Von der Makroökonomie zum Kleinbauern
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Von der Makroökonomie zum Kleinbauern

Die Wandlung der Idee eines gerechten Nord-Süd-Handels in der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung (1964-1984)

  1. 289 Seiten
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Von der Makroökonomie zum Kleinbauern

Die Wandlung der Idee eines gerechten Nord-Süd-Handels in der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung (1964-1984)

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Über dieses Buch

Das Label «Fair Trade» bezieht sich heute auf den Kleinbauern und seinen beschränkten Warenkorb an tropischen Rohstoffen. Dahinter steht jedoch die Reduktion einer komplexen makroökonomischen Debatte auf ein schriftloses Symbol. Dieses Buch zeigt auf, wie sich die Idee eines gerechten Nord-Süd-Handels in der Dritte-Welt-Bewegung ins Gegenteil verkehrte. In den 1960er Jahren forderten Aktivisten die Industrialisierung der Entwicklungsländer und eine Öffnung der westlichen Absatzmärkte für sämtliche Produkte aus dem Süden. Doch ab Mitte der 1970er Jahre brachte die Wachstumskritik eine Umkehr dieser Forderungen. Die lokale kleinbäuerliche Landwirtschaft gilt seither als Gegenentwurf zum grenzenlosen Wirtschaftswachstum. Ab den 1980er Jahren verkauften professionelle NGOs einer breiten Spenderbasis die Idee der Solidarität zwischen Kleinbauern im In- und Ausland. So ergab sich eine «unheilige Allianz» zwischen der grünen Fair-Trade-Bewegung und den konservativen Nationalisten, die nun als gemeinsame politische Schnittmenge den westlichen Agrarprotektionismus unterstützten.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110663778

1 Calvinisten und Barthianer: Die Neuauflage der protestantischen Wirtschaftsethik als Nord-Süd-Gerechtigkeit (1964 – 1968)

1.1 Die Nord-Süd-Frage in der protestantischen Theologie der Schweiz

Die „Erklärung von Bern“ von 1968 war Ausdruck einer Umbruchphase in der christlichen Theologie der 1960er-Jahre. Einerseits hatten die Kirche, die Religion und die Theologie als Wissenschaft in dieser Zeit in den Industrieländern noch einen hohen und bedeutenden Stellenwert. Andererseits war die Kirche mit dem raschen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit konfrontiert. Das rasante globale Wirtschaftswachstum, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den europäischen Kolonien, eine neue gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen anderer Kultur, Religion und Hautfarbe, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen im Westen wie etwa die Emanzipation der Frau oder die Verbreitung des Fernsehers führten zu neuen theologischen Arbeiten, die den Weg für die Umbrüche von 1968 ebnen sollten.1 Unter anderem öffnete sich die protestantische Theologie gegenüber den Wirtschaftswissenschaften und suchte einen Dialog.2 Dies zeichnete sich bereits in den 1950er-Jahren ab.
So entschied sich der Walliser Pfarrer André Biéler (1914 – 2006) in den 1950er-Jahren, noch mit über 40 Jahren eine wirtschaftswissenschaftliche Doktorarbeit – bei einem Professor für Wirtschaftsgeschichte – zu schreiben.3 Vielleicht noch bedeutender als der Fakultätswechsel war, dass ein reformierter Pfarrer eine Arbeit über den Genfer Reformator Calvin bei einem katholischen Professor einreichte. Dies war sozusagen wissenschaftlich gelebte Ökumene. Der Wirtschaftshistoriker und Professor an der Universität Genf, Antony Babel, war Spezialist für die Geschichte Genfs und die industrielle Entwicklung der Region.4 Die Bedeutung der protestantischen und genauer der calvinistischen Wirtschaftsethik für die wirtschaftliche Entwicklung der Region Genf schlug die wissenschaftliche Brücke zur calvinistischen Theologie. Biélers Aufgabe war es nun, in seiner Dissertation Calvins Wirtschaftsethik grundsätzlich neu aufzurollen und Schlüsse zu ziehen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit seiner Doktorarbeit, die 1959 als Publikation erschien, leistete Biéler die intellektuelle Vorarbeit für die Frage, die ihn als Nächstes beschäftigen und schliesslich zur „Erklärung von Bern“ führen würde: Die Frage, ob die calvinistische Wirtschaftsethik auch als Ethik der wirtschaftlichen Nord-Süd-Gerechtigkeit dienen würde. Während sich also in Lateinamerika die katholische Befreiungstheologie langsam formierte, spielte sich in Europa, in einem der historischen Zentren des Protestantismus, eine Hinterfragung ab, welche Voraussetzungen dazu taugten, im aktuellen Verständnis von wirtschaftlicher Nord-Süd-Gerechtigkeit zur Anwendung zu gelangen.5
Im Jahr 1964 – in dem die UNCTAD-Konferenz stattfand und in Genf des 400. Todestages Calvins gedacht wurde, was für die Schweizer Protestanten mannigfach wichtiger war als das wirtschaftspolitische Ereignis – stellte Biéler in der Abgeordnetenversammlung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes in Biel in einem Vortrag die Resultate seiner Doktorarbeit vor. Er schloss seinen Vortrag, indem er die calvinistische Wirtschaftsethik zur aktuellen Frage des wirtschaftlichen Nord-Süd-Verhältnisses auslegte.6 Biéler hielt fest, dass er es für die Pflicht der Schweizer Kirchen halte, aktiv zu werden, und er stellte drei konkrete Forderungen, die daraufhin im Evangelischen Kirchenbund für Aufsehen sorgten.7 Damit legte Biéler sozusagen im Alleingang den ersten Grundstein für die „Erklärung von Bern“. Erstens forderte er, dass die Evangelische Kirche zusammen mit den anderen Konfessionen in völlig neuer Form die Aufmerksamkeit ihrer Basis auf die Nord-Süd-Frage lenken müsse. Damit hatte er die „Bewusstseinsbildung“ als Hauptpunkt benannt.8 Zweitens forderte Biéler den Evangelischen Kirchenbund auf, eine aktive Rolle einzunehmen und von den christlichen Kirchen weltweit zu fordern, den progressiven Bemühungen des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) sowie des Vatikans zu folgen. Damit rief er also die Schweizer Protestanten implizit dazu auf, in die Aufbruchstimmung, die 1964 dank des Vatikanischen Konzils und der Befreiungstheologie die Katholiken erfasst hatte, einzustimmen. Und als Drittes und Letztes forderte Biéler, dass die Kirchen sich an die Regierungen wenden sollten, damit diese Massnahmen ergreifen könnten, „welche eine Umkehr der Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung in den armen Ländern bewirken“.9 Mit diesen „Tendenzen“ umschrieb Biéler die UNCTAD-Doktrin, dass die Verschlechterung der realen Austauschverhältnisse zwischen Rohstoffen und Industriegütern zu einer Vergrösserung des Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd führen würde.10 Für diese „Umkehr“ sollten mindestens drei Prozent des Nationaleinkommens aufgewendet werden, ein Betrag, der am besten gleich dem Rüstungsbudget entnommen werden solle.11 Vier Jahre vor 1968 und zeitgleich zur ersten UNCTAD legte somit ein arrivierter Genfer Theologe den Schweizer Protestanten derart radikale Forderungen vor, dass sie in der „Erklärung von Bern“ von 1968 schliesslich abgeschwächt wurden. Diese verlangte nämlich von der Regierung nicht, sie solle drei Prozent des Bruttosozialproduktes aufwenden, sondern erklärte ihr gegenüber lediglich, die Unterzeichnenden würden sich sozusagen aus christlicher Selbstaufopferung zur Spende von drei Prozent ihres privaten Einkommens verpflichten. Aus Biélers Forderung an den Staat war das private Vorangehen mit gutem christlichem Beispiel geworden.
Biélers Forderungen wurden allerdings nicht nur auf nationaler Ebene von der „Erklärung von Bern“ aufgenommen, sondern flossen 1966 auch ein in die internationale Konferenz des ÖRK in Genf. Nach Biélers Vortrag hatte der Schweizerische Evangelische Kirchenbund eine Kommission gebildet, die eine Studie zuhanden des ÖRK erarbeiten sollte.12 Zu dieser Kommission gehörten auch drei Schweizer Delegierte an die Weltkonferenz des ÖRK, darunter nebst Biéler der Theologieprofessor Arthur Rich (1910 – 1992), der zur gleichen Zeit, 1964, an der Universität Zürich ein Institut für Sozialethik gegründet hatte.13 Rich war sozusagen das Zürcher Pendant zu Biéler, hatte er sich doch mit der Wirtschaftsethik des Deutschschweizer Reformators Huldrych Zwingli befasst.14 Allerdings gehörte Rich, als ein Schüler des konservativen Züricher Theologieprofessors Emil Brunner (1889 – 1966), der der Gegenpol des sozialdemokratischen Basler Theologieprofessors Karl Barths (1886 – 1968) gewesen war, nur ganz am Rand zu den reformierten Theologen, die sich aktiv der Nord-Süd-Frage annehmen wollten.15 Gerade durch seine Nähe zum konservativen Deutschschweizer Unternehmertum verfügte Rich jedoch in der Schweiz der 1960er- und 70er-Jahre über bedeutenden wirtschaftsethischen Einfluss.16 Er trat in der Öffentlichkeit nicht als Vertreter der „Erklärung von Bern“ auf, obwohl er diese unterschrieben hatte, – dies waren Biéler und die Basler Barth-Schüler, von denen später noch die Rede sein wird.17 Doch Richs Mitarbeit an der Studie zuhanden des ÖRK zeigt auf, wie auch er die Umwälzungen von 1968 vorspurte. Biéler sollte nur wenige Jahre nach Rich, 1967, eine Professur für Sozialethik an der Universität Lausanne erhalten.18 Damit wird ein Muster sichtbar, wie Theologen und ordinierte Pfarrer in den 1960er-Jahren die Wirtschafts- und Sozialethik an den Universitäten aufbauten. Theologen wie Biéler und Rich unternahmen in den 1950er- und 60er-Jahren die Anstrengung, ihre christliche Theologie an aktuelle Fragestellungen anzupassen.
Der ÖRK in Genf und seine Konferenzen und Berichte boten den Schweizer Theologen wiederum eine Anlaufstelle, um ihre Forderungen auf internationaler Ebene zu deponieren. Durch die Ansiedlung internationaler Organisationen in Genf entstand somit aus Biélers Doktorarbeit über die calvinistische Wirtschaftsethik nicht nur auf nationaler Ebene die „Erklärung von Bern“ mit ihren 13 Punkten, erarbeitet wurden auch die 14 Thesen zuhanden des ÖRK im Hinblick auf die Weltkonferenz von 1966. Im selben Jahr legte Biéler schliesslich noch ein populärwissenschaftliches dünnes Büchlein vor, das auf Französisch und Deutsch erschien und seine Thesen zu Calvin, die er in seiner Dissertationsschrift dargestellt hatte, nochmals einfacher fasste, aber auch zuspitzte.19 Im Anhang des Büchleins fanden sich auf mehreren Seiten die 14 Thesen zuhanden des ÖRK. Als Herausgeber der „Evangelischen Zeitbuchreihe“, in der Biélers Büchlein „Gottes Gebot und der Hunger der Welt – Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters“ erschien, zeichneten die drei Basler Barth-Schüler Max Geiger (1922 – 1978), Lukas Vischer (1926 – 2008) und Heinrich Ott (1929 – 2013).20 Ott, der 1962 Barths Lehrstuhl übernommen hatte, war als Sozialdemokrat in der lokalen Politik aktiv. Geiger und Vischer bildeten zusammen mit Biéler den Kern des Redaktionsteams der „Erklärung von Bern“.
Schon fast symbolträchtig mutet das Todesjahr des einflussreichen Basler Theologen Karl Barth an: 1968. Sein Tod markierte in vielerlei Hinsicht sowohl Ende wie Beginn einer Ära.21 Karl Barth hatte sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus und die Vereinnahmung der Kirche durch die nationalsozialistische Ideologie gestemmt. Er war einer der Begründer der evangelischen Oppositionsbewegung „Bekennende Kirche“. Nachdem er in die Schweiz zurückgekehrt war, äusserte er sich weiterhin auch gegen die Gesinnungsneutralität im eigenen Land. Er hatte sich nicht nur vom Nationalsozialismus, sondern auch klar vom religiösen Sozialismus abgegrenzt, war jedoch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. In der Nachkriegszeit wehrte er sich etwa im „Berner Kirchenstreit“ von 1949 bis 1951 dagegen, dass die Berner Kirchen eine politische, anti-kommunistische Haltung einnehmen sollten.22 In der Folge dieser Kontroverse formierte sich denn auch in Bern eine Gruppe Berner Pfarrer, darunter etwa Kurt Marti, die später als „Barthianer“ zum Umfeld der „Erklärung von Bern“ gehörten.23 In den Jahren vor seinem Tod setzte Barth sich für die Ökumene ein, ein Engagement, das von seinem Schüler Lukas Vischer übernommen wurde. Ebenfalls engagierte Barth sich für Christen hinter dem Eisernen Vorhang, was ihm in der Zeit des Kalten Kriegs in der Schweiz den Vorwurf einbrachte, selbst ein versteckter Kommunist zu sein.24 Seine Kontroverse mit dem Zürcher Theologen Emil Brunner, mit dem er bis Anfang der 1930er-Jahre befreundet war, war zwar theologischer Natur, doch im Endeffekt begründeten beide ihre jeweilige Haltung politisch, wobei Brunner, der 1966 verstarb, seine eigene, neokonservative oder zuweilen neoliberale Haltung theologisch legitimierte.25
Es ist somit nicht überraschend, dass Biélers Forderungen, die von den Delegierten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds als radikal empfunden wurden, in Basel auf fruchtbaren Boden fielen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs hatte Barth an seinem Lehrstuhl eine progressive Theologie gelehrt und zahlreiche Schüler sowie ein unterstützendes Basler Publikum herangezogen. Barth hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg bahnbrechend für eine neue Lesung der Bibel eingesetzt – er verstand Gott als den „anderen“, der entfernt ist vom Menschen, – und damit den Protestantismus im 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt. Trotz theologischer Differenzen gelang es Barth und Brunner in der Deutschschweiz gemeinsam, eine Gruppe junger reformierter Theologen zu formen, die sich in den 1960er-Jahren unmissverständlich zu aktuellen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen äusserten.26 Vor allem aber bildeten sie Theologen aus, die sich nicht davor scheuten, die protestantische Theologie auf aktuelle, unvorhergesehene Fragestellungen zu untersuc...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. Abkürzungsverzeichnis
  6. Einleitung
  7. 1 Calvinisten und Barthianer: Die Neuauflage der protestantischen Wirtschaftsethik als Nord-Süd-Gerechtigkeit (1964 – 1968)
  8. 2 Von der Bewegung zur NGO (ca. 1968 – 1973)
  9. 3 Vom Produkt zur Firma, von der Dritten Welt zur Umwelt (1973 – 1977)
  10. 4 Von der Bewusstseinsbildung zum kleinbäuerlichen Rohstoff (1977 – 1984)
  11. 5 Von „Trade, not Aid“ zu „Weniger nehmen“
  12. Schlussbetrachtung: vom Handel zur Hilfe