1 Einleitung
Der Bereich der Syntax war innerhalb der Forschung zum Mittelniederdeutschen lange Zeit vernachlässigt worden, was sich u. a. deutlich in den älteren mittelniederdeutschen Grammatiken von Lübben (1882), Colliander (1912), Sarauw (1924) und Lasch (1974 / 1914)1 widerspiegelt: Während darin Phonologie und Morphologie ausführlich beschrieben sind, werden syntaktische Aspekte nur am Rand berührt.2 Eine neue wissenschaftliche mittelniederdeutsche Grammatik, die auch die Syntax umfassend beschreibt, stellt daher noch immer ein dringendes Forschungsdesiderat dar.3 Eine wichtige Basis für eine solche Grammatik bilden einerseits komplexe Beschreibungen der mittelniederdeutschen Syntax – hier existiert bislang nur die dänische Arbeit Forsøg til en middelnedertysk syntax von Nissen (1884)4 – sowie Einzelstudien zu syntaktischen Phänomenen im Mittelniederdeutschen, von denen im Zuge des in den vergangenen Jahrzehnten zunehmenden Forschungsinteresses an der Syntax des Niederdeutschen5 eine Reihe entstanden ist. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Arbeiten von Tophinke (2009, 2012) und Tophinke & Wallmeier (2011) zum syntaktischen Ausbau in mittelniederdeutschen Rechtstexten, von Schröder (1992b), Rösler (1997), Bieberstedt (2005) und Battefeld (2010) zur Verbstellung und Verbalsyntax, von Petrova (2015) und Fleischer (2013) zur Stellung dativischer und akkusativischer Argumente im Satz, von Breitbarth (2014) und Schröder (2014) zur Negation, von Wallmeier (2013) und Dreessen & Ihden (2016) zu sprachlichen Mustern sowie verschiedene kursorische Analysen, z. B. von Fischer & Peters (2012) sowie Dreessen & Ihden (2015).6
Dabei stützen sich v. a. die Studien der jüngeren Forschung auf ganz unterschiedliche theoretische Grundlagen: Neben generativen Arbeiten wie von Petrova (2013) zur Grundwortstellung und Variationen dieser und Farasyn (2018) zu Subjektkongruenz finden sich auch kognitive und konstruktionsgrammatische Ansätze wie in den Arbeiten von Merten (2018) zum Sprachausbau in Rechtstexten und Dreessen (2017, i. E.) zum Einfluss von Belebtheit auf Kasusmarkierung. Die methodische Ebene betreffend basiert der wachsenden Bedeutung von Korpuslinguistik für die historische Syntaxforschung entsprechend ein zunehmender Anteil der jüngeren Arbeiten auf Korpora, so auch die Studien von Mähl (2014) zu mehrgliedrigen Verbalkomplexen und Ihden (2017, 2019, i. E.) zu Relativsätzen.
Die lange Zeit den Forschungsdiskurs dominierende Auffassung, die Syntax des Mittelniederdeutschen unterscheide sich nicht (wesentlich) von der des Mittel- und Frühneuhochdeutschen (vgl. z. B. Rösler 1997: 235), wird inzwischen kritisch betrachtet (z. B. von Mähl 2014: 15). Während in diesem Zusammenhang „eine theoretische Diskussion der Frage, was unter einer ‚niederdeutschen‘ syntaktischen Struktur eigentlich zu verstehen ist“ (Berg u. a. 2012: 279) noch aussteht, haben verschiedene Arbeiten zu syntaktischen Phänomenen im Mittelniederdeutschen bereits bestätigt, dass tatsächlich Unterschiede zum Hochdeutschen bestehen. Bartsch & Schultz-Balluff (2015: 244) zeigen in ihrer Untersuchung komplexer Satzgefüge in paralleler Überlieferung von St. Anselm im Hoch- und Niederdeutschen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert u. a. im Bereich der Subjunktoren Unterschiede zwischen den nieder- und den hochdeutschen Texten. Weitere Differenzen zwischen dem Mittelniederdeutschen und dem Hochdeutschen weist Mähl nach: zum einen auf morpho-syntaktischer Ebene im Adjektiv-Adverb-Bereich (vgl. Mähl 2004: 185) und zum anderen in der Verbalsyntax (vgl. Mähl 2014: 264). Auch in Bezug auf die Wortstellung im Satz wurden spezifische niederdeutsche Merkmale der Syntax herausgearbeitet: Fleischer (2013: 70) zeigt in einem Vergleich der ältesten Luther-Bibel mit deren mittelniederdeutscher Übersetzung in der Bugenhagen-Bibel wesentliche Unterschiede in der Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen, was laut Fleischer (2013: 70) darauf hindeute, „dass dieser syntaktische Unterschied zwischen Hochdeutsch und Niederdeutsch bei der Übersetzung offensichtlich als so gravierend empfunden wurde, dass eine Änderung geboten schien“. Nicht nur vor dem Ziel einer umfassenden grammatischen Beschreibung des Mittelniederdeutschen, sondern auch mit Blick auf einen Vergleich zwischen hoch- und niederdeutscher Syntax erweisen sich also syntaktische Studien zum Mittelniederdeutschen als notwendig und lohnenswert.
Trotz der zahlreichen inzwischen vorliegenden Publikationen gelten große Bereiche der mittelniederdeutschen Syntax in der Forschung noch immer als Desiderat. Hierzu zählt besonders der syntaktische Wandel innerhalb des Mittelniederdeutschen. Tophinke (2012: 22–23) hält in diesem Zusammenhang fest: „Aussagen über Dynamik, Richtung und Verlauf der syntaktischen Ausbauprozesse sind auf der Basis der vorliegenden Untersuchungen nicht möglich.“ Nicht nur mit Bezug auf die zeitliche Entwicklung, sondern deutlich allgemeiner formuliert Mähl (2014: 15), „dass eine systematische Behandlung der mittelniederdeutschen Syntax, die die wichtigen Aspekte Diachronie, Sprachraum und Vielfalt der Textsorten berücksichtigt, immer noch aussteht“.
An diesem Punkt setzt die vorliegende korpuslinguistische Studie an, die eine möglichst umfassende Beschreibung des mittelniederdeutschen Relativsatzes zum Ziel hat und sich damit u. a. als Beitrag zu einer neuen wissenschaftlichen mittelniederdeutschen Grammatik versteht. Die Beschreibung basiert auf quantitativen und qualitativen Analysen und umfasst zum einen die Struktur des Relativsatzes, zum anderen das Vorkommen dieser strukturellen Merkmale und den Gebrauch der einzelnen Relativsatztypen in verschiedenen Quellen. Dabei findet die diasystematische Variation als Kennzeichen historischer Sprachstufen des Deutschen7 besondere Berücksichtigung: Mithilfe eines differenzierten Korpus mittelniederdeutscher Texte, das sich in verschiedene Teilkorpora gliedert, soll ein möglicher Einfluss von Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum auf Struktur und Gebrauch des Relativsatzes untersucht werden.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich insgesamt in einen theoretischen und einen methodischen Abschnitt sowie einen umfangreicheren Analyse- und Ergebnisteil. In Kap. 2 erfolgt zunächst die theoretische Grundlegung mit dem Ziel einer klaren Begriffsbestimmung für den mittelniederdeutschen Relativsatz, der den Analysen zugrunde gelegt werden kann. In Kap. 3 der Arbeit werden nach einem Blick auf den Forschungsstand zum mittelniederdeutschen Relativsatz die Zielsetzung und Methode der Studie sowie das Korpus, die den Analysen zugrunde liegenden Annotationen und die Datenauswertung eingehend erläutert. In Kap. 4 erfolgen die Analysen mit Bezug auf die formulierte Fragestellung und Zielsetzung. Kap. 5 widmet sich dem potentiellen Einfluss von Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum, indem für jeden Parameter die Ergebnisse aus dem Analysekapitel zusammengetragen und damit verbundene weiterführende Überlegungen angeschlossen werden. Das abschließende Kap. 6 enthält eine Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse der Untersuchung sowie einen Ausblick auf weitere mögliche und notwendige Forschungen zum mittelniederdeutschen Relativsatz.