig und die vierte spukt im Kopfe“ (KSB 4, Nr. 398, S. 268). Aber nach der Konzeption von UB IV Richard Wagner in Bayreuth [= UB IV WB] hatte er an einer so weit ausgreifenden Unternehmung schließlich kein Interesse mehr.
Nachdem UB III SE im Oktober 1874 erschienen war, wendete sich N. der Konzeption seiner Schrift UB IV WB zu (KSA 1, 429–510). Deren Titel ‚Richard Wagner in Bayreuth‘ erscheint erstmals Anfang 1874 als Überschrift einer vorläufigen Gesamtdisposition in einer nachgelassenen Planskizze (NL 1874, 32 [18], KSA 7, 760). Den Titel nennt N. auch am 11. Februar 1874 in einem Brief an seinen Freund Carl von Gersdorff (KSB 4, Nr. 345, S. 200). In nachgelassenen Aufzeichnungen aus der gleichen Zeit (NL 1874, KSA 7, 753–775; 787–792) ist seine zwischenzeitlich gewachsene Distanz zu Wagner deutlicher zu erkennen als in der später publizierten Schrift UB IV WB, die den Zenit von N.s Wagner-Kult, zugleich aber auch bereits dessen Umschlagspunkt markiert. Diese von Irritationen keineswegs ungetrübte Eloge auf Wagner verfasste N. gezielt im Hinblick auf die für den Sommer 1876 geplante Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses, um die repräsentative Institutionalisierung der Wagnerschen Kunst zu feiern.
Die Briefe aus der Entstehungszeit von UB IV WB enthalten beinahe kontinuierlich Nachrichten zu den auf Bayreuth gerichteten Erwartungen, zu N.s gravierenden, teilweise sogar krisenhaften gesundheitlichen Problemen und zum Entstehungsprozess der Schrift selbst. Angesichts der Schwierigkeiten, auf die Wagners Bayreuth-Pläne stießen, schreibt N. am 11. Februar 1874 an Malwida von Meysenbug über das „Leiden um Bayreuth“ und befürchtet sogar, dass das Unternehmen „scheitert“ (KSB 4, Nr. 344, S. 199). Aber schon vier Tage später berichtet er Erwin Rohde von einer Zeitungsnotiz „aus bester Quelle (d. h. Frau W<agner>) dass die Aufführungen jetzt endgültig gesichert sind“. Und N. fährt fort: „So wäre denn das Wunder geschehen! Hoffen wir!“ (KSB 4, Nr. 346, S. 202). Allerdings signalisiert N. im selben Brief direkt anschließend zugleich auch bereits Distanz zu Wagners Projekt, indem er bekennt: „Es war ein trostloser Zustand, seit Neujahr, vor dem ich mich endlich nur auf die wunderlichste Weise retten konnte: ich begann mit der grössten Kälte der Betrachtung zu untersuchen, weshalb das Unternehmen misslungen sei: dabei habe ich viel gelernt und glaube jetzt Wagner viel besser zu verstehen als früher“ (KSB 4, Nr. 346, S. 202).
In einem Brief an Gustav Krug, einen anderen Freund, nimmt N. am 31. Oktober 1874 nicht nur auf die Bayreuther Szene Bezug, sondern bringt auch sein vertrautes Verhältnis zum Hause Wagner zum Ausdruck: „Nun sage einmal: wirst Du es denn so einrichten können, dass wir im nächsten Sommer zusammen in Bayreuth sind, genau, von der Mitte Juli bis Mitte August? Ich werde dort mit meiner Schwester zusammen ein Logis haben; von meinen Freunden erscheinen Gersdorff, Rohde und Overbeck. Es wird die Zeit der grossen Instrumentalproben sein. Liszt [der Vater Cosima Wagners] ist auch dort, und wer nicht. Übrigens wird die Partitur der Götterdämmerung wohl in den nächsten Wochen fertig sein; nach den letzten Berichten jammert bereits die arme Gutrune. Klindworth ist in der zweiten Scene des dritten Actes; die beiden ersten Acte sind schon fertig gedruckt, im Sommer spielte sie Klindworth mir vor, denn ich war mit ihm zusammen in ‚Wahnfried‘ ein paar Wochen zu Gaste. / Wie glücklich sind wir daran, gerade in der Zeit unserer besten Jugend, 30 Jahre alt, […] diese Bayreuther Dinge zu erleben!“ (KSB 4, Nr. 399, S. 271).
Wie eng die Verbindung zum Hause Wagner trotz vorhandener Spannungen zu dieser Zeit noch ist, zeigt auch N.s Empfehlung an die Schwester, während einer mehrwöchigen Konzertreise von Richard und Cosima Wagner „das Bayreuther Hauswesen“ und die Kinder zu betreuen (KSB 5, Nr. 422, S. 16). Am 16. Januar 1875 erkundigt sich Cosima Wagner bei N. brieflich danach, ob seine Schwester dazu bereit sein könnte, sie zu besuchen und für die Dauer der Reise als Ergänzung zum vorhandenen Hauspersonal bei ihren „Kindern als Mutter zu bleiben“ (KGB II 6/1, Nr. 625, S. 16). Und schon am 6. Februar 1875 schreibt N. an Marie Baumgartner in Lörrach, die seine UB III SE ins Französische übersetzt hatte: „Heute siedelt meine Schwester nach Bayreuth über“ (KSB 5, Nr. 423, S. 18; vgl. auch KSB 5, Nr. 424, S. 20).
Trotz zunehmender gesundheitlicher Beschwerden und trotz der Überlastung durch seine Basler Lehrverpflichtungen erklärt N. dem Freund Erwin Rohde am 28. Februar 1875 im Hinblick auf UB IV WB noch zuversichtlich: „Ostern soll die Nr. 4 fertig werden“ (KSB 5, Nr. 430, S. 27). Doch lässt sich dieser Vorsatz nicht verwirklichen, da sich immer mehr Schwierigkeiten ergeben, die auch konzeptioneller Natur sind. In einem Brief an seine Schwester seufzt N. am 19. April 1875: „Dies bringt mich auf meine Nr. 4; an der arbeite ich wieder, danke es mir der Teufel. […] Arbeit, nichts als Arbeit!“ (KSB 5, Nr. 440, S. 43). Und am 8. Mai 1875 schreibt er dem Freund Carl von Gersdorff voll Skepsis: „Mit der vierten Unzeitgem. steht es noch schlecht: zwar habe ich ungefähr 40 Seiten mehr von solcherlei Notizen, wie du sie zusammen geschrieben hast. Aber Fluss und Guss und Muth fehlt noch fürs Ganze“ (KSB 5, Nr. 443, S. 48).
In einem Nachlass-Notat aus dem Sommer 1875 betrachtet N. Wagners Schaffen als avantgardistisch und seine eigene Schrift UB IV WB als unzeitgemäß: „Wagner’s Kunst gehört nicht zur jetzigen Kunst: er ist weit voraus oder darüber. Man soll seine Existenz nicht unserm Zeitalter zum Verdienst anrechnen, zumal es alles gethan hat um seine Existenz zu verhindern. […] Meine Betrachtung Wagner’s bleibt als ‚unzeitgemäße‘ gerechtfertigt. Denn alle sonstige Kunst und Wissenschaft, die Musiker und Musikgelehrten dazu, haben ihm den Weg verlegen wollen“ (NL 1875, 11 [19], KSA 8, 205). Schon fünf Jahre zuvor hatte N. im Februar 1870 in einem Brief an Paul Deussen Wagner als „den wahren Geistesbruder Schopenhauers“ bezeichnet: als „Genius, der dasselbe furchtbar erhabene Loos empfangen hat, ein Jahrhundert früher zu kommen als er verstanden werden kann“ (KSB 3, Nr. 60, S. 98). – Bis Ende September/Anfang Oktober 1875 verfasst N. die ersten acht von insgesamt elf Kapiteln. In der Folgezeit wächst allerdings seine Unzufriedenheit mit UB IV WB. Sogar als sich die Schrift bereits kurz vor der Fertigstellung befindet, bezweifelt er ihre Qualität. Das zeigt ein Brief vom 7. Oktober 1875 an den Freund Erwin Rohde, in dem N. auch auf sein komplizierter gewordenes Verhältnis zu Wagner anspielt und zugleich erklärt: „‚Richard W. in Bayreuth‘ wird nicht gedruckt“ (KSB 5, Nr. 490, S. 119).
Schon am 12. Juli 1875 teilt N. Gustav Krug mit, er sei „seit Wochen in der Gewalt eines desperaten Magen- und Kopfleidens“ (KSB 5, Nr. 464, S. 73). Die gesundheitlichen Probleme verschlimmern sich von da an und reichen weit ins Jahr 1876 hinein. Von einer katastrophalen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes berichtet N. am 18. Januar 1876 in einem Brief an Carl von Gersdorff: „Es macht mir Mühe zu schreiben, ich will drum kurz sein. Liebster Freund, ich habe das schlimmste schmerzhafteste und unheimlichste Weihnachten hinter mir, das ich erlebt habe! Am ersten Weihnachtstage gab es, nach manchen immer häufiger kommenden Ankündigungen, einen förmlichen Zusammenbruch, ich durfte nicht mehr zweifeln, dass ich an einem ernsthaften Gehirnleiden mich zu quälen habe, und dass Magen und Augen nur durch diese Centralwirkung so zu leiden hatten. Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirnentzündung, es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht. […] Ach Bayreuth! Entweder ich darf nicht hin oder ich kann nicht hin – so schwebt es mir jetzt vor der Seele“ (KSB 5, Nr. 498, S. 132–133).
In der Zeit von Mai bis Juni 1876 bessert sich N.s gesundheitlicher Zustand immerhin vorübergehend. Diesen Spielraum kann er nutzen, um UB IV WB zügig zu Ende zu bringen. Außerdem schöpft er wieder Hoffnung, am Bayreuther ‚Ereignis‘ nun doch teilnehmen zu können. Nach einer längeren Pause zwischen Herbst 1875 und Frühjahr 1876 setzt er die Arbeit vom Mai 1876 an mit gesteigertem Tempo fort, da das Bayreuther ‚Ereignis‘ bereits für den Sommer desselben Jahres geplant ist. Eine von Heinrich Köselitz angefertigte Abschrift der ersten acht Kapitel wird Mitte Mai an die Druckerei geschickt. Zwischen Ende Mai und dem 11. Juni entstehen dann die letzten drei Kapitel von UB IV WB, und Köselitz fertigt erneut das Manuskript für die Druckerei an. Am 11. Juni 1876 meldet N. seinem Verleger Ernst Schmeitzner die Übersendung der letzten Kapitel an die Druckerei und fügt hinzu: „Eine gute Stimmung gab mir den Muth ein, den ursprünglichen Plan zu Ende durchzuführen“ (KSB 5, Nr. 532, S. 166). Aber bereits wenige Wochen später, am 7. Juli 1876, schreibt er Erwin Rohde: „es geht mir wieder, seit 3–4 Wochen miserabel, und ich muss sehen, mich bis und vor allem durch Bayreuth durchzuschlagen“ (KSB 5, Nr. 534, S. 170).
Anfang Juli 1876 erscheint UB IV WB als die letzte der vier Unzeitgemässen Betrachtungen im Verlag von Ernst Schmeitzner in Schloßchemnitz. Den Kontakt zum Verleger Schmeitzner, der bereits UB III SE publiziert hatte, verdankte N. der Vermittlung durch Paul Widemann, einen seiner ersten Bewunderer. Nachdem sich N. von seinem früheren Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch gelöst hatte, der in ökonomische Schwierigkeiten geraten war, wurde Ernst Schmeitzner zu seinem neuen Verleger. – In einem auf „Anfang Juli 1876“ datierten Brief an Cosima Wagner erklärt N., er sende ihr „die zwei Festexemplare“ seiner „neuesten Schrift“ (KSB 5, Nr. 536, S. 171). Deren Eintreffen bestätigt er dem Verleger am 14. Juli 1876 in einem nachdrücklichen Dankesbrief: „Alles ist bei mir angelangt, und Alles hat mir eine herzliche Freude gemacht. / Die Ausstattung der Festexemplare ist verschwenderisch schön. Auch die zierliche Aufsteckung der Gold-garnitur soll nicht vergessen sein“ (KSB 5, Nr. 540, S. 175). – Ausdrücklich hatte sich N. von seinem Verleger Schmeitzner Folgendes gewünscht: „es werden fünf von den mir zukommenden Freiexemplaren auf besonders schönem und starkem Papiere hergestellt (als Festexemplare)“ (KSB 5, Nr. 531, S. 166). Die Adressaten der insgesamt 30 Freiexemplare nennt N. am 25. Juni 1876 (KSB, Nr. 533, S. 167–169).
Schmeitzner, der am 28. Mai 1876 zunächst eine erste Auflage von 1000 Exemplaren geplant hatte (KGB II 6/1, Nr. 778, S. 335), sich dann aber doch zu einer Startauflage von 1500 Exemplaren entschloss, wie aus einem Brief N.s vom 30. Mai 1876 hervorgeht (KSB 5, Nr. 531, S. 165), teilt dem Autor schließlich am 17. September 1876 mit: „Die 4. Betrachtung scheint recht gut zu ‚gehen‘. Es treffen fortwährend Bestellungen darauf ein. Ich habe von den 1500 Ex<emplaren> nur noch ungefähr 300 vorräthig […]“ (KGB II 6/1, Nr. 817, S. 398).
Marie Baumgartner, die bereits UB III SE übersetzt hatte, fertigte auch zu UB IV WB eine Übersetzung ins Französische an, die – anders als im Falle von UB III SE (vgl. Schaberg 202, 71–73) – dann auch tatsächlich publiziert wurde: Der Text erschien Anfang 1877 ebenfalls bei Ernst Schmeitzner (KSA 14, 81). Detaillierte Angaben dazu macht Schaberg 2002, 79–81. N. äußerte sich in Briefen an Marie Baumgartner und an Ernst Schmeitzner enthusiastisch über diese Übersetzung, indem er sie als „eine wirklich artistische Leistung“ würdigt, als „die Vereinigung von grösster Deutlichkeit mit Schönheit und Zartgefühl des Ausdrucks“ (vgl. KSB 5, Nr. 592, S. 218). Unter Berufung auf das Urteil „von competenten Personen“ bezeichnet er sie „als ein Meisterstück“ (KSB 5, Nr. 593, S. 219). – Zur Entstehungs- und Textgeschichte von UB IV WB vgl. auch Montinari 1985, 143–147; er weist auf zwei von N. nicht bzw. nur partiell in die Schrift aufgenommene Reflexionen zu zwei „Hauptthemen“ hin: „1. Kunst und Revolution; 2. Der Dichter am Schluß der Religionen“ (ebd., 145). Zur Thematik der Revolution sowie zu den revolutionären Aktivitäten Wagners und deren Auswirkungen auf sein Kunstkonzept vgl. auch NK 448, 4–10; 451, 14–18; 475, 10–11; 476, 8–9; 504, 18–21; 504, 27–30; 508, 29–33.
Am 25. Januar 1877 erkundigte sich N.s Verleger Schmeitzner bereits nach den Plänen seines Autors zu einer fünften Unzeitgemässen Betrachtung (vgl. KGB II 6/1, S. 488–490), denn N. hatte ja ursprünglich an dreizehn Unzeitgemässe Betrachtungen gedacht (vgl. z. B. KSB 4, Nr. 398, S. 268). Zwar fand UB IV WB anlässlich der Eröffnung der Bayreuther Festspiele immerhin ca. 90 Käufer (bis dahin N.s grösster Einzelerfolg), aber insgesamt hatten N.s Bücher bislang nur wenig Absatz, so dass er von seinem früheren Projekt, dreizehn Unzeitgemässe Betrachtungen zu verfassen, Abstand nahm (vgl. Schaberg 2002, 82). So beantwortete N. Schmeitzners Ansinnen mit der rhetorischen Frage: „Wollen wir nicht die Unzeit<gemässen> Betr<achtungen> als abgeschlossen betrachten?“ (KSB 5, Nr. 593, S. 219).

IV.2 Quellen und Einzugsgebiete

Als wichtigste Basis für UB IV WB sind Wagners theoretische Schriften zu betrachten. In Form von Zitaten und Paraphrasen bestimmen sie maßgeblich die Darstellung der Kunstkonzepte Wagners und der Ideen, die er auch in anderen Bereichen entfaltete. Von zentraler Bedeutung ist Wagners theoretische Hauptschrift Oper und Drama; darüber hinaus zieht N. aber auch eine ganze Reihe weiterer Schriften Wagners heran. In den Stellenkommentaren werden diese wichtigen Quellen umfassend dokumentiert. Hinzu kommen die Libretti zu Wagners Opern, auf die N. wiederholt rekurriert.
Es lässt sich nicht sicher bestimmen, inwieweit sich N. auf Quellen stützt, wenn er im 2. Kapitel von UB IV WB mit der Retrospektive auf Wagners Biographie beginnt, die er als „Drama seines Lebens“ konzipiert (437, 1). Wahrscheinlich gehen viele Details auf persönliche Gespräche mit Wagner zurück. Nicht weniger als „23 Besuche“ machte N. dem Komponisten im Zeitraum vom 17. Mai 1869 bis zum 25. April 1872 in der „Tribschener Welt“ bei Luzern am Vierwaldstätter See (KSB 3, Nr. 214, S. 317). Noch in seiner Spätschrift Ecce homo betont N. die singuläre Bedeutung, die „der intimere Verkehr mit Richard Wagner“ für ihn gehabt habe: „ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke … Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen“ (KSA 6, 288, 5–11). – In diesem verklärenden Rückblick eskamotiert N. allerdings alle Spannungen, Ambivalenzen und Vorbehalte, die in Notaten und Briefen immer wieder deutlich zum Ausdruck kommen.
Seinem Freund Erwin Rohde berichtete N. bereits am 9. November 1868 über Wagners schauspielerhaftes Unterhaltungstalent, von dem er schon beim ersten Kennenlernen am Tag zuvor einen prägenden Eindruck erhalten hatte: „Nachher las er ein Stück aus seiner Biographie vor, die er jetzt schreibt, eine überaus ergötzliche Scene aus seinem Leipziger Studienleben, an die ich jetzt noch nicht ohne Gelächter denken kann; er schreibt übrigens außerordentlich gewandt und geistreich“ (KSB 2, Nr. 599, S. 341). – N. nahm später lebhaften Anteil an der Entstehung von Wagners Autobiographie, die allerdings erst im Jahre 1911 unter dem Titel Mein Leben erschien, fast drei Jahrzehnte nach Wagners Tod. Das freundschaftliche Verhältnis hatte nicht nur für N., sondern auch für Richard und Cosima Wagner einen besonderen Stellenwert (vgl. dazu die Belege in Kapitel IV.3 dieses Überblickskommentars).
N.s Schrift Richard Wagner in Bayreuth bietet eine psychologische Analyse von Wagners spannungsreichem und turbulentem Lebenslauf, in die zahlreiche Erfahrungen aus dem vertrauten persönlichen Umgang mit ihm eingeflossen sind. Ihre besondere Intensität gewinnt die Darstellung offensichtlich aus der besonderen Nähe zu Wagner, die es N. ermöglichte, sowohl das Faszinierende als auch das Problematische an seinem Charakter zu diagnostizieren.

IV.3 Nietzsches ambivalentes Verhältnis zu Richard Wagner im Spiegel seiner Werke, Nachlass-Notate und Briefe

Erstmals erwähnt N. den Namen des Komponisten bereits fünfzehn Jahre vor der Publikation von UB IV WB: In einem Brief an seine Mutter und Schwester wünscht er sich am 5. Dezember 1861 „irgend eine Photographie eines lebenden berühmten Mannes, z. B. Liszt oder Wagner“ (KSB 1, Nr. 290, S. 192). Doch aufgrund seiner Orientierung an einer klassizistischen Musikästhetik hatte N. in den 1860er Jahren zunächst noch über lange Zeit Distanz zu Wagners Musik. Zwar wurde er bereits in Schulpforta mit Wagners Kompositionen und mit seiner Programmatik vertraut, aber die nachträgliche Stilisierung in Ecce homo entspricht nicht der Wahrheit: „Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik. […] Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab […], war ich Wagnerianer“ (KSA 6, 289, 20–27).
Während der Bonner Studienzeit bleibt N.s Präferenz für ‚klassische‘ Stilprinzipien zunächst noch erhalten – auch unter dem Einfluss von Eduard Hanslicks Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (1854). Zwar gelangt N. bei seiner Beschäftigung mit der griechischen Tragödie, deren Ursprung er im Chor sieht, bereits 1864 zu einer positiven Einschätzung von Wagners Reform des Musiktheaters (vgl. Borchmeyer 2008, 16), aber seiner Musik gegenüber bleibt er damals noch reserviert. So urteilt er in einem Brief an Carl von Gersdoff am 11. Oktober 1866 ambivalent über einen „Klavierauszug der Walküre von Rich. Wagner“: „Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große Häßlichkeiten und M...

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  9. Sach- und Begriffsregister
  10. Personenregister