Sammlung der Geister
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Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945

  1. 529 Seiten
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Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945

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Über dieses Buch

Rudolf Eucken (1846-1926) war Philosophieprofessor in Jena, der einen lebensphilosophisch angehauchten Neoidealismus vertrat und dessen Schriften im gebildeten Bürgertum breite Resonanz fanden. 1908 erhielt er den Nobelpreis für Literatur und galt seitdem als einer der renommiertesten deutschen Intellektuellen mit internationaler Ausstrahlungskraft. Eucken sammelte in den Jahren vor 1914 einen Kreis von Anhängern und Gleichgesinnten um sich, der sich als geistig-moralische - "kulturkritische" - Sammlungsbewegung verstand. Während des Ersten Weltkriegs trat Rudolf Eucken als unermüdlicher Propagandist der deutschen Sache im Inland wie im neutralen Ausland auf. Nach dem Krieg gab sich die von ihm ins Leben gerufene Bewegung mit der Gründung des "Euckenbunds" eine feste organisatorische Gestalt mit 20-25 Ortsgruppen und mehr als 1000 Mitgliedern (darunter auch Gustav Stresemann). Der Euckenbund und die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift des Bundes ("Die Tatwelt") existierten auch nach dem Tod Rudolf Euckens 1926 weiter. Seit 1928 betrieben die Witwe des Philosophen, Irene Eucken, und ihre Tochter Ida zudem ein "Rudolf-Eucken-Haus" als internationale Begegnungsstätte der Universität Jena. Auch der Sohn Euckens, der heute viel bekanntere Nationalökonom Walter Eucken, war zeitweise in der "Eucken-Bewegung" stark engagiert. Euckenbund, Euckenhaus und "Die Tatwelt" bestanden auch nach 1933 weiter und betätigten sich, subventioniert vom Auswärtigen Amt, in der deutschen Kulturpropaganda, ohne sich aber vom Regime im Sinne der NS-Ideologie "gleichschalten" zu lassen. Im Jenaer Rudolf-Eucken-Haus fanden seit Mitte der 1930er Jahren philosophisch-wissenschaftliche Tagungen statt, an der eine ganze Reihe bekannter Geistes- und Naturwissenschaftler teilnahmen (u. a. Helmut Schelsky, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Gotthard Günther, Pascual Jordan, Gerhard Ritter, Walter Eucken). Erst nach dem Tod Irene und Ida Euckens 1941/43 löste sich der Euckenbund auf.

Die Studie verfolgt den Werdegang Rudolf Euckens, setzt sich mit seiner Philosophie und Weltanschauung auseinander und zeigt die programmatische und organisatorische Entwicklung der "Eucken-Bewegung" und deren Aktivitäten auf. Allgemein beschäftigt sich die Arbeit mit den geistigen und politischen Befindlichkeiten des kulturkritisch gesinnten liberal-konservativen Bildungsbürgertums zwischen dem wilhelminischen Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110687125
Auflage
1
Thema
History

1 Einleitung

Ein ziemlich vergessener Nobelpreisträger

Im Sommer 1906 erhielt der Jenaer Philosophieprofessor Rudolf Eucken Post aus Schweden. Ein Göteborger Kollege, Vitalis Norström, bat um die Begutachtung eines Manuskripts und fragte an, ob ihm Eucken einen deutschen Verleger für die Veröffentlichung empfehlen könne. Norström gab sich als Bewunderer der Philosophie Euckens zu erkennen. Dessen Werke seien ihm „in der Arbeit an meiner menschlichen und wissenschaftlichen Entwicklung von einer unabsehbaren Bedeutung gewesen“. Der Jenaer Ordinarius antwortete postwendend. Er habe bereits von verschiedenen Seiten gehört, dass Norström in Schweden für seine, Euckens, Philosophie eifrig und erfolgreich gewirkt habe. Deshalb habe er schon länger den Wunsch gehegt, „es möge sich zwischen uns auch eine persönliche Beziehung herstellen“. Einige Wochen später hatte Eucken Norströms Manuskript, eine kritische Auseinandersetzung mit den Lehren der schwedischen Pädagogin Ellen Key, gelesen und für gut befunden. Er hatte auch gleich einen namhaften Leipziger Verleger kontaktiert und ihm die Schrift wärmstens zur Veröffentlichung empfohlen. Von soviel freundlicher Hilfsbereitschaft geradezu überwältigt, bekannte Norström: „Ich schätze mich glücklich, dass ich Sie nunmehr nicht nur als Philosophen sondern auch als Menschen kenne.“ Kurz: Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.1
In den folgenden Jahren unterhielten die beiden Professoren einen intensiven Briefwechsel, tauschten sich ausgiebig über philosophische Fragen aus, vertrauten sich einander ihre „innersten Erlebnisse und seelischen Entwicklungen“ an und schmiedeten allerlei Pläne, wie man die gemeinsamen Grundüberzeugungen zu Gehör bringen könnte. Im März 1907 erzählte Norström dem deutschen Kollegen eher beiläufig, ihm sei die Ehre zuteil geworden, „als einer von den 18 Unsterblichen“ in die Schwedische Akademie aufgenommen zu werden. Dies war insofern eine bedeutsame Nachricht, als die Akademie in den Jahren zuvor starke internationale Beachtung erfahren hatte. Ihre Mitglieder – Schriftsteller, Philosophen, Literaturwissenschaftler – vergaben nämlich seit 1903 alljährlich den Nobelpreis für Literatur.2
Von da an nimmt die Geschichte märchenhafte Züge an. Ende 1907 teilte Norström Eucken seine Absicht mit, „Ihren Namen in Verbindung mit dem litterarischen Nobelpreis“ für das kommende Jahr zu bringen. Auch Philosophen könnten diesen Preis erhalten, ja, Nobel selbst habe die „idealistische Richtung“ der Kandidaten als wichtiges Kriterium für die Auszeichnung ausdrücklich genannt. Und wer habe in dieser Beziehung „unter den zurzeit Lebenden“ mehr geleistet als der Philosoph aus Jena, der doch als Erneuerer des Idealismus gelte?! Einige Wochen später meldete Norström nach Jena, er habe Eucken offiziell für den Literatur-Nobelpreis 1908 vorgeschlagen, und bat ihn, seine Schriften an das Nobelkomitee zu senden. Rudolf Eucken war nun einer von insgesamt 16 Kandidaten auf den am Jahresende vergebenen Preis. Zu den Favoriten zählte der deutsche Philosoph allerdings nicht unbedingt. Hoch gehandelt wurden im Vorfeld der englische Lyriker Algernon Swinburne und die schwedische Romanautorin Selma Lagerlöf. Doch hatte Norström seinem deutschen Brieffreund bereits im Vorjahr mitgeteilt, in der Akademie stünden sich „eine altkonservative Richtung, die mit sich nicht reden lässt, und eine fortschrittliche, weitherzigere, wenn nicht gerade feindlich, so doch ohne Verständnis gegenüber“. Dass Swinburne, berühmt-berüchtigt wegen seiner rauschhaften, sado-masochistisch angehauchten Gedichte, nicht bei allen Juroren auf Begeisterung stoßen würde, war vorauszusehen. Lagerlöf wiederum war dem Sekretär des Nobelpreiskomitees, Wirsén, als Vertreterin der literarischen Moderne ein Dorn im Auge. In dieser Patt-Situation handelte Norström mit den Lagerlöf-Unterstützern einen Deal aus: Würden sie durch ihr Votum seinem Freund Eucken zum Sieg verhelfen, wolle er im kommenden Jahr seine Stimme für die schwedische Schriftstellerin in die Waagschale werfen.3
Ende Oktober 1908 schrieb Norström nach Jena, die Lage im Nobelpreiskomitee sei noch „sehr bunt und unklar, doch scheinen wir gewisse Hoffnung [zu] haben schon für dieses Jahr.“ Eucken solle ihm so rasch wie möglich ein kurzes Exposé seiner Lebensansichten und ihrer Bedeutung für die gegenwärtige geistige Lage zukommen lassen, darin vor allem auch sein „Verhältnis zum Glauben an einen persönlichen Gott“ erläutern. Er wolle diesen Text „im eignen Namen soweit es geht und mit gewissen Zusätzen für unsren Zweck verwenden“. Als Rudolf Eucken drei Wochen später, am 14. November, nach einem Tag voller Gremiensitzungen von der Universität nach Hause kam, fand er dort einen Brief aus Schweden vor, in dem ihm Norström mitteilte, man habe ihn gerade zum diesjährigen Träger des Nobelpreises für Literatur erkoren.4
Es ist nun schwer vorstellbar, dass Rudolf Eucken eine solche Ehre zuteil geworden wäre, ohne dass ein Mann in der Jury gesessen hätte, der ihn in seinen Briefen gewöhnlich als „Meister und Freund“ ansprach. Der Jenaer Philosoph gilt denn auch heute als der unbekannteste unter den deutschsprachigen Literatur-Nobelpreisträgern. Seine Werke, in denen er sich mit der Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit auseinandersetzte, zum Kampf um einen geistigen Lebensinhalt aufrief oder den Sinn und Wert des Lebens auslotete, werden schon lange nicht mehr gelesen. In der neueren philosophiegeschichtlichen Handbuch- und Überblickliteratur wird der Jenaer Philosoph, wenn überhaupt, nur ganz kursorisch als Randfigur erwähnt.5 Wenn also Rudolf Eucken als Philosoph und Schriftsteller heute – möglicherweise zu recht – vergessen ist, so scheint er doch zu seinen Lebzeiten eine bekannte Figur des kulturellen Lebens gewesen zu sein. In den zeitnahen Kompendien zur Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde ihm ein fester Platz unter den bedeutenderen Denkern der Gegenwart eingeräumt. Zwischen der Jahrhundertwende und den 1920er Jahren erschienen zahlreiche Monographien, die sich mit dem Werk Rudolf Euckens auseinandersetzten.6
Die neuere Geschichtswissenschaft hat Rudolf Eucken durchaus als Intellektuellen mit Ausstrahlungskraft auf eine breitere Öffentlichkeit des späten Kaiserreichs wahrgenommen. Recht gut erforscht ist sein publizistisches Wirken als Kriegsdeuter und -propagandist 1914/18. So ordnet Barbara Beßlich dem Philosophen in ihrer Studie zum „Kulturkrieg“-Diskurs eine bedeutsame, wenn auch reichlich fragwürdige Rolle zu. Beßlich behandelt „Kulturkrieg“ als ideologisches Konstrukt, das darauf abzielte, den Ersten Weltkrieg zum Kampf der deutschen Nation zur Erhaltung ihres geistigen „Wesens“ zu stilisieren. Sie leitet dieses Konstrukt aus zivilisationskritischen Haltungen ab, die sich in den Jahrzehnten vor 1914 im deutschen Bildungsbürgertum verbreitet hatten. Ein lebensphilosophisch unterfütterter Neoidealismus, wie ihn namentlich Rudolf Eucken vertrat, habe sich gegen die Rationalität und Sachlichkeit einer als westeuropäisch deklarierten Aufklärung gewandt. Der Krieg sei schließlich von diesen Intellektuellen als Chance begriffen worden, die oft konstatierte „Kulturkrise“ der Vorkriegszeit zu überwinden. Euckens Idealismus charakterisiert Beßlich einerseits als epigonal und nostalgisch. Andererseits habe sich der Jenaer Philosoph aber an ein Publikum jenseits der Fachgelehrsamkeit gewandt, das ihn als originären Denker mit sensiblem Gespür für die Defizite der Moderne gefeiert habe. Dies wiederum habe Rudolf Eucken in den Augen seiner Zeitgenossen ausgesprochen modern erscheinen lassen.7
Peter Hoeres widmet Eucken in seiner vergleichenden Monographie zur deutschen und britischen Philosophie im Ersten Weltkrieg ein eigenes Kapitel. Er wendet sich hier allerdings gegen Beßlichs Interpretation, Eucken habe einen „Vergangenheitsdiskurs“ geführt. Es sei dem Jenaer Philosophen, so Hoeres, keineswegs um eine nostalgische Restauration des klassischen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts gegangen, sondern um eine neuartige, auf die Zukunft gerichtete Synthese. Kurt Flasch ordnet Rudolf Eucken ebenfalls die Rolle eines intellektuellen Stichwortgebers bei der „geistigen Mobilmachung“ des Bildungsbürgertums im August 1914 zu. Seine Reden und Artikel hätten einen Kanon dessen angeboten, was ein gebildeter Deutscher über den Krieg denken sollte. Eucken habe so „die terminologische Massenware markiert, die andere Intellektuelle im Weltkrieg schlicht weitergaben oder originell abwandelten“.8
Ähnlich beschreibt auch Ulrich Sieg in seiner Monographie zur deutschen Philosophie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus die Bedeutung des Jenaer Ordinarius als „Inbegriff deutscher Weltkriegsphilosophie“. Eucken habe gängigen Topoi eine gelehrte Weihe verleihen Es sei ihm so gelungen, „wohlvertraute, aber inhaltlich vage Erörterungen in Positionierungen für den Propagandakrieg zu überführen“. Sieg präsentiert Rudolf Eucken als ziemlich lausigen Philosophen, der sich von seiner eigenen, auf Breitenwirkung zielenden Rhetorik habe verleiten lassen, differenzierte Gedankenführung und argumentative Konsistenz durch kühne sprachliche Bilder zu ersetzen. Dabei habe Eucken letztlich nur conventional wisdom offeriert, bildungsbürgerliche Denkfiguren, die seinen Lesern und Zuhörern schon seit ihrer Schulzeit vertraut gewesen seien. Allerdings weise, so Sieg, gerade die Konventionalität seiner populärphilosophischen Traktate den Jenaer Ordinarius als einen eher altmodischen, an den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts orientierten Denker aus. Der aggressive Radikal-Nationalismus jüngerer Kollegen sei ihm fremd geblieben. Nach dem Krieg habe Eucken mit „seinem weihevollen Weltbild“ und seinem konzilianten Habitus schließlich vollends den Anschluss an die intellektuelle Diskurslandschaft der Zeit verloren.9
Aus einer anderen Perspektive kommt Rudolf Euckens Einfluss auf seine bildungsbürgerlichen Zeitgenossen in Gangolf Hübingers Kulturprotestantismus-Studie in den Blick. Vor allem in seinen religionsphilosophischen Schriften habe Eucken eine Neubelebung des Christentums zur unverzichtbaren Voraussetzung für eine Intensivierung des modernen Geisteslebens und Kulturbewusstseins erklärt. Damit sei dessen „neuidealistische Kulturphilosophie“ für den deutschen Kulturprotestanismus zur „interpretatorischen Achse“, zum „Königsweg“ einer angestrebten Synthese von christlichem Glauben und moderner Kultur geworden. In einem ähnlichen intellektuellen Kontext verortet auch Friedrich Wilhelm Graf den Jenaer Philosophen in seinem biographischen Aufsatz. Eucken habe „im Medium der Philosophie der Wahrheit des christlichen Glaubens Geltung zu verschaffen“ gesucht und einen neoidealistisch geläuterten Protestantismus als verbindliches Wertefundament der deutschen Gesellschaft propagiert. Graf verweist zudem auf die zahlreichen und vielfältigen Beziehungen, die Eucken zu anderen Intellektuellen verbanden. Der Jenaer Professor habe seit der Jahrhundertwende ein dichtes grenzüberschreitendes Netzwerk geknüpft und – mehr noch als zu deutschen Kollegen – in intensivem Kontakt zu ausländischen Philosophen und Theologen gestanden.10
Neuerlich ist auch der ein oder andere Versuch unternommen worden, Rudolf Eucken als Philosophen aufzuwerten. Hermann Lübbe hat 2009 in einem online veröffentlichten Text das Werk des Jenaer Professors geradezu hymnisch gewürdigt und es gegen den Ruch nationalistischer Kriegsapologetik verteidigt. Euckens Kulturphilosophie will Lübbe hier als „eine Expression von intellektuellen Erfahrungen mit Modernisierungsprozessen“ verstanden wissen, „in denen die lesende Zeitgenossenschaft weltweit eigene Erfahrungen wieder fand“. Als Publizist habe Eucken auf die „Weltanschauungskämpfe vortotalitärer Bürgerlichkeit liberalisierend“ gewirkt. Er sei zum Kreis der Persönlichkeiten zu zählen, „die die bürgerliche Kultur in die Weimarer Republik transferierten, und das in der Absicht, diese Republik lebensfähig zu machen“.11 Der ebenfalls 2009 erschienene Aufsatzband Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft stellt Rudolf Eucken im Untertitel in eine Reihe mit Edmund Husserl und Michel Foucault. Ferdinand Fellmanns Beitrag rückt Euckens Werk gedanklich in die Nähe der Phänomenologie Husserls. Er bescheinigt dem Jenaer Philosophen einen durchaus tragfähigen holistischen Ansatz vertreten zu haben. Nur habe Eucken den Anschluss an den Stilwandel des philosophischen Diskurses verpasst hat; namentlich fehle ihm „das für die nachkantische Philosophie unerlässliche bewusstseinstheoretische Fundament“.12 Uwe Dathe und Nils Goldschmidt haben schließlich den Einfluss von Rudolf Euckens philosophischem Denken im Werk seines heute wesentlichen bekannteren Sohnes, des Nationalökonomen Walter Eucken, ausgemacht.13
Die Beschäftigung mit der Person Rudolf Euckens ist in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuletzt durch die Zugänglichmachung seines umfangreichen Nachlasses in der Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek Jena gefördert worden. Uwe Dathe, der diesen Nachlass akribisch geordnet und katalogisiert hat, hat seit der Jahrtausendwende eine ganze Reihe von Aufsätzen zum Leben und Werk Euckens vorgelegt. Er hat dabei den Jenaer Philosophen als Unterstützer der ukrainischen Nationalbewegung im Ersten Weltkrieg vorgestellt, ihn als Pionier der Begriffsgeschichte gewürdigt, Euckens frühe Verbindung mit dem Berliner Philosophen und Wissenschaftspolitiker Friedrich Adolf Trendelenburg näher beleuchtet u. a. m. Andere Jenaer Historiker sind in ihren Forschungen zur Stadt- und Universitätsgeschichte auf Rudolf Eucken (und vor allem seine Frau Irene) als Förderer zeitgenössischer moderner Künstler gestoßen oder haben auf sein Engagement in der Lehrerbildung hingewiesen.14 Bei einigen Autoren, die sich auf die ein oder andere Weise mit der Person Rudolf Euckens beschäftigen, findet auch eine weitere Aktivität des Philosophen Erwähnung. Eucken hat nämlich nach dem Ersten Weltkrieg seine Anhänger in einem „Euckenbund“ gesammelt, der über seinen Tod 1926 hinweg Bestand hatte. Dieser Bund gab seit 1925 auch eine Zeitschrift heraus, Die Tatwelt, die bis in die frühen 1940er Jahre erschien.15

Bildungsbürgertum, Kulturkritik und Moderne

Worum es in Rudolf Euckens Werken und Schriften geht, das hat sich im einleitenden Forschungsüberblick bereits in vagen Umrissen angedeutet. Es ist dabei von Euckens Diagnose einer „Kulturkrise“ und deren Überwindung die Rede gewesen. Er wird als Vertreter einer philosophischen Richtung, des Idealismus, vorgestellt, die augenscheinlich schon als etwas überholt galt. Er stand offenbar in einer spezifischen Bildungstradition, der „neuhumanistischen“, und sprach ein gleichgesinntes „bildungsbürgerliches“ Publikum an. Seine Interpreten sind sich nicht ganz einig darüber, wie „modern“ oder zeitgemäß Euckens Ideen und Haltungen waren. Einer seiner neueren Biographen sah sich offensichtlich veranlasst, den Jenaer Philosophen von „totalitären“ Denkern abzugrenzen, ihn zu einem Protagonisten liberaler, bürgerlicher Werte, ja zu einem Verteidiger der Weimarer Demokratie zu erklären.
Diese Stichworte verweisen allesamt auf ein verbreitetes historiographisches Narrativ, einen Interpretationsrahmen, in dem das deutsche Bildungsbürgertum in der Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte behandelt worden ist. „Bildungsbürgertum“ wird in diesem Zusammenhang gewöhnlich als eine soziale Formation verstanden, deren gruppenbildende Gemeinsamkeit auf einem spezifisch deutschen Verständnis von Persönlichkeitsentwicklung – eben „Bildung“ – beruhte. Bildung in diesem Sinne meint einen Prozess, in dem sich der Einzelne selbsttätig nach seinen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu vervollkommnen trachtet, um eine mündige, innengeleitete, sein Leben an moralischen Leitideen ausrichtende sittliche Persönlichkeit auszubilden. Die aktive Auseinandersetzung mit „wertvollen“ Bildungsgütern – den antiken Sprachen, der Literatur, der Philosophie, der bildenden Kunst, der klassischen Musik – galt als vornehmliches Mittel, um diesen Prozess voranzutreiben. Das humanistische Bildungskonzept schöpfte aus der idealistischen Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert – Kant, Fichte, Schelling, Hegel – wie aus den literarischen Werken und theoretischen Schriften Schillers und Goethes. Formuliert wurde dieses Programm von zeitgenössischen Pädagogen und Bildungsreformern, vor allem Wilhelm von Humboldt, und praktisch umgesetzt wurde es in der Einrichtung des humanistischen Gymnasiums als höherer Regelschule. Zwar war das gymnasiale Curriculum konzeptionell auf die Vermittlung zweckfreien Bildungswissens ausgerichtet und nicht auf die Weitergabe beruflich nutzbarer Kenntnisse. Doch besaß die humanistische Bildung durchaus zentrale Bedeutung für die bildungsbürgerliche Karriereplanung. Der Zugang zum freien akademischen Beruf und zur höheren Laufbahn im öffentlichen Dienst wurde nämlich in Preußen und bald auch in den anderen deutschen Staaten an den Erwerb der gymnasialen Hochschulreife und ein anschließendes Universitätsstudium gebunden. Der gemeinsame Bildungsgang gab im 19. Jahrhundert einem Bildungsbürgertum soziale Kontur, das als geistige – „gebildete“ – Elite selbstbewusst Anspruch auf öffentliche Meinungsführerschaft erhob.16
Am Ende des 19. Jahrhunderts zirkulierten aber in den bildungsbürgerlichen Diskurskreisen zunehmend Gegenwartsdiagnosen, die eine Krise des Geistes, die Verflachung, den Niedergang, den Verfall der zeitgenössischen Kultur diagnostizierten. Man beklagte das Umsichgreifen eines „geistlosen“ Materialismus, die „Vermassung“ und geistige Nivellierung der Gesellschaft, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Der Philosoph und sein Werk
  7. 3 Resonanzen und Kreise: Die Formierung einer kulturkritischen Bewegung.
  8. 4 Im Krieg der Geister 1914–1918
  9. 5 Der Euckenbund 1918/19–1926
  10. 6 Bund ohne Meister 1926–1933
  11. 7 Die Eucken-Bewegung im Nationalsozialismus
  12. 8 Fazit
  13. Anhang
  14. Namensregister