Die Wirkungsmacht der Krise
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Die Wirkungsmacht der Krise

Strategischer Einsatz des Krisen-Topos in den Parteiprogrammen der BRD von 1949 bis 2017

  1. 407 Seiten
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Die Wirkungsmacht der Krise

Strategischer Einsatz des Krisen-Topos in den Parteiprogrammen der BRD von 1949 bis 2017

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Über dieses Buch

Die Krise ist ein omnipräsentes Phänomen in unserer Gesellschaft. Was eine Krise jedoch grundlegend charakterisiert wurde von der Forschung bislang nur unzureichend ermittelt. Dieser Lücke nimmt sich das Buch an. Die Sichtweise der Rhetorik als Erforschung strategischer Kommunikationsprozesse ist dafür eine hilfreiche Ausgangslage: Zeitgleich existieren ganz unterschiedliche Krisenauffassungen. Wir müssen daher stets beachten, wer wann von einer Krise spricht. Eine groß angelegte Korpusanalyse der Parteiprogramme in der BRD von 1949 bis 2017 ermöglicht den Krisen-Topos unter Beachtung unterschiedlicher ideologisch motivierter Perspektiven näher zu beleuchten. Die Krise ist ein argumentativer Joker mit dem sich politische Reformen begründen lassen, eigene Verdienste gelobt werden können und die Versäumnisse des politischen Gegners angeprangert werden können. Mithilfe des Krisen-Topos decken die Parteien vermeintlich lang verschüttete Missstände auf und rufen zu Wandel und Neuausrichtung auf. Die Ergebnisse der Analyse können sowohl genutzt werden, um Krisendiskurse zukünftig besser zu verstehen als auch um sie aktiv mitzugestalten.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110665413

1 Rhetorik als ‚Wissenschaft der Krise‘

In der bisherigen Forschung ist ein großes Versäumnis zu beklagen: In den Forschungsbereichen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft finden sich zwar zahlreiche Publikationen zum Phänomen der ‚Krise‘, doch wird dieses dort meist nur resort- oder einzelfallspezifisch betrachtet. Während in den Wirtschaftswissenschaften detaillierte Analysen der Ursachen und Bewältigungsstrategien für volkswirtschaftliche und unternehmerische Krisen hervorgebracht werden,1 befleißigen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften meist erst mit der Ausrufung und dann der Reflexion von Krisen in bestimmten gesellschaftlichen Epochen oder in ihrer eigenen Disziplin. Von der ‚Krise der Literatur‘ über die ‚Krise der Geisteswissenschaften‘, der ‚Krise der Soziologie‘ bis hin zur ‚Krise der Moderne‘ ist die Liste hier lang.2 In den meisten Fällen wird die Existenz einer Krise angenommen und für den spezifischen Fall begründet, eine vermeintliche Krise ist damit der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Betätigung. Oftmals veranlasst die aktuelle Flut der Krisendiagnosen im medialen und gesellschaftlichen Diskurs WissenschaftlerInnen dazu, sich mit einer einzelnen Krise näher zu befassen. Die Aktualität und auch Brisanz großer Krisen kann von der Wissenschaft nicht mit Missachtung gestraft werden und so drängt eine Krise die WissenschaftlerInnen der einzelnen Disziplinen dazu, das Geschehen mithilfe der jeweiligen disziplinspezifischen Erkenntnisse zu sortieren und zu bewerten.3 Dem sich aufbäumenden und als existenzbedrohend empfundenem Krisenmonster werden analytische Ketten angelegt. Der Versuch, es zu bändigen und anschließend näher zu erforschen, scheitert jedoch meist im Angesicht der ausufernden Ereignislage. Die einzelfallspezifischen Analysen verlieren gesamtgesellschaftlich schnell an Wert, da sich andernorts schon wieder eine neue, noch viel größere Krise anzubahnen scheint. Der schwammige und unpräzise Charakter des Krisenbegriffs wird in der wissenschaftlichen Betätigung beklagt, er eigne sich Foucault zufolge nicht für die wissenschaftliche Terminologie.4 Doch leisten gerade die zahlreichen einzelfallspezifischen Beschreibungen und die stetige Propagierung neuer Krisen, ohne dabei das Phänomen selbst zu hinterfragen, einem völlig aufgeweichten Krisenbegriff Vorschub. Weil es sich bei der Krise um ein wahrnehmungsabhängiges und schwer fassbares Phänomen handelt, tendieren einige Forschungszweige auch zu Verdrängung und wenden sich anderen gesellschaftlichen Fragen zu. Was das Phänomen der ‚Krise‘ grundlegend charakterisiert und worum es sich bei einer Krise eigentlich handelt, ist von den unterschiedlichen Disziplinen bislang nur spärlich beleuchtet worden.5 Dieser Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass die Rhetorik hier Abhilfe leisten kann. Dementsprechend soll zunächst geklärt werden, was eine ‚Krise‘ aus rhetorischer Perspektive darstellt und wie sich das Phänomen wissenschaftlich betrachten lässt.
Diese Arbeit entzündet sich an der Feststellung, dass zwischen der Rhetorik und dem Phänomen der ‚Krise‘ entscheidende Zusammenhänge bestehen. Rhetorik ist immer dann gefragt, wenn keine abschließenden Gewissheiten vorliegen. In völlig unstrittigen Fällen hat die Rhetorik kein Wirkungsfeld. Das Ziel des/r OratorIn ist es die AdressatInnen von der eigenen Position zu überzeugen. Nach Aristoteles ist der Zweck aller drei Redegattungen eine Entscheidung herbeizuführen: „Da nun der Einsatz von Reden, die überzeugen wollen, auf ein Urteil (pros krísin) abzielt (darüber, was wir wissen oder bereits entschieden haben, braucht es ja keine Rede mehr), […].“6 Dies treffe innerhalb des antiken Gesellschaftssystems auf die Überzeugung des Richters bei der Gerichtsrede, der Vertreter der Volksversammlung bei einer Beratungsrede und des Publikums bei einer Lobrede gleichermaßen zu. Das übergeordnete Ziel von Rhetorik ist demnach in Entscheidungsfragen von einer Option zu überzeugen. Der Begriffsursprung von ‚Krise‘ ist an ganz ähnlicher Stelle zu finden: Im Altgriechischen gehörte der Begriff krísis zum zentralen Vokabular der Politik und bedeutete ‚Scheidung‘, ‚Streit‘ und ‚Entscheidung‘. Krise stand damit für Wahlentscheidungen, Regierungsbeschlüsse, das Urteil vor Gericht, aber auch für die kriegsentscheidende Schlacht. Hierbei handelte es sich stets um zugespitzte Entscheidungen, deren Ausgang mit weitreichenden Folgen verbunden war.7 In der griechischen Antike wird Rhetorik somit eingesetzt, um eine Entscheidung herbeizuführen, während die Krise die Entscheidung selbst bezeichnet. Durch Hippokrates findet zudem eine Übertragung des Entscheidungsgedankens auf die Medizin statt. Fortan bezeichnet eine Krise die kritische Phase einer Krankheit, in der die Entscheidung über Leben oder Tod fällt. Der Begriff überdauert das Mittelalter in dieser medizinischen Verwendung.8 In der Theologie wird krísis seit dem Neuen Testament auf das Jüngste Gericht als die finale und unwiderrufliche Entscheidung am Ende aller Zeiten angewendet.9 Im 17. und 18. Jahrhundert erlangt das antike Konzept von Gesellschaft und Staatswesen als Körper neue Bedeutung. In der Folge wird auch der Krisenbegriff metaphorisch auf die Gesellschaft übertragen und verbreitet sich in dieser Bedeutung in den Nationalsprachen Europas. Der krísis-Gedanke wird auf wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Bereiche angewendet: ‚Wirtschaftskrisen‘ und ‚politischen Krisen‘ werden als Veränderungen einer bis dahin kontinuierlich verlaufenden Entwicklung verhandelt.10 Koselleck spricht von der ‚Krise‘ als „struktureller Signatur der Neuzeit“, der Begriff entwickele sich zu einem zentralen Konzept in der Selbstwahrnehmung moderner Gesellschaften.11
Auch im heutigen Wortgebrauch steht ‚Krise‘ nach Merten noch für einen Wendepunkt in einer bis dahin gleichmäßig verlaufenen Entwicklung eines Systems. Es handelt sich demnach nicht mehr im engsten Sinne um politische oder gerichtliche Entscheidungen wie im ursprünglichen antiken Begriffsverständnis, dennoch entscheidet sich in der Krisensituation die Zukunft des betroffenen Systems. Die verschiedenen möglichen Ausgänge der Krise hängen vom Verhalten der verantwortlichen AkteurInnen ab, sie sind dabei irreversibel und stehen in dramatischem Kontrast zueinander.12 Durch das richtige Eingreifen der verantwortlichen AkteurInnen kann sich das System nach der Krise in der gleichen Verfassung wie davor befinden. Es ist dabei sogar möglich, dass die Krise die Chance für Verbesserungen bietet. Demgegenüber kann aus falschen oder fehlenden Gegenmaßnahmen eine gravierende Verschlechterung des Zustands resultieren. Das entscheidende Spezifikum einer Krise ist jedoch stets auch, dass die Katastrophe und damit die völlige Zerstörung des Systems drohen.13 Eine Krise bezeichnet somit temporale unter Umständen systemgefährdende Diskontinuitäten in einem System, sie stellt dabei jedoch einen durch menschliches Eingreifen veränderbaren Zustand dar. Kennzeichnend für eine Krise ist, dass sie unerwartet beginnt und von großer Unsicherheit geprägt ist. Es ist unklar, wann sie auftritt, wie lange sie dauert, wann sie endet und in welchem Zustand sich das System nach der Krise befinden wird.14 Für die verantwortlichen AkteurInnen besteht in der Krise ein enormer Handlungsdruck, obwohl keine abschließenden Gewissheiten über die bestehenden Zustände möglich sind. Die Krise erlaubt kein Abwarten bis Informationsdefizite beseitigt sind, es muss sofort gehandelt werden.
Nach Kopperschmidt ist die moderne Rhetorik als eine „Theorie der methodischen Handlungskoordination unter Bedingungen notorischer Zeitknappheit“ aufzufassen.15 Diese Definition deckt sich passgenau mit den Gegebenheiten der Krisensituation. Die verantwortlichen AkteurInnen müssen auch hier unter größtem Zeitdruck Maßnahmen ergreifen, um die Krise abzuwenden. Genau wie sich die moderne Rhetorik Kopperschmidt zufolge mit Handlungskonzepten befassen müsse, die unmittelbar umsetzbar seien, erfordert auch die Krise Handlungen ohne Handlungsgewissheit. Rhetorik gründet ebenfalls durchgängig auf Ungewissheit, denn nach Aristoteles verlangt nur das Ungeklärte nach rhetorischer Verhandlung.16 Evidenzmangel und Handlungszwang sind somit nicht nur charakteristisch für die Krise, sie sind auch unbedingte Voraussetzungen für die Rhetorik.17 Ihre besondere Leistung ist es unter ungewissen Ausgangbedingungen kollektive Handlungsfähigkeit herzustellen.18 Rhetorik kommt zum Einsatz, um unklare Entscheidungslagen zu einer Lösung zu führen. Auch in der modernen Begriffsverwendung verkörpert die Krise hierbei die ungewisse Lage selbst. Rhetorische Verhandlung dient nicht zwangsläufig der Wahrheitssuche, sie dient dazu Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Dies ist unter realen Bedingungen nur durch das Abwägen von Wahrscheinlichkeiten möglich.19 Auch wenn Aristoteles der Auffassung ist, der Nutzen von Rhetorik bestehe gerade darin, „die natürliche Überlegenheit von Wahrheit und Gerechtigkeit in Entscheidungssituationen durch den Einsatz geeigneter Redemittel zu sichern“, lässt sich aufgrund der Zeitnot in der Krisensituation meist noch keine schützenswerte Wahrheit absehen.20 Rhetorik ermöglicht somit in jedem Fall wenn nicht immer die gerechte, dann zumindest die notwendige Entscheidungsfindung in der Krise. Wichtig ist auch, dass sich an den widerstrebenden Handlungsoptionen in der Krise das rhetorische Prinzip von Rede und Gegenrede entzündet.21 Die unklare Situation führt dazu, dass für verschiedene Verhaltensweisen Argumente und auch emotionale Beweggründe vorgebracht werden müssen. Gerade wenn wir die Krise als gesellschaftliches Phänomen von allgemeiner Bedeutung verstehen, wird klar, dass die Rhetorik konstitutiv für ihre Lösung ist. Mit Rhetorik wird stets sowohl die rhetorische Praxis als auch ihre wissenschaftliche Reflexion bezeichnet.22 Daraus geht hervor, dass wir uns bei einer Beschäftigung mit der Krise zum einen Gedanken über kommunikative Maßnahmen zur praktischen Lösung der Situation machen können. Zum anderen sollte es aber auch ein zentrales Anliegen sein, die Krise aus rhetorischer Perspektive wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die Rhetorik kann demnach als ‚Wissenschaft der Krise‘ bezeichnet werden.
Dass die Krise ein grundlegend rhetorisches Phänomen darstellt, ist in der Forschung ein noch unbearbeiteter Gedanke. Auch innerhalb der Rhetorik wurde die Verbindung zwischen der Krise und der eigenen Disziplin bislang kaum beachtet.23 Diese Arbeit stellt den Zusammenhang erstmals in systematischer Form her. Im theoretischen Teil arbeite ich zunächst aus, wie eine Krise aus rhetorischer Perspektive definiert und eingeordnet werden kann. Dabei schafft diese Verortung auch Klarheit darüber, welche unterschiedlichen Auffassung von Rhetorik in der Forschung existieren und wie sich diese Arbeit dabei positioniert. Es verhärtet sich durch die theoretische Aufarbeitung die These, dass eine Krise von einem/r OratorIn vor allem dazu genutzt werden kann, seine/ihre AdressatInnen wirkungsvoll von der eigenen Position zu überzeugen. Die Betrachtung wird an dieser Stelle auf den politischen Diskurs zugespitzt und die Parteien werden als strategische Öffentlichkeitsakteure der Demokratie in den Blick genommen. Anhand einer umfassend angelegten Korpusanalyse der Wahlprogramme aller im Bundestag zwischen 1949 und 2013 vertretenen Parteien überprüfe ich analytisch, ob und wie die Krise hier als Überzeugungsmittel eingesetzt wird. Dafür wähle ich die Topos-Analyse als geeignete Methode, da diese eine großflächige Systematisierung argumentativer Strukturen ermöglicht. Topoi liegen als Hintergrundstruktur jeder Argumentation zugrunde, sie liefern sowohl Informationen zur kommunikativen Zielsetzung des/der RednerIn als auch zu gesellschaftlich verankerten Überzeugungen. Die Topik ist als Instrument der antiken Rhetorik ideal geeignet, um aktuelle gesellschaftliche Diskurse einem besseren Verständnis zuzuführen. Im analytischen Teil dieser Arbeit ermittele ich, wie die Parteien die Krise im politischen Diskurs für ihre eigenen persuasiven Ziele einsetzen. Durch die Arbeit wird damit ein so vorab völlig unerforschter Bereich behandelt: Die strategische Krisenausrufung der Parteien in 68 Jahren Bundesrepublik.
Ausgehend von den etymologischen und strukturellen Verbindungen zwischen der Rhetorik und der Krise beginne ich damit, verschiedene Konzepte durchzuspielen, wie die Krise im rhetorischen System verortet werden kann. Hierbei ist das Ziel in Kapitel – 2. Annäherungen an ‚Krise‘ als analytische Kategorie – aus theoretischer Hintergrundrecherche und eigenen Anschlussüberlegungen Konzepte zu entwickeln, wo die Krise innerhalb der Rhetorik ihren Platz findet. Diese Einordnung ist der entscheidende Ausgangspunkt, um Krisenphänomene systematisch analysieren zu können. Es konnten dabei drei mögliche Eingliederungen der Krise in das System der Rhetorik identifiziert werden und entsprechend wurde das Kapitel gegliedert: Als erste Variante kann die Krise als Rhetorische Situation betrachtet werden (vgl. 2.1. Krise als Rhetorische Situation). Nach dem Konzept von Lloyd Bitzer ist eine rhetorische Situation stets der Ausgangspunkt rhetorischer Handlung. Die situativ gegebene Notlage könne verändert werden, indem der/die RednerIn sich an die AdressatInnen wendet und so eine positive Veränderung herbeiführt. Hier lässt sich die Krise als objektiv gegebene, äußere Notlage einordnen, die den/die RednerIn zu einer Reaktion und somit rhetorischer Handlung veranlasst. Die Ausführungen zur Krise als rhetorischer Situation werden um Forschungsansätze aus der Unternehmenskommunikation erweitert. Es ließ sich bei der Recherche beobachten, dass in diesen die Krise als äußerlich gegebene Bedrohung in Form von negativer Berichterstattung aufgefasst wird, auf welche von Unternehmensseite nun kommunikativ reagiert werden muss. Ohne dass die ForscherInnen zur Unternehmenskommunikation von Bitzers Entwurf Kenntnis haben, lassen sich ihre Erkenntnisse jedoch der daraus abgeleiteten Krisenauffassung zuordnen (vgl. 2.1.3. Unternehmenskommunikation). Das Unterkapitel wird mit einem eigenständigen Entwurf geschlossen: Das durch die Soziologie geprägte Rollenkonzept hat in der Rhetorik noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Ich führe hier Überlegungen an, wonach soziale Rollen in der Gesellschaft spezifische rhetorische Handlung erfordern und dass gerade diese oftmals den Ausgangspunkt rhetorischer Handlung darstellen (vgl. 2.1.4. Soziale Rollen erfordern spezifische rhetorische Handlung).
Für die zweite Variante, die Krise im rhetorischen System zu verorten, werden Analysen aus den Nachbardisziplinen der Literaturwissenschaft, der Linguistik und der Medienwissenschaft herangezogen. In diesen wird die Krise als diskursives Konstrukt aufgefasst (vgl. 2.2. Krise als diskursives Konstrukt).24 Gerade sprachliche Bezeichnungen konstituieren demnach ihren phänomenologischen Charakter. Eine Krise bilde sich ausschließlich im gesellschaftlichen und medialen Diskurs heraus. Die RezipientInnen würden meist über die Massenmedien von ihrer Existenz erfahren, lange bevor sie reale Veränderungen in ihrer Lebenswirklichkeit wahrnähmen. Ich hinterfrage diese Diskurstheorien aus rhetorischer Perspektive und mache mir über die Einflussmöglichkeiten des Subjekts im Diskurs Gedanken. Zudem führe ich in einem Exkurs die Überlegungen des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link an, nach welchen die Krise als diskursives Gegenstück zum Normalismus betrachtet werden kann (vgl. 2.2.4. Normalismus als Gegenstück der Krise). Während für eine linguistische Diskursanalyse jedoch sprachliche Strukturen im Zentrum des Interesses stehen,25 fragt eine rhetorische Diskursanalyse meiner Auffassung zufolge nach der persuasiv und strategisch motivierten Konstruktion von Bedeutungszusammenhängen. Für rhetorische Fragestellungen ist demnach stets der/die OratorIn mit seiner/ihrer spezifischen kommunikativen Wirkungsabsicht der Ausgangspunkt der Analyse. Wenn diskursive Zusammenhänge betrachtet werden, müssen wir somit zunächst feststellen, wie das einzelne Subjekt versucht den diskursiven Verlauf zu beeinflussen. Aus rhetorischer Perspektive gehen wir davon aus, dass die öffentlichen AkteurInnen versuchen den Diskurs entsprechend ihrer Interessen zu lenken und ihre Deutungen des Geschehens durchzusetzen. Entsprechend wird die Krise aus einem rhetorischen Blickwinkel nicht einfach als diskursives Produkt aufgefasst, sondern es wird da...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Dank
  5. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
  6. Vorbemerkung: Das Krisenmonster
  7. 1 Rhetorik als ‚Wissenschaft der Krise‘
  8. 2 Annäherungen an ‚Krise‘ als analytische Kategorie
  9. 3 Steuerung der öffentlichen Meinungsbildung durch PolitikerInnen und Parteien?
  10. 4 ‚Topos‘ als analytisches Instrument
  11. 5 Analyse der Bundestagswahlprogramme 1949 bis 2013
  12. 6 Krisendiagnosen der Parteien in der BRD
  13. 7 Strategischer Einsatz des Krisen-Topos durch die Parteien
  14. 8 Rhetorisches Konstrukt ‚Krise‘
  15. Korpusmaterial
  16. Literaturverzeichnis
  17. Personenregister