1. Probleme: Ihre Bedeutung in der systemischen Therapie und Beratung
Der Ausgangs- und zugleich Dreh- und Angelpunkt für systemtherapeutische Bemühungen ist ein „Problem“ oder eine „Störung“. Ohne Probleme würde man weder über Lösungen noch über Therapien nachdenken, geschweige denn darüber sprechen.
Bevor eine Annäherung an die Frage erfolgen kann, was in der systemischen Therapie unter einem Problem verstanden wird, müssen einige systemtheoretische Überlegungen vorgeschaltet werden.
1.1Systemtheoretische Überlegungen
In der modernen Systemtheorie geht man bei der Betrachtung lebender Systeme von einer auf den ersten Blick merkwürdig erscheinenden Position aus: der Unterscheidung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen (Luhmann 1991). Damit ist gemeint, dass Menschen drei Systemebenen repräsentieren und jedes dieser Systeme eine eigene Arbeits- oder Operationsweise hat.
Die Operationen der drei Systeme können folgendermaßen unterschieden werden: Das biologische System verwirklicht sich durch chemisch-physikalische Prozesse. Diese führen zum Aufbau biologischer Strukturen, die dazu dienen, das biologische Leben und Überleben zu sichern. Das psychische System verwirklicht sich durch kognitiv-emotionale Prozesse und entwickelt kognitiv-emotionale Erlebens- und Sinnstrukturen, die Orientierung geben und dadurch auch die eigenen Möglichkeiten begrenzen können. Das soziale System verwirklicht sich durch kommunikative Prozesse, die bestimmte Kommunikationsabläufe wahrscheinlicher machen als andere und so den Aufbau kommunikativer Muster ermöglichen.1
Jedes dieser drei Systeme vollzieht seine Operationen der jeweiligen inneren Struktur entsprechend, also strukturdeterminiert (Maturana 1985; Maturana u. Varela 1987) und autonom. Dennoch kann kein System ohne die jeweils anderen existieren. Psychische Prozesse ohne biologische Grundlagen und kommunikative Abläufe sind genauso wenig denkbar wie kommunikative Prozesse ohne psychische Abläufe und biologische Grundlagen. Daher entfällt in dieser Konzeption die Idee einer biologischen, psychischen oder sozialen Dominanz. Die Systeme stellen vielmehr – und das ist die zweite ungewöhnliche Sichtweise – Umwelten füreinander dar.
Dieses System-Umwelt-Verhältnis wird mit dem Begriff der strukturellen Koppelung (Maturana u. Varela 1987) bezeichnet. D. h., die parallel in den jeweiligen Systemen ablaufenden autonomen Operationen führen zwar über eine Koppelung der jeweiligen Strukturen zu wechselseitigen Beeinflussungen bzw. Irritationen. Allerdings kann kein System die Auswirkungen in den jeweils anderen Systemen einseitig festlegen: Das psychische System kann die chemisch-physikalischen Abläufe im biologischen System nicht steuern. Das kommunikative System kann nicht bestimmen, was das psychische System denkt oder fühlt, und das biologische System kann die kommunikativen Muster nicht festlegen. Es sind die vorhandenen internen Systemstrukturen, die bestimmen, welche Auswirkungen Irritationen haben und welche nicht.
Diese theoretische Grundkonstruktion, von Maturana und Varela (ebd.) die Theorie der Autopoiese genannt, hat weitreichende Konsequenzen:
•Lebende Systeme sind strukturdeterminierte Systeme.
•Das biologische, das psychische und das soziale System stehen durch strukturelle Koppelungsprozesse in einem System-Umwelt-Verhältnis zueinander.
•Die jeweilige Umwelt kann ausschließlich auf der Grundlage der eigenen inneren Struktur verarbeitet werden.
•Die Wirkungen zwischen den Systemen sind nicht einseitig und gezielt steuerbar.
•Lebende Systeme haben keinen direkten Zugang zu ihrer Umwelt und können daher keine „objektiv richtigen“ Schlüsse bezüglich ihrer Umwelt ziehen.
Nach dieser kurzen2, aber unerlässlichen Darstellung systemtheoretischer Grundlagen soll nun untersucht werden, welche Konsequenzen diese für die Frage haben, was unter einem „Problem“ verstanden werden kann.
1.2Beobachter und Beobachtungen
Der Gebrauch der Bezeichnung „Problem“ ist systemtheoretisch ein sehr komplexer Vorgang. Von einem Problem sprechen zu können setzt nämlich verschiedene Operationen voraus: Zunächst muss eine Unterscheidung getroffen werden. Diese Unterscheidung wird von Beobachtern vorgenommen. Dazu konzentrieren sich Beobachter auf ein bestimmtes Beobachtungsziel, das im Zuge des Unterscheidens benannt wird. So können Beobachter ihre eigenen Zustände und Handlungen beobachten und benennen. Sie können aber auch Ereignisse unterscheiden und benennen, die in der Umwelt der Beobachter liegen.
Beobachter können sich z. B. auf das eigene oder fremde Körpergewicht, auf die eigenen Denk- und Fühlweisen oder auf spezifische Handlungsabfolgen wie z. B. das eigene Erziehungsverhalten oder das der Partner beziehen. Und sie können darauf achten, ob diese fremden oder eigenen Zustände und Ereignisse einmalig, mehrmalig, oft oder immer auftreten. Ob sie an spezielle Orte und/oder an bestimmte Personen gebunden zu sein scheinen.
Mit dem Beobachten ist ein wichtiger, oft übersehener Effekt untrennbar verbunden: Beobachter konzentrieren sich auf die von ihnen unterschiedenen Ereignisse oder Zustände. Gleichzeitig verblassen demgegenüber die nichtbeobachteten Zustände oder Ereignisse. Es entstehen sogenannte „markierte“ und „unmarkierte“ Beobachtungsbereiche (Simon 1988).
Werden diese Beobachtungen wiederholt, entsteht ein Wiedererkennungseffekt, der spezifische Beobachtungsstrukturen einspurt und andere, potenziell ebenfalls mögliche Beobachtungsstrukturen ausschließt. Beobachter sind somit nicht etwa Zuständen und Ereignissen passiv ausgesetzt, sondern sie stellen sie aufgrund eigener Unterscheidungskriterien aktiv her.
1.3Bewertungen und Erklärungen von Lebensproblemen
Auf diese Art kreierte Zustands- oder Ereignisabfolgen können nun durch einen Vergleich von Ist- und Soll-Abweichungen bewertet werden. Selbstverständlich sind dabei auch historischkulturelle Wertmaßstäbe von Bedeutung, da die Fragen, ob jemand sich oder andere als „zu dick“, „faul“ oder irgendwie anders bewertet, ganz entscheidend von kulturellen Standards abhängen. Parallel werden Bewertungen immer und prinzipiell affektiv aufgeladen, da Bewerten ohne Fühlen nicht möglich ist. Dies betrifft sowohl nichtklinische3 als auch klinische Phänomene (Watzlawick 1992; Simon 1995; Klein 2002). Probleme existieren in dieser Betrachtungsweise also erst dann, wenn – auf der Grundlage historisch-kulturell geprägter Werte – Beobachter eine negativ bewertete Ist-Soll-Abweichung konstatieren.
Allerdings ist damit noch unklar, ob und, falls ja, welche Maßnahmen zur Problemlösung ergriffen werden sollen. Hierbei können Erklärungen orientierunggebend fungieren. Allerdings können sehr unterschiedliche Erklärungen für Probleme herangezogen werden. Biologische und/oder psychische und/oder soziale Ansätze lassen sich in Betracht ziehen. Je nach Erklärungsansatz und subjektiver Theorie kommen entsprechend unterschiedliche Problemlösestrategien zum Einsatz. Ob die geoder erfundenen Erklärungen zu hilfreichen Problemlösestrategien führen, ist zu diesem Zeitpunkt nicht abschätzbar.
Das auf diese Art beschreibbare Problemerleben hinterlässt neben den psychischen immer auch Spuren im biologischen System. Auf diese Besonderheit haben in den letzten Jahren v. a. hirnphysiologische Untersuchungen hingewiesen (Ciompi 1999; Hüther 2001; Damasio 1997). Das Zusammenspiel von Beobachtungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern führt zu individuell unterschiedlichen neurologischen Einspurungen, die umgekehrt das Abrufen gleicher Denk-, Fühl- und Handlungschoreografien begünstigen.
Ein stabiles, eng gekoppeltes, zirkulär organisiertes Problemmuster etabliert sich mit der Konsequenz, dass Beobachter nicht entscheiden können, wie das beobachtete Phänomen wirklich ist, sondern als was es ihnen erscheint: als Problem. Beobachter machen sich nicht etwa ein Bild von der Welt, sondern die eigenen Beschreibungs-, Bewertungs- und Erklärungsmuster schaffen „eine Welt von einem Bild“ (von Foerster u. Bröcker 2002, S. 115).
Wichtig ist, dass sich die beschriebenen Abläufe der Problemerzeugung bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich im psychischen und biologischen System der Beobachter vollziehen. Sie existieren noch nicht im sozialen System, da sie noch nicht kommuniziert wurden – weder mit Angehörigen noch mit Therapeuten. Es handelt sich (noch) um sogenannte Lebensprobleme (Ludewig 2002, 2005). Diese können zwar systemtherapeutisch relevant werden, jedoch erst dann, wenn Klienten die Begegnung mit Therapeuten suchen und in dieser Begegnung Kommunikation stattfindet, kurz: sich klinische Systeme bilden. Sonst nicht. Dazu aber später.
Eines ist bei den bisherigen Ausführungen wichtig zu berücksichtigen: Es soll keineswegs suggeriert werden, Probleme seien „nur“ Konstrukte von Beobachtern und damit nicht leiderzeugend. Sehr wohl leiden Menschen an Problemen. Aber Menschen, die Probleme präsentieren – seien es die eigenen oder die anderer –, erscheinen unter einer systemtheoretischen Perspektive nicht mehr ausschließlich als Opfer des Problems. Vielmehr stellen sie Probleme immer auch aktiv her und halten sie aktiv aufrecht. Dadurch enthalten Probleme auch Chancen zur Veränderung.
Gerade dieser Veränderungsaspekt unterscheidet Probleme von anderen leiderzeugenden Phänomenen, den Restriktionen. Diese sind nichtauflösbare bzw. nichtveränderbare Bedingungen des Lebens. Eine Lösung kann somit nicht in der Veränderung der Restriktion liegen, sondern in einem alternativen Umgang mit den Bedingungen, die durch die Restriktionen diktiert werden (Ludewig 2002, 2005).
1.4Bewertungen und Erklärungen von Problemsystemen
Wird über ein Problem mit der Person gesprochen, die für den Beobachter das Problem „hat“ bzw. „besitzt“, bildet sich ein soziales System: eine Kommunikation um und über das Thema „Problem“. D. h., „Probleme“ existieren im sozialen System ausschließlich als Kommunikation. Die Sätze „Du bist zu faul und zu dick“ oder „Du trinkst zu viel“ bestehen nämlich aus Wörtern und nicht etwa aus Fettpolstern oder Flüssigkeiten.
Solange die präsentierten Problembeschreibungen und -bewertungen von der angesprochenen Person geteilt werden, können sich beide Partner einigen und unterschiedliche Lösungsideen ausprobieren. Diese können von Strategien, die im eigenen Einflussbereich liegen, über psychotherapeutische Maßnahmen bis zu chemischen oder gar operativen Eingriffen reichen.
Allerdings können Problembeschreibungen und -bewertungen auch differieren. Der eine sieht es anders als der andere. Dann unternimmt der eine Kommunikationspartner Überzeugungs- und/oder Veränderungsversuche,4 die vom anderen aufgrund anderer Bewertungen ausgeschlagen, umgangen oder ad absurdum geführt werden.5 Jeder Abwehrversuch bringt jedoch weitere Veränderungsvorschläge hervor. Ein stabiler Kommunikations- und Konfliktkreislauf etabliert sich. Gespeist werden diese Muster dadurch, dass sowohl die Änderungsvorschläge als auch die entsprechenden Gegenreaktionen jeweils ineffektive Lösungsversuche darstellen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist nicht mehr zu entscheiden, ob ein spezifisches System das Problem erzeugt oder ob das Problem ein System organisiert (Anderson u. Goolishian 1988).
Auch im Rahmen solcher Kommunikationsmuster, sogenannter Problemsysteme, spielen Erklärungen eine wichtige Rolle. Unterschiedliche subjektive Theorien bieten sich an. Z. B. werden physiologische und/oder psychische und/oder soziale Erklärungsmuster favorisiert – jedoch potenziell von jedem Interaktionspartner andere, was die bestehenden Konflikte weiter anheizt.6
Auf der Ebene des Problemsystems werden soziale, psychische und biologische Beiträge aktiviert und enger miteinander gekoppelt: Sowohl psychische Unterscheidungsprozesse als auch kommunikative Beiträge schleifen sich ein und schlagen sich biologisch nieder, indem spezifische neuronale Verknüpfungen begünstigt werden. Diese sind zwar prinzipiell veränderbar, sie fördern aber zunächst in nicht unerheblichen Maße das Abrufen gleicher Erlebens- und Kommunikationsbeiträge (Ciompi 1999; Hüther 2001).
Auf welche Weise sich die theoretischen Zusammenhänge im Alltagsleben aufbauen, zeigt das folgende Beispiel.
Ein Ehepaar, 46 und 43 Jahre alt, Eltern von drei Kindern, nahm Kontakt auf, weil die Ehefrau das Trinkverhalten des Ehemannes als nicht mehr tolerabel ansah. Mit beiden wurden mehrere Gespräche vereinbart, in deren Rahmen unterschiedliche Einschätzungen deutlich wurden. Die Frau berichtete, ihr Ehemann komme gelegentlich betrunken von seiner Nachtschicht nach Hause, wenn einer der Kollegen Geburtstag feiere und eine Kiste Bier ausgebe. Sonntags sei er morgens als aktives Vereinsmitglied eines Musikvereins unterwegs und komme öfter angetrunken aus der Probe zurück. Die Sonntage seien zunächst durch einen Ernüchterungsschlaf und anschließend durch konflikthafte Gespräche verdorben. Die Frau sorgte sich um den familiären Frieden und die familiäre Harmonie und fürchtete darüber hinaus, das Trinken könnte sich beruflich und körperlich bei ihrem Mann negativ auswirken.
Sie nahm also folgende Unterscheidungen über eine gewisse Zeitspanne hinweg vor: Sie beobachtete und behielt im Gedächtnis die Feierabende und die Sonntage, an denen der Mann getrunken hatte, und übersah zunehmend die Tage, an denen dies nicht geschah. Sie registrierte die Sonntage, bei denen das familiäre Zusammenleben durch rauschbedingten Schlaf behindert wurde, und verbuchte demgegenüber weniger die Sonntag...