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Die Prozesse gegen John Demjanjuk

  1. 297 Seiten
  2. German
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Die Prozesse gegen John Demjanjuk

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Über dieses Buch

Die fundierte Analyse des Verfahrens gegen einen NS-Täter, der zwischen 1987 und 2011 in drei Staaten vor Gericht stand.Im Auftrag von Harper`s Magazine kam der amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas im Herbst 2009 nach Deutschland, um über den Prozess gegen John Demjanjuk zu berichten, der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt war. Als »Hilfswilliger« der SS hatte der inzwischen 89-jährige gebürtige Ukrainer zwischen 1942 und 1945 in mehreren nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern Dienst getan.Lawrence Douglas schildert den Prozess gegen Demjanjuk vor dem Landgericht München II als Höhepunkt einer mehr als drei Jahrzehnte dauernden juristischen Auseinandersetzung: Der einstige »Trawniki« Iwan Demjanjuk hatte bereits in Israel und in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestanden und war im Mai 2009 nach Deutschland ausgeliefert worden. Mit seiner tiefgreifenden Analyse der drei Prozesse gibt Douglas Antworten auf drängende Fragen, die nationale und internationale Strafgerichtshöfe seit den Nürnberger Prozessen beschäftigen. Lawrence R. Douglas plädiert für eine (inter-)national starke Justiz, die frühere Fehler erkennt und korrigiert.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783835344631
Auflage
1
Thema
History

1. Der Anfang vom Ende von etwas

München, 30. November 2009, 7 Uhr morgens. Die Stadt ist ruhig und der Morgenhimmel noch dunkel, doch auf dem Platz an der Nymphenburger Straße drängen sich die Ü-Wagen von Radio- und Fernsehsendern mit ihren brummenden Generatoren. Hunderte von Journalisten und Zuschauern warten vor dem Gericht, wir haben uns alle warm angezogen, um der Novemberkälte zu trotzen. Am Vortag hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass deutlich mehr Journalisten akkreditiert worden seien, als der Gerichtssaal fassen kann. Als die Menge anwächst, beginnt das Gedränge.[1] Ein Mann im Anzug und mit Kippa läuft um die Menschenmenge herum und verteilt schweigend Kerzen; Noah Klieger, ein pensionierter israelischer Journalist und Auschwitz-Überlebender, meint trocken zu mir: »Diese Prozesse ziehen die Verrückten an.«
In einer Presseerklärung hatte das Gericht angekündigt, dass der Einlass für akkreditierte Journalisten um 8 Uhr beginnt, doch der Polizist, dem die Erklärung gezeigt wird, blickt so verdutzt, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ein Kollege von ihm erteilt derweil lauthals unverständliche Anweisungen. Obwohl die Polizei sechs Monate Zeit hatte, sich auf diesen Tag vorzubereiten, wirkt sie planlos und überfordert, sie improvisiert aus dem Stegreif. Recht bald ist das einzige Gesprächsthema unter den Journalisten nicht mehr der bevorstehende Prozess, sondern das erstaunliche Fehlen jeder Koordination bei seiner Eröffnung. Eine rasch entworfene Protesterklärung wird durch die Menge gereicht, die Unterzeichnenden beklagen die organisatorische Inkompetenz. Doch vergeblich. Es vergehen zwei Stunden. Ein Korrespondent des Bayerischen Rundfunks ruft: »Ab 9 Uhr 45 wird zurückgeschossen!« – eine Anspielung auf die Worte, mit denen Hitler den Beginn des Zweiten Weltkrieges verkündet hatte.
Anstatt durch Spaliere eine geordnete Schlange zu bilden, pferchen die Beamten die Menge nun aus unerfindlichen Gründen zu einem groben Trichter zusammen, der auf eine einzige Eingangstür zuläuft. Ein Schild weist den Bereich als »Demjanjuk-Sammelzone« aus. Hat sich hier jemand einen fragwürdigen Scherz erlaubt? Die NS-Zeit hat die deutsche Sprache kontaminiert und grauenvolle Assoziationen hinterlassen, das Wort »Sammelzone« erinnert an die Orte, an die sich Juden begeben mussten, um von dort in die Zentren des Todes verfrachtet zu werden. »Das Einzige, was fehlt«, kommentiert ein in der Menge eingekeilter Mann, »sind die Eisenbahngleise.« Für manche ruft die Tatsache, dass eine Menschenmenge, in der sich viele israelische Journalisten und mehrere Holocaust-Überlebende befinden, auf einen schmalen Eingang hin getrieben wird, bestimmte Bilder wach, die man nicht übergehen kann. Andere, vielleicht besonders die Deutschen, finden die mangelhafte Organisation dagegen beruhigend. Schließlich war die SS furchterregend effizient. Nicht so die Münchner Polizei. Seht her, wir haben uns geändert.
Mit vier Stunden Verspätung – auf das endlose Warten folgten Sicherheitskontrollen inklusive Abtasten – gelingt es mir, Gerichtssaal A 101 zu betreten. Dieser gilt als der sicherste in München, gebaut in den siebziger Jahren für die mit großem öffentlichen Interesse verfolgten Prozesse gegen Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe, wobei er für diesen Zweck letztlich kaum genutzt wurde. Der fensterlose achteckige Saal gleicht einer Kreuzung aus schäbigem Seminarraum, schmuckloser Lutheranerkapelle und Luftschutzbunker. Die Gewölbedecke hat einen brutalistischen Touch: Als Dekoration gedacht, hängen massive Betonblöcke drohend von ihr herab, scheinbar bereit, sich jeden Augenblick von ihr zu lösen und die Zuschauer unter sich zu begraben. Zumindest den amerikanischen Besucher erstaunt es zudem, dass nirgends eine Nationalfahne oder bayerische Flagge zu sehen ist, auch keinerlei ikonografische Waage der Gerechtigkeit weist den Raum als Gerichtssaal aus. Allein ein schlichtes Holzkreuz ziert die Wände.
Dennoch herrscht feierliche Stimmung im Saal, vielleicht weil die Anwesenden sich zu den Glücklichen zählen dürfen, die es hineingeschafft haben – die Hälfte der Menschenmenge musste draußen bleiben. Die zunächst geplante Videoübertragung in einen Nebenraum wurde aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken gekippt, denn die Übertragung von Gerichtsprozessen gilt im deutschen Recht als Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Angeklagten. Aus demselben Grund folgen deutsche Zeitungen der eigenartigen Praxis, Angeklagte durch ein Initial zu anonymisieren – »John (Iwan) D. wurde heute vor Gericht angeklagt.« Das gewaltige öffentliche Interesse an dem Prozess macht die Schreibregel in diesem Fall zwar hinfällig, doch die Videoübertragung wirft eine diffizile Frage auf: Wäre sie nicht bloß eine räumliche Erweiterung des Gerichtssaals – oder praktisch dasselbe, als würde man den Prozess zur besten Sendezeit in die bayerische Provinz ausstrahlen?
Um keinen Anlass für einen Revisionsgrund zu bieten, bevor der Prozess überhaupt begonnen hat, geht das Münchner Gericht auf Nummer sicher: Es wird keine Videoübertragung in einen zusätzlichen Raum geben – eine Entscheidung, die den Zorn von Michel Friedman hervorruft. Mit seinem Kamelhaarmantel, dem saisonuntypischen Teint, in schwarzem Anzug, Hemd und Schlips könnte Friedman, ehemals Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses und Fernsehmoderator, auch als ein Sänger aus Las Vegas durchgehen; wütend prangert er die Entscheidung des Gerichts vor einer Schar eifrig lauschender Journalisten an. Korrespondenten aus aller Welt drängen sich im Saal, um berühmte Nazi-Jäger und andere namhafte Vertreter der europäisch-jüdischen Community zu interviewen. Serge Klarsfeld – jener Franzose, der zur Festnahme und Anklage von Klaus Barbie beitrug – unterhält sich mit Efraim Zuroff, Direktor des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Center, der weltweit wichtigsten Organisation für das Aufspüren von NS-Tätern, auf deren Fahndungsliste Demjanjuk zuletzt an oberster Stelle stand.[2] Journalisten umgeben sie und versuchen, Gesprächsfetzen mitzuschreiben.
Plötzlich erstirbt das Stimmengewirr im Gerichtssaal A 101, als sich eine Seitentür öffnet. Begleitet von zwei Sanitätern und einem vom Gericht benannten Arzt wird der Angeklagte im Rollstuhl in den Saal geschoben. Eine himmelblaue Decke, die er sich bis unter das Kinn gezogen hat, verhüllt seinen gesamten Körper, die Schirmmütze ragt tief ins Gesicht. Er hat die Augen geschlossen; ob er schläft oder nur das Blitzlichtgewitter abwehren will, ist unklar. Fotografen und Kameramänner drängeln sich vor dem Rollstuhl und halten wie besessen drauf, so als sei gerade Gisele Bündchen in den Münchner Gerichtssaal stolziert. Demjanjuks Mund steht offen, der Angeklagte scheint etwas zu murmeln oder vor Schmerz zu stöhnen. Kameras blitzen. Ein hilfloser, an den Rollstuhl gefesselter alter Mann, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht einer rücksichtslosen Öffentlichkeit zu erwehren sucht: Es ist kein Anblick, der die Strafjustiz in ein glanzvolles Licht setzt. Die Decke rutscht kurz von Demjanjuks Füßen, zum Vorschein kommen flotte Puma-Turnschuhe, die schlecht ins Bild passen.
Um 11 Uhr 15 betreten drei Richter in Roben den Saal, begleitet von zwei Schöffen und deren Ergänzungsschöffen, und nehmen hinter einem halbrunden, leicht erhöhten dunklen Nussbaumtisch Platz. Wir werden gebeten, uns zu setzen, und der Vorsitzende Richter, ein 62-Jähriger namens Ralph Alt, ruft das Gericht höflich zur Ordnung. »Ich […] bitte vorab um Entschuldigung für die Verspätung«, beginnt er. »Wir haben die Dauer der Einlassprozedur nicht abschätzen können.« Durch das Publikum geht spöttisches Gelächter. (Später räumt der Gerichtspräsident ein, es habe »Koordinationsprobleme« gegeben, die Vorbereitung sei »nicht optimal« gewesen.[3]) Alt hat eine Glatze, trägt Bart und Brille, er spricht leise und ist das Mikrofon offenbar nicht gewohnt, jedenfalls drückt er unnötig fest auf den Knopf. Der passionierte Schachspieler gilt als gewissenhafter, intelligenter Jurist und Experte für Wirtschaftskriminalität.[4] Einen Prozess wegen NS-Verbrechen, zumal einen international beachteten, hat er allerdings noch nie geleitet. Während des gesamten Verfahrens wird er darauf bedacht sein, den Fall Demjanjuk wie einen gewöhnlichen Strafprozess vor einem gewöhnlichen deutschen Gericht zu verhandeln. Was immer die Mängel einer solchen Herangehensweise sein mögen – Mängel, die bereits in der schlechten Vorbereitung des Gerichts auf den Andrang am ersten Tag deutlich werden –, ungewöhnlich ist sie keineswegs. Seit der Gründung der Bundesrepublik hat die deutsche Justiz stets darauf beharrt, dass NS-Verbrechen wie gewöhnliche Verbrechen zu behandeln seien, deren Ahndung keinerlei besondere Gerichte, Verfahrensregeln oder Gesetze erfordere.
Diesen Ansatz wird Demjanjuks Verteidigung bei jeder Gelegenheit prüfen, hinterfragen und angreifen. Kaum hat sich Richter Alt für das logistische Chaos entschuldigt, erhebt sich Ulrich Busch, ein hochgewachsener, bärtiger und cholerischer Strafverteidiger aus Ratingen, der Demjanjuk als Wahlpflichtverteidiger federführend vertritt. Er versucht den Prozess mit einem Einspruch wegen Befangenheit zu Fall zu bringen. Normalerweise zielt dies auf persönliche Voreingenommenheit eines bestimmten Richters gegen den Angeklagten, doch Buschs Eröffnungssalve richtet sich gegen das gesamte deutsche Rechtswesen. Immer wieder wird er diesen Vorwurf erheben: Die deutsche Justiz versuche ihre jämmerliche Bilanz bei der Verfolgung von NS-Tätern auszugleichen, indem sie einem Mann den Prozess mache, der kein Deutscher ist und niemals Nationalsozialist gewesen sei. Die Anklage gegen seinen Mandanten, führt Busch wütend aus, zeuge von einem moralischen und juristischen Doppelstandard, einer Verzerrung der Geschichte und einem klaren Verstoß gegen die Verfassung. Was sei mit den hochrangigen SS-Männern, die entweder freigesprochen oder nicht einmal angeklagt wurden? Man dürfe nicht vergessen, so Busch mit lauter Stimme, dass sein Mandant Kriegsgefangener der Wehrmacht gewesen sei. Die Tötung von Rotarmisten in deutscher Kriegsgefangenschaft sei der erste Holocaust gewesen! Ukrainische Hilfskräfte und Wachmänner in den Todeslagern hätten keine größeren Handlungsspielräume gehabt als die Juden selbst! Sein Mandant sei nie im Visier deutscher Ermittler gewesen, bis die Amerikaner ihnen den Fall aufgenötigt und Demjanjuk »zwangsdeportiert« hätten. Es würden neue Maßstäbe gegen ihn angelegt, die Spielregeln geändert.
Buschs monotoner Redeschwall hält an, während die Parallele, die er zwischen seinem Mandanten und den jüdischen Völkermordopfern zieht, für ungläubiges Murmeln unter den Zuschauern und Journalisten sorgt. Doch mit dieser Eröffnung macht er die Strategie der Verteidigung deutlich: Es gilt, dem Prozess grundsätzlich jede Legitimität abzusprechen. Bei gewöhnlichen Prozessen bewegt sich das Recht in einer sicheren Zone; die Absichten und Motive der Anklage sowie der Grund für die Verhängung einer Strafe sind gemeinhin nicht umstritten. Das Strafrecht zieht eine Linie zwischen staatlich erlaubter und staatlich verbotener Gewalt – zwischen Strafe und Delikt –, und in den allermeisten Fällen wird diese Linie ebenso wenig in Frage gestellt wie die Befugnis des Staates, sie zu ziehen. Nicht so bei politischen Prozessen. Sie verwischen die Unterscheidung zwischen den beiden Formen von Gewalt und rücken Absichten wie Vorgehensweise der Anklage in ein zweifelhaftes Licht.[5] Busch wird versuchen, das Verfahren gegen seinen Mandanten als einen politischen Prozess zu entlarven und allenthalben die Motive, Zwecke sowie die mangelnde Legitimität und Fairness des Verfahrens anzugreifen.
Es ist 11 Uhr 50. Schon nach einer guten halben Stunde hat der Prozess genau das geliefert, wonach die globalen Medien bei einem juristischen Spektakel gieren: lärmendes Durcheinander – ein dramatischer Auftritt des leidenden, im Rollstuhl sitzenden Angeklagten, gefolgt von der aufrührerischen Eröffnungsrede seines Anwalts. Draußen auf der Nymphenburger Straße gehen die Fernsehteams vor dem Gerichtsgebäude in Stellung, um ihre Korrespondenten um erste Eindrücke zu bitten, während die Journalisten der Presseagenturen im Gang vor dem Verhandlungssaal auf dem Boden sitzen, ihre Notizen vor sich ausgebreitet und emsig in die Laptops tippend, die durch tragbare Geräte mit dem Internet verbunden sind.
Demjanjuks Rückkehr in den Gerichtssaal nach der Mittagspause verstärkt die aufgeregte Atmosphäre noch weiter. Der Rollstuhl ist verschwunden, ersetzt durch eine wuchtige orange Bahre. Der Angeklagte liegt flach auf dem Rücken, die weiße Decke – so scheint es von meinem Platz aus – über den Kopf gezogen: Er muss beim Mittagessen gestorben sein, eine Leiche wurde in den Saal gerollt und soll sich nun vor Gericht verantworten.
Bei ihrem Angriff auf die Legitimität des Verfahrens setzt die Verteidigung eindeutig darauf, dass sich bestimmte Bilder des Angeklagten als wirkungsvollste Waffe erweisen könnten. Journalisten, die die gespenstische Erscheinung gesehen haben, machen sich hastig Notizen, während Cornelius Nestler, ein Strafrechtsprofessor, der Angehörige von Sobibór-Opfern vertritt, von seinem Platz aufspringt. Nicht anders als Busch ist ihm vollkommen klar, dass der Prozess gegen Demjanjuk mehr ist als ein Kolloquium, in dem es um Beweise und Gesetze geht; er ist ein Kampf um Bilder, die weltweit übertragen werden. Dieser Kampf hat bereits vor Demjanjuks Ankunft in Deutschland begonnen. Um seine gerichtlich angeordnete Abschiebung aus den Vereinigten Staaten anzufechten, stellte die Familie des Angeklagten ein Video ins Internet, das einen angeblich sehr geschwächten, ja im Sterben liegenden Demjanjuk bei einer medizinischen Untersuchung zeigt. Sonderbeamte der Einwanderungsbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement), einer Abteilung der Homeland Security, reagierten darauf mit denselben Mitteln: Sie filmten heimlich einen offenbar durchaus gesunden Demjanjuk, der ohne fremde Hilfe laufen kann und in das Auto seiner Tochter steigt.[6]
»Herr Vorsitzender«, sagt Nestler, »ich wüsste gerne, […] warum er da so liegt.« Das dreiköpfige Ärzteteam bespricht sich kurz und gibt an, der Angeklagte habe erklärt, dass ihm das Sitzen schwerfalle. Nestler fragt, ob es möglich wäre, ihn aufzurichten. Mithilfe einer ukrainischen Dolmetscherin spricht der leitende Arzt mit Demjanjuk, der den Vorschlag offenbar ablehnt. Nun erhebt sich ein zweiter Anwalt, der Familien von Opfern vertritt, und gestikuliert verärgert in Richtung der Bahre. »Das Bild, das sich von hier mit den blauen Decken zeigt, ist ein sehr befremdliches Bild.« Das Gericht verkündet eine Unterbrechung, um das Problem zu besprechen, und ein Kompromiss ist schnell gefunden: Der Angeklagte darf weiter auf der Bahre liegen, wird aber im 45-Grad-Winkel aufgerichtet.
Zu diesem Auftakt eines Prozesses, der sich als quälend lang erweisen wird, passt es, dass die verbleibenden Stunden medizinischen Gutachten darüber gewidmet sind, ob Demjanjuks Verfassung eine Gerichtsverhandlung überhaupt zulässt. Drei Ärzte beschreiben abwechselnd seine diversen Gebrechen, darunter Gicht, Gallensteine, myelodysplastisches Syndrom – eine Knochenmarkerkrankung, die sich zu Leukämie auswachsen kann – und spinale Stenose, eine Verengung des Wirbelkanals. Einer der drei, Prof. Dr. Albrecht Stein, wird in den kommenden Monaten für die Beobachtung von Demjanjuks Gesundheitszustand verantwortlich sein und damit als einer der wichtigsten Akteure in dem Prozess auftreten. Herausgeputzt in einem doppelreihigen Dreiteiler im Stil der achtziger Jahre und mit einer juwelenbesetzten, smaragdgrünen Uhr samt farblich passendem Armband wirkt er ein wenig wie ein dandyhafter Kurpfuscher aus einem Fassbinder-Film. Mit piepsiger, überdrehter Stimme erklärt Stein, trotz etlicher chronischer Beschwerden sei der Angeklagte verhandlungsfähig. Darüber sind sich die drei Mediziner einig, trotzdem empfehlen sie angesichts des hohen Alters und des Gesundheitszustands des Angeklagten einen reduzierten Verhandlungsplan: maximal drei Sitzungen wöchentlich, die jeweils nicht länger als drei Stunden dauern sollten.
Die Aussagen der Mediziner wären nicht weiter bemerkenswert, spielte sich im Hintergrund nicht eine groteske Pantomime ab. Während die Ärzte sachkundig seine Verhandlungsfähigkeit bezeugen, führt Demjanjuk ein Schauspiel des Gebrechens und stummen Leidens auf. Sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse; er fasst sich an die Stirn; mit Mühe befeuchtet er seine ausgetrockneten Lippen; steif bewegt er die Arme und liegt mit weit geöffnetem Mund wie ein sterbender See-Elefant da. Der surreale Kontrast zwischen dem Befund der Gutachter und dem wortlos leidenden Patienten wäre Stoff für Monty Python; die Journalisten im Saal werfen sich fragende Blicke zu. Die einhellige Meinung lautet, dass der Patient simuliert und die Verteidigung die Märtyrer-Karte überreizt. Demjanjuks Auftritt gibt dem Begriff »Schauprozess« eine ganz neue Bedeutung. Ein Beobachter vergleicht das Geschehen mit einem Stück von Ionesco.[7]
In den folgenden Wochen wird Demjanjuk reglos bleiben, die Baseballmütze ins Gesicht gezogen, die Augen hinter dunklen Gläsern verborgen. Doch die Grimassen, der schmerzverzerrte Blick, das leise Stöhnen hören auf. Offenbar hat ihm jemand mitgeteilt, dass es ratsam wäre, die dramatische Inszenierung etwas zu dämpfen.

2. John in Amerika

Der Weg, der vom Gerichtssaal A 101 zurück zu einer ursprünglichen Schuld des Angeklagten führt, ist lang und verschlungen. Er zieht sich durch die Regionen der furchtbarsten Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts. Iwan Demjanjuk wurde 1920 in Dubowi Macharynzi geboren, einem kleinen Dorf im Westen der Ukraine, in dem die Bauern ein ruhiges, kärgliches Leben führten, das sich von dem ihrer mittelalterlichen Vorfahren kaum unterschied. Doch der Ort lag auch direkt auf dem Pfad der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in jenem osteuropäischen Korridor, in dem einfache Menschen millionenfach zum Tod verurteilt waren, weil sie im Schnittpunkt der grausamen Politik zweier machtvoller Nationalstaaten gefangen waren – der von Stalin forcierten Hungersnöte und der Völkermordpolitik Hitlers. Demjanjuk war ein einfacher Mann, er wollte nie mehr, als ein unauffälliges und ungestörtes Leben führen, doch die Geschichte bestimmte ihn dazu, zum Inbegriff der groben, durchtriebenen Figur zu werden, die ihre eigene Haut durch Kollaboration rettet.
Demjanjuks Eltern waren beide Invaliden; sein Vater verlor im Ersten Weltkrieg mehrere Finger der linken Hand, seine Mutter bekam ein steifes rechtes Bein, als sie mit ihrem Sohn schwanger war, und blieb ein Jahr lang bettlägerig.[1] Demjanjuk erhielt nach eigenen Angaben wenig Bildung, mit Unterbrechungen besuchte er neun Jahre lang die Schule, schaffte es aber nur, die vierte Klasse abzuschließen. Er war zwölf, als die große Hungersnot begann. Auf Ukrainisch Holodomor genannt, kostete sie nach einschlägigen Schätzungen rund drei Millionen Menschen das Leben. Historiker deuten diese Katastrophe zumeist als Folge eines drastischen Rückgangs der landwirtschaftlichen Produktivität, den die rücksichtslose Zwangskollektivierung durch die Sowjets zur Folge hatte.[2] Ukrainer sehen sie dagegen zumeist als einen vorsätzlichen Völkermord. Bei der Vernehmung in seinem Ausweisungsverfahren im Jahr 1984 erklärte Demjanjuk, »die ganze Welt« wisse, »dass der Hunger absichtlich herbeigeführt wurde, um die ukrainische Nation zu vernichten«.[3] In seinem Jerusalemer Prozess bezifferte er die Zahl der Opfer auf sieben Millionen, eine demonstrative Überbietung der allgemein anerkannten Zahl der jüdischen Holocaust-Opfer.[4] Holodomor, ein Begriff, der in den späten siebziger Jahren unter Ukrainern in den Vereinigten Staaten aufkam, bedeutet grob übersetzt »Vernichtung durch Hunger«.
Demjanj...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. 1. Der Anfang vom Ende von etwas
  7. 2. John in Amerika
  8. 3. Iwan in Israel
  9. 4. Die ewige Wiederkehr des John Demjanjuk
  10. 5. Demjanjuk in München
  11. 6. Was damals Recht war …
  12. 7. Geschichte ohne Erinnerung
  13. 8. Historiker finden das Recht
  14. 9. Der richtige falsche Mann
  15. Nachwort
  16. Dank
  17. Quellen und Literatur
  18. Personenverzeichnis
  19. Anmerkungen