Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine
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Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine

Wege in eine neue Zeitkultur

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Wege in eine neue Zeitkultur

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Über dieses Buch

'Immer alles und am besten sofort' lautet das Credo unserer Zeit. Wie sind wir in den Strudel der Zeitverdichtung geraten? Wie sind frühere Generationen mit dem Tempo der Welt umgegangen? Welche Wege führen aus der Dringlichkeitsfalle? Karlheinz A. Geißler liefert Antworten auf diese und weitere Fragen unseres Umgangs mit Zeit. Ein Buch zum Schmökern und Innehalten, prall gefüllt mit wertvollen Denkanstößen für ein Leben jenseits von Alltagshektik und Beschleunigung.

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Information

Die neue Zeitordnung

Der Klang der Zeiten

Der Schritt – im Nachhinein gesehen, war es eher ein Sprung – von den vormodernen zu den modernen Zeiten war im wahrsten Sinne des Wortes zu hören. Doch nicht als Knall oder ein sonstiges, die Menschheit aufschreckendes Geräusch, sondern – zumindest im christlichen Abendland – als mehr oder weniger melodisches »Geläut«. Die Zwangsheirat von Glocken und Uhren zur Schlaguhr führte schließlich dazu, dass der Hahn sein Monopol als lebendige Zeitansage mehr und mehr verlor und als vergoldeter Wetterhahn auf die Spitzen hoher Gebäude wanderte. Fortan hörten die Menschen nicht nur die neue Zeit, sie hörten auch auf sie, um das religiöse und das profane Leben zu regeln. Der an die Uhrzeit gekoppelte Glockenschlag übermittelte akustische Informationen über die Zeit und den jeweiligen Zeitpunkt. Stets aber war er auch mahnender Hinweis, sich der traditionellen gemeinschaftlichen und religiösen Pflichten und Traditionen zu erinnern. Stundenschlag und Vesperglocke drängten die Bauern, ihre Arbeit auf dem Feld einzustellen und sich auf den Heimweg zu machen, um sich auf den abendlichen Gottesdienst vorzubereiten. Ein andermal hatte das Duett von Glocke und Uhr die Aufgabe, eine Kindstaufe oder eine Beerdigung anzukündigen, und spät am Abend ermahnte es die Bevölkerung täglich, die offenen Feuer zu löschen. Das galt vor allem für größere Siedlungen, insbesondere für die am Ende des Mittelalters stark wachsenden Stadtkommunen. Die ländliche Bevölkerung ließ sich jedoch weiterhin vom Federvieh und nicht vom Glockenschlag mechanisch gesteuerter Uhren wecken, zumal auf dem Lande keine Stadttore existierten, die nach fixen Uhrzeiten am Morgen geöffnet und am Abend wieder geschlossen wurden. Sie blieben, soweit es die Helligkeit zuließ, auf dem Felde, bis die Arbeit, das »Tagwerk«, getan war. Die Bewohner der Städte hingegen hatten ein heute verloren gegangenes sehr feines und differenziertes Gehör für die verschiedenen Botschaften des jeweiligen Geläuts. Das brauchten sie auch, da es den Einwohnern die Zeitordnung vorgab, an der sie sich gemeinsam ausrichteten und zusammenfanden. Dass das sehr weit ging, belegt eine in Frankreich geläufige Formulierung: »Eine Stadt ohne Glocken ist wie ein Blinder ohne Stock.« Ohne Zeitsignale vom Kirch- oder Glockenturm fühlten sich die Menschen im Zeitlichen verloren, ihnen fehlten die zeitliche Orientierung und die soziale Einbettung. Sie waren unsicher, was zu welchem Zeitpunk zu tun und was wann zu lassen war. Sie rätselten, was sich ihre Vorfahren in vormodernen Zeiten nie gefragt hatten: was die Stunde geschlagen hat.
Ein solcher Zustand der Orientierungslosigkeit rief in einer Zeit, in der man wie selbstverständlich zwischen Obrigkeit und Untertanen unterschied, die Einflussreichen und Mächtigen auf den Plan. Stadt- und Ratsherren, Fürsten und die hohe Geistlichkeit sahen sich dazu aufgefordert, vor allem aus Gründen ihrer Machterhaltung, ihren Untertanen den Weg durch die Zeit und das Zeitliche zu weisen und ihnen Sicherheit und Orientierung zu verleihen. Sie sagten ihnen, wie spät es war, was zu welcher Zeit zu tun und zu lassen war und wo es langzugehen hatte. Zu diesem Zweck installierten sie ab dem 14. Jahrhundert Uhren im öffentlichen Raum. Das waren keine Sonnenuhren mehr, wie sie bereits in Rom eingesetzt wurden, sondern vom Wetter und Sonnenstand unabhängige mechanisch gesteuerte Zeitanzeiger, die den Tag – auch das war neu – in Stunden einteilten. Die Zeit wanderte nicht mehr als Schatten übers Ziffernblatt, sondern als berechen- und mechanisch steuerbares Artefakt. Aber es dauerte nicht allzu lange, da wollten die Untertanen nicht mehr nur von der Obrigkeit gesagt bekommen, was die Stunde geschlagen hatte, sie wollten es auch von sich aus wissen. Seitdem war die Zeit im ganzen Land, und immer öfters auch außerhalb der Städte zu hören und, wo die Uhren an hohen Türmen angebracht waren, auch zu sehen. Das sind sie ja in Süd- und Mitteleuropa bis heute, obgleich die Privatisierung der Uhren – nicht die der Uhrzeit – den Blick zur Turmuhr inzwischen überflüssig gemacht hat. Als es so weit war, dass alle Zeitgenossen die Zeit hören und sehen konnten, wurde sie zum Alltagsthema. Seitdem redete man von ihr und über sie und beschwerte sich, nicht mit ihr zurechtzukommen. Das war dann auch der Moment, als man den »zeitlosen Zustand« der Vormoderne endgültig hinter sich gelassen hatte. Mit dem zeitsuchenden Blick auf die Uhr delegierte man die Zeitentscheidungen von der Natur zur Technik. Das Zeitleben wurde zur angewandten Mechanik. Man war in einer neuen Zeit angekommen, der man später dann die Auszeichnung »Neuzeit« verlieh.
Zwischen 1280 und 1320 war etwas geschehen, das die Welt und den Umgang mit Zeit von Grund auf verändern sollte. Man hatte die mechanischen Uhr erfunden, die nach dem Rad wohl folgenreichste Innovation. Die Erfindung der Räderuhr steht am Anfang einer Epoche, die dann im Anschluss zum Zeitalter der großen Erfindungen und Entdeckungen wurde. Es war vor allem der Wunsch, sich von den Zeitgebern der Natur, vom Lauf der Sonne und dem Gang der Sterne, in allererster Linie aber vom Wetter unabhängiger zu machen, der schließlich zur Erfindung einer Uhr führte, die mechanischen – und nicht mehr wie die Sonnenuhr – kosmischen Gesetzen folgte. Sie verrichtet ihren Dienst unabhängig vom Wetter und ist auch nicht mehr von Helligkeit und Dunkelheit noch von jahreszeitlichen Dynamiken abhängig. Sie folgt, wie die Zeit, die sie produziert und anzeigt, einer von Menschen kontrollierten, manipulierten und manipulierbaren Mechanik. So gesehen, ist die Uhr die zum Instrument gewordene Idee eines souveränen Subjektes, wie sie im Italien zu Beginn der Renaissance geboren wurde. Dass dort auch die Uhr erfunden wurde, ist nur konsequent.
Gesicherte Erkenntnisse, an welchem Ort Norditaliens die Räderuhr erfunden wurde, existieren nicht. Die wenigen Daten und Informationen, die uns vorliegen, verweisen auf ein Kloster in der Nähe von Mailand. Für die Tatsache, dass die Uhr in einem Kloster das Licht, besser: die Zeit der Welt erblickte, spricht der Sachverhalt, dass dies ein Ort war, an dem man vom Tageslicht unabhängige Zeitangaben und Zeitsignale brauchte. Das auf den Dienst an Gott ausgerichtete Miteinander der Ordensmitglieder verlangte strengen Gehorsam, eine am Gebet ausgerichtete Zeitdisziplin sowie umfassende Selbstbeschränkung. Vor allem aber erforderte es ein striktes Einhalten der Gebetsvorschriften. Dazu zählte auch ein im Zeitplan vorgesehenes Chorgebet (die Matutin), das in die Zeit zwischen Mitternacht und Morgendämmerung (genauer: ins dritte Viertel der Nacht) fiel. Um den verbindlichen Zeitplan pflichttreu einzuhalten, benötigte man ein Gerät, das die Mönche rechtzeitig aufweckte. Wohlgemerkt, man brauchte keinen Zeitanzeiger im Kloster, man brauchte einen Wecker. Die vor der Erfindung der mechanischen Uhr üblichen wetter- und lichtabhängigen Sonnen- und Wasseruhren konnten nicht garantieren, dass die bei Sonnenuntergang ins Bett gehenden Klosterbrüder und Klosterschwestern auch rechtzeitig zum nächtlichen Stundengebet wach wurden. Auch vom Hahn konnte man zu dieser nächtlichen Zeit keine Hilfe erwarten. Hörte man ihn krähen, war’s zu spät. Dann wusste man, dass man verschlafen hatte.
Der Erfindung der mechanischen Uhr ging die Einführung der christlichen Datierungsgewohnheiten voraus. Sie jedoch hat das alltägliche Zeithandeln nur geringfügig beeinflusst. Wenn überhaupt, dann fand die Datierung von Ereignissen nur in Klöstern von überregionaler Bedeutung Anwendung, wie etwa in Sankt Gallen und an einigen Königs- und Fürstenhöfen. Weder Bauern noch Handwerker brauchten das Datum, um Zeiträume und Fristen zu markieren. Auch Chronisten blieben noch relativ lang ihrer Gewohnheit treu, merkens- und bemerkenswerte Zeitpunkte durch die Schilderung von Ereignissen zu markieren und nicht durch Daten. Erst als Räderuhren in der Öffentlichkeit auftauchten, markierten die Chronisten ihnen wichtig erscheinende Ereignisse nicht mehr nur durch die Beschreibungen eines auffälligen Geschehens am Himmel, in der Gemeinschaft oder in der Natur (»am Tag, als der große Regen kam …«). Ab da brachten sie die Ereignisse auch in eine Reihenfolge. Was nicht datierbar war, bliebt unerwähnt. Was zur Folge hatte, dass schließlich nur noch Datierbares berichtet wurde. Man kann also davon ausgehen, dass kaum jemand etwas von der ersten Jahrtausendwende mitbekommen hat, zumal man bezifferte Ereignisse wie Jahrhundert- oder Jahrtausendwenden ja nicht sieht, nicht spürt und nicht riecht. Sie finden nur im Kopf statt. Und so haben die allermeisten damals lebenden Menschen die Jahrtausendwende schlichtweg verschlafen. Sie haben in ihrem Leben nicht einmal erfahren, dass sie dieses Kopfereignis verschlafen haben. Von der zweiten nachchristlichen Jahrtausendwende, die wir vor Kurzem hinter uns gebracht haben, kann man das nun wirklich nicht behaupten. Auch diese Tatsache lässt sich gut als Argument gegen diejenigen einsetzen, die immer wieder sagen, die Zeiten würden sich nicht ändern.

Die Enteignung Gottes und der neue Zeitgott

Geändert hat sich zu Beginn der Moderne vieles, allem voran aber die »Besitzverhältnisse« der Zeit. Dem Zeitenlenker Gott (im alten Griechenland waren es Götter) wurden die Zügel aus der Hand genommen. Er wurde »zeitlich« enteignet, verlor sein Zeitmonopol und sein Privileg, dass man zu ihm aufschaute und nicht auf die Kirchturmuhr, um in Erfahrung zu bringen, was die Stunde geschlagen hatte. Ging es um Zeit, um irdische Zeit, verlor der Himmel an Einfluss und Zuneigung. Gott war es, wie die Schöpfungsgeschichte berichtet, der die Zeit geschaffen hatte, doch der Mensch erfand die Uhr und erhob fortan Anspruch auf die Zeit, die er in die Uhr hinein verlagerte. Seitdem schaute man nicht mehr zu Sonne, Mond und Sternen, wenn man wissen wollte, was die Stunde geschlagen hatte, sondern auf die Uhr. Die Zeit war kein göttliches Geschenk mehr. Zeit wurde zu einem irdischen Produkt, das sich aus der Uminterpretation von zurückgelegten Zeigerverläufen auf Zifferblättern errechnete. Wie die Kuh Gras in Milch, so verwandeln die Zeiger der Uhr den Raum in Zeit. Die Uhr wurde zum neuen Zeitgott und ihre Zeitansage zu dessen verbindlicher Botschaft. Der Mensch machte sich selbst zum Zeitherrscher und nahm das Privileg der Zeitgestaltung und der Zeiteinteilung fortan für sich in Anspruch. Das galt in allererster Linie für solche Zeitgenossen, die Macht und Einfluss hatten und das Interesse, beides zu erhalten und möglichst auszubauen. Fortan hieß es nicht mehr: »Alles hat seine Zeit«, jetzt verkündeten die Mächtigen: »Alles hat meine Zeit.«
Mit Druck, Strafandrohungen und Appellen zwangen die Mächtigen ihre Untertanen, sich in Zeitdingen am Stand der von ihnen regulierten Uhrzeiger zu orientieren und nicht mehr am Sonnenstand oder an ihrer aktuellen Gefühls- und Stimmungslage. Seit diesem Zeitpunkt neigen die Menschen dazu, die Uhr mit der Zeit zu verwechseln und fragen, wenn sie sich über die Zeit informieren wollen: »Wie viel Uhr ist es eigentlich?« Eine Frage, die wie keine andere deutlich macht, dass die menschliche Kreatur und deren Zeitlichkeit nicht mehr länger eins mit den Zeiten der Natur und des Himmels sind.
Der Gleichklang von Natur und Sein, der das vormoderne Denken und Handeln über eine lange Zeit geprägt hat, zerbricht mit der beginnenden Moderne. Die Zeit ist nicht mehr länger einfach vorgegeben, sie kann, wie es im christlichen Schöpfungsgedanken ja bereits angelegt ist, geformt werden. Die der Neuzeit ihren Namen verleihende neue Zeit trennt Mensch und Zeit und macht sie genauso zu Gegenspielern, wie sie es mit Zeit und Natur tut und hierdurch Natur zur bloßen »Umwelt« werden lässt. Mit der Uhr glaubt der Mensch sich zugleich auch das Recht erworben zu haben, die Zeiten der Natur – die der inneren ebenso wie die der äußeren Natur – unterwerfen und zu Komparsen der Zeigerlogik machen zu können. Mit guten Gründen kann man daher die Moderne auch als die Epoche des Uhrzeitimperialismus charakterisieren. Mehr und mehr lebendige Zeiten und Zeiten des Lebendigen werden von der Uhrzeit okkupiert und dominiert und zum Objekt menschlichen Zugriffs.
Obgleich Räderuhren meist an Kirchtürmen installiert worden waren, so war es in erster Linie die Kirche, die durch die Verbreitung der Uhr im Alltag der Bevölkerung an Einfluss bei der Zeitorganisation verlor. So entbehrt es auch nicht einer gewissen Ironie, einer »tragischen« Ironie, dass es ein Mann der Kirche war, der mit der Erfindung der Räderuhr die Entmachtung Gottes als Zeitmonopolist in die Wege geleitet hat. Der fromme Mann, der mit seiner Erfindung den Menschen den Zugriff auf die Zeit Tür und Tor geöffnet hat, ist bis heute unbekannt. Was wir wissen, ist wenig. Sicher ist jedoch, dass der geniale Konstrukteur nicht, wie man das eigentlich vermuten könnte, zu der Gruppe jener einflussreichen Personen gehörte, die in einer weiter fortgeschrittenen Phase der Moderne dann das Dogma vom Geldwert der Zeit in die Welt gesetzt haben. Es war kein Handwerksmann und auch kein findiger Kaufmann, der die Uhr erfand, dieses größte Meisterstück aller praktisch verwertbaren Kunststücke. Es war ein tiefgläubiger Christ. Diesem ging es nicht um die Mehrung seines Wohlstandes, es ging ihm überhaupt nicht um irdische Erlöse, sondern ausschließlich um himmlische Erlösung. Auch hat der kreative Ordensbruder nicht mitbekommen, dass er mit seinem Kunststück zugleich eine neue Rolle geschaffen hat: die Rolle des Erfinders. Sie löste die des Nachahmers ab und machte die modernen Zeiten erst richtig modern.
Doch schauen wir noch einmal etwas genauer hin, wie die Uhr das Leben der Menschen und deren Umgang mit Zeit verändert hat. Bevor die mechanische Uhr auftauchte, waren die Menschen gezwungen (ohne dies in ihrer Zeit als Zwang zu begreifen), den Blick zum Himmel zu richten, um tagsüber den Gang der Sonne und nachts den der Sterne zu verfolgen und zu deuten. Dazu mussten sie viel vom Wetter und dem, was sich in der Natur tat, verstehen und ihre Botschaften, Vorzeichen und Warnsignale interpretieren können. Im Großen und Ganzen aber lebte der Mensch in einer Welt der »Zeitlosigkeit«. Die Zeit war kein Thema, zählte, wie das Wetter, zum schlechterdings Hinzunehmenden. Nur durch Bittgebete an Gott, den Schöpfer und Eigner der Zeit, waren das Wetter und die Zeitverläufe, wenn überhaupt, beeinflussbar. Mehrheitlich sahen sich die Menschen in demütiger Art und Weise in die Rhythmen und Zyklen von Natur, Kosmos und Kirche eingebettet und eingebunden. Erst als die Menschen zu planetenverlorenen Wesen wurden und der Zeit ein Zahlenkleid überstülpten, änderte sich dies.
Mit der Uhr stand den Menschen ein Instrument zur Verfügung, das es möglich machte, sich aus der umfassenden Abhängigkeit von den Natur- und Wetterdramatiken zu befreien. Zugleich war mit der Uhr ein Gegenstand geschaffen, der es ihnen erlaubte, auf die Zeit zuzugehen, etwas mit ihr zu tun, sie zu organisieren. Man war also nicht mehr länger nur Opfer, nicht mehr nur Empfänger fremder Zeitvorgaben. Wir können davon ausgehen, dass der spätmittelalterliche Mönch aus der Lombardei das alles so nicht gesehen, geschweige denn beabsichtigt hatte. Er hatte die Uhr aus kultischen Gründen, nicht aus ökonomischen oder ordnungspolitischen Impulsen heraus erfunden. Hätte er geahnt, was die Welt jenseits der Klostermauern mit seiner Erfindung in Bewegung setzen und umwälzen würde, dann hätte er seine technische Intelligenz mit hoher Wahrscheinlichkeit anderweitig eingesetzt. Die Uhr hat die Zeit nämlich säkularisiert, ein Schicksal, das den Klöstern später selbst widerfuhr. Hatte der kreative italienische Ordensbruder die Uhr einst in der frommen Absicht erfunden, den religiösen Verpflichtungen, der kanonischen Stundeneinteilung, in gottgefälliger Art und Weise nachkommen zu können, so hat er sein Ziel nicht erreicht. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Uhr regelt und optimiert heute viel, sehr viel – allein die Gebetszeit zwischen Mitternacht und Dämmerung, jene von den Griechen besungene »rosenfingrige Göttin der Morgenröte«, gehört nicht mehr dazu.
Die neue Zeit erhielt auch ein neues Zeitmuster. Es ist nicht mehr der Rhythmus des Lebendigen, der dem Dasein die zeitlichen Akzente verleiht, es ist der Takt der Maschine »Uhr«, der dies in der Moderne tut. Seitdem die Uhrzeit die Herrschaft über Zeit ausübt, fließt die Zeit nicht mehr, wie sie das in den Sand- und in den Wasseruhren tut. Von da an tickt die Zeit und muss es über sich ergehen lassen, in immer kleinere Teile zerhackt zu werden. Der Zeit, die von der Uhr produziert wird, haftet keine Qualität mehr an, sie tickt ohne Unterbrechung, kennt kein Auf und Ab, keinen Rhythmus, keine Zeitoasen, keine Zeitfalten und keine Zeitnischen. Die leblose, mechanische Regelmäßigkeit des maschinellen Taktes überlagert immer umfassender die lebendigen, nur eingeschränkt kalkulierbaren und beherrschbaren Naturrhythmen. Der Takt verdrängt und ersetzt die Rhythmen des Lebendigen und bietet sich immer direkter und undiskreter als Leitbild des Zeithandelns an. Die Uhr mit ihrer vertakteten Zeit hat das Kommando im Maschinenraum jenes Schiffes übernommen, das die Meere der Moderne kreuzt.

Gottverlassene Zeiten

Als die Menschen schließlich so weit an die neue Zeit gewöhnt und angepasst waren, dass sie öfters auf die Uhr als zum Himmel und auf das Geschehen schauten, das sich in der Natur um sie herum abspielte, ging auch die Zeit zu Ende, in der man noch Götter und Helden brauchte, um sich und anderen die Undurchschaubarkeit der Zeitverläufe plausibel zu machen. Die Uhrzeit hat keine ähnlich unterhaltsamen und abwechslungsreichen Umwege über Heldenerzählungen und Göttergeschichten mehr nötig. Sie ist sachlich, geradeaus und in aufdringlicher Art und Weise direkt. Ein kurzer, rascher Blick auf die Zeigerstellung und auf das alle Zeiten uniformierende Zifferblatt genügt, und man weiß Bescheid, was die Stunde geschlagen hat. Das ist zeitsparend, aber es ist erheblich weniger amüsant und unterhaltsam als all das, was sich Chronos und Kairos, mal zur Freude, mal zum Entsetzen der alten Griechen, so alles geleistet haben.
So wenig, wie es bis heute gelungen ist, die Vaterschaft der mechanischen Uhr zu klären, so wenig wissen wir auch über den präzisen Zeitpunkt ihrer Geburt. Wir wissen nicht, wer die mechanische Uhr erfunden hat, wissen nur mit Sicherheit, dass es nicht der Kuckuck war. Die Tatsache, dass uns die Historiker nicht einmal das Jahr, und schon gar nicht das exakte Geburtsdatum der Anwärterin auf den Thron der Zeitorganisation nennen können, eignet sich für eine ironische Fußnote im Lehrbuch der Technikgeschichte, mit dem Hinweis, dass sich die Geburt der Uhr zwar genauer Datierung entzieht, sie aber die Voraussetzung schafft, die ihrem Erscheinen folgenden Ereignisse datieren zu können.
Die Uhr hat nicht nur die Zeitwahrnehmung und die Zeiterfahrung der Menschheit verändert, sie hat auch deren Verhalten neu ausgerichtet. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, als das Mobiltelefon sie schließlich vom Thron gestürzt hat, war die Uhr jenes Instrument, dem wir im Alltag die größte Aufmerksamkeit zukommen ließen. Selbst Personen in nächster Umgebung, Lebenspartner und die eigenen Kinder etwa, konnten sich nicht einer nur annähernd gleich großen Zuneigung erfreuen. Während wir täglich mehrmals Gespräche mit ihnen mit dem Argument unterbrechen, wir hätten keine Zeit, haben wir diese jedoch stets für den Blick zur Uhr. Von niemand anderem, weder von unseren Vorgesetzten noch von lieben Freunden und Freundinnen lassen wir uns so bereitwillig und problemlos sagen, was zu tun und was zu lassen sei. Kein Präsident, kein König und keine Kanzlerin nimmt so viel Einfluss auf unser Alltagsleben wie die Uhr. Sie und ihr Räderwerk sind an der Macht, sie herrschen über die Menschen und das, was diese tun und lassen.
Begonnen hatte das alles damit, dass im 12./13. Jahrhundert die Vernunft immer häufiger den Glauben herausforderte und dessen Offenbarungen und Praktiken auf den Prüfstand des Verstandes stellte. Die Gewissheit der Glaubensgrundsätze schwand zu dieser Zeit mehr und mehr. Erlösung erwartete man sich nicht mehr nur von der Gnade Gottes, sondern jetzt auch von irdischem Tun. Mutige Menschen stellten erstmalig die Frage: »Könnte es nicht auch anders sein?« Soweit es dabei um »Zeit« ging, erörterte man die Frage nach deren Wesen vor allem an den gegen Ende des Mittelalters gegründeten Lehranstalten Oberitaliens, Bologna und Padua an erster Stelle, und an der Universität Paris. Dabei ging es meist um den aristotelischen Zeitbegriff, der an den genannten Universitäten gelehrt und über den dort auch gestritten wurde.
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Details über die heutzutage schwer nachvollziehbaren Auseinandersetzungen müssen hier nicht weiter interessieren. Mit Blick auf die Argumentation genügt in unserem Zusammenhang der Hinweis, dass die Philosophen im Laufe des 14. Jahrhunderts damit begannen, das Thema »Zeit« nicht mehr bloß als »spekulative Denker« zu erörtern, sondern auch als »Physiker«. Die Physik hatte sich mehr und mehr von der Spekulation befreit, was schließlich die Spaltung von Philosophie und Naturwissenschaft zur Folge hatte. An vielen Orten des Geistes bekamen die alten Gewissheiten Risse und fingen an zu bröckeln. Neue Gewissheiten zeichneten sich ab. Es begann eine neue Zeit. Das Eingangstor dieser Neuzeit ziert der Imperativ des italienischen Humanisten Pico della Mirandola: »Werde zum Schöpfer und zum Bildhauer Deiner selbst.«
Das traditionelle Zeitverständnis geriet in jenem Augenblick ins Wanken, als man die »Zeit« als ein Maß der Bewegung zwischen einem Vorher und einem Nachher zu verstehen begann. Damit war die Idee des zeitlichen Fortschreitens, die später im 18. Jahrhundert den Namen »Fortschritt« erhält, in die Welt gesetzt. Es ist die äußerst wirksame Vorstellung der einer schnurgeraden napoleonischen Landstraße gleichenden Linie, die von der Vergangenheit über die Schnellgaststätte »Gegenwart« in die Zukunft führt. Die Basis des Fortschrittsdenkens wurde bereits um da...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. I  Alles hat seine Zeit – Die Zeit der Vormoderne
  7. Zeit der Natur – Natur der Zeit
  8. Die Zeitordnung Gottes
  9. Im Kreislauf der Zeit
  10. II  Alle Macht der Uhr – Die Zeit der Moderne
  11. Die neue Zeitordnung
  12. Zeit ist Geld
  13. Vom Tempo der Welt
  14. Dialektik des Fortschritts
  15. III  Alles zu jeder Zeit – Die Zeit der Postmoderne
  16. Der Simultant
  17. Der moderne Sisyphus
  18. Freiheit als Zumutung
  19. IV  Wege aus der Zeitfalle
  20. Literatur & Grafik
  21. Über den Autor