Krieg und Krise
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Krieg und Krise

Basel 1914-1918

  1. 352 Seiten
  2. German
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Krieg und Krise

Basel 1914-1918

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Über dieses Buch

Wie gingen Gesellschaft und Politik mit der sich verschärfenden wirtschaftlichen und sozialen Krise um? Was gefährdete, was bewahrte den Zusammenhalt der städtischen Gesellschaft? Was der Erste Weltkrieg für die Grenzstadt Basel bedeutete, ist eine noch kaum erforschte Frage. Erstmals werden die brisanten Themen anschaulich und quellennah dargestellt und historisch interpretiert: die Panik bei Kriegsausbruch, die Versorgungsprobleme der Stadt, das humanitäre Engagement bürgerlicher Kreise sowie die Konfrontation zwischen Arbeiterschaft und Bürgerwehren, die im Landesstreik von 1918 eskalierte.Bereichert wird das Buch durch die Aufzeichnungen und Erinnerungen von Gertrud Preiswerk (1898-1989). Faktendicht und bunt hat sie ihren Alltag festgehalten. Ihre Hefte sind literarisch wie historisch ein faszinierendes Dokument, das in Auszügen im Rahmen dieser Publikation erstmals veröffentlich wird.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783856166458

1

Basel vor 1914

Auf Grossstadt-Kurs

Das Jahr 1875 hatte das Ende des ‹Alten Basel› gebracht. [3] Damals hatte sich der Kanton eine neue Staatsverfassung mit moderner Verwaltung gegeben und das konservative Ratsherrenregime durch eine freisinnig dominierte Regierung abgelöst. Dieser Machtwechsel war Ausdruck der tiefgreifenden Veränderung, welche die städtische Gesellschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasst hatte und bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs ungebremst anhielt. Mit einer Bevölkerungszunahme von 47 000 Einwohnern im Jahre 1870 auf 144 500 Einwohner im Jahre 1914 [4] entwickelte sich Basel zu einer Grossstadt. Zwei Drittel dieses Wachstums verdankte es der Zuwanderung. Den Antrieb dazu bildete hauptsächlich Basels Industrialisierung, sein Ruf als reiche Fabrikstadt. Der Zustrom an neuen Arbeitskräften, vielfach ganzen Familien, stammte zur einen Hälfte aus dem Ausland, hauptsächlich aus dem Elsass und dem Badischen, und zur andern Hälfte aus Schweizer Kantonen, vor allem aus Baselland und dem Aargau. 1910 zählte die Statistik 63 700 Erwerbstätige, die Hälfte davon im Industrie- und Gewerbesektor. Die grösste Industrie bildete immer noch die Seidenbandproduktion mit 6900 Beschäftigten – bis 70 Prozent davon Frauen –, gefolgt von der Metall- und Maschinenindustrie mit gut 3000 und der ‹Chemischen› mit knapp 2400 Beschäftigten. Fast die Hälfte der im Sekundärsektor Beschäftigten arbeiteten noch im lokalen Gewerbe, allein im Baugewerbe 5000 – ein deutlicher Ausdruck des städtischen Wachstums. Entsprechend expandierte auch der Dienstleistungsbereich, vor allem der Handelssektor mit gut 7500 Beschäftigten, der mit Export und Import, zum Beispiel über den Rheinhafen St. Johann (seit 1906/07), und mit dem regionalen Detailhandel, etwa im Allgemeinen Consumverein (A.C.V.), befasst war. Insgesamt zählte die Stadt vor Kriegsausbruch um die 50 000 Ausländer, davon gut 40 000 Deutsche (Elsässer inbegriffen!) und – fast ausschliesslich im Baubereich – 4600 Italiener.
Diese wenigen Hinweise zeigen die Dynamik der städtischen Entwicklung, welche die Jahrzehnte vor dem Krieg kennzeichnete. Uns interessiert hier die Frage, wie die Gesellschaft vor dem Krieg mit diesem gewaltigen Wachstum umging. Einwanderungsbeschränkungen waren vor dem Ersten Weltkrieg noch kein Thema. Es herrschte in Europa fast vollständige Personenfreizügigkeit. Das galt auch für die Schweiz, die mit zahlreichen andern Staaten wechselseitige Niederlassungsverträge geschlossen hatte. [5] Wie löste die Stadt die Probleme der Integration oder, wie man damals sagte: «Assimilation»? Welches Bild bot Basel vor Kriegsausbruch im Prozess der Eingliederung und Ausgrenzung, der Akzeptanz und Ablehnung der Ansprüche neuer Bevölkerungsgruppen?

Modernisierung unter dem Freisinn

Die dreissig Jahre freisinniger Vorherrschaft (1875–1905) brachten eine enorme Aktivierung staatlicher Investitionen. Die Staatsausgaben, welche sich zwischen 1833, dem Jahr der Abspaltung des Kantons Basellandschaft, und 1870 von 0,6 auf 1,6 Millionen Franken, bei vernachlässigbarer Teuerung, erhöht hatten, explodierten bis 1900 auf 12,9 Millionen Franken. Breit wurde die der wirtschaftlichen und sozialen ‹Wohlfahrt› dienliche Infrastruktur ausgebaut. Wichtigstes Traktandum war die hygienische Sanierung der Stadt durch ein Kanalisationssystem und neue Wohnquartiere. Neue Arbeiterwohnungen entstanden in Nachbarschaft zu Fabriken im Clara-, Matthäus-, Rosental- und Klybeckquartier sowie im St. Johann und der Breite. Das Gundeldingerquartier wurde Musterbeispiel eines auf dem Reissbrett entworfenen, geometrisch strukturierten Mittelstandquartiers mit stilistisch vielfältigen Mehrfamilienhäusern. Im Gellert- und Sevogelquartier bauten sich die Begüterten ihre Villen und Strassenzüge mit dreigeschossigen Einfamilienhäusern. So auch im Paulusquartier, jenseits des Rings. In diesen vornehmeren Stadtteilen entfaltete sich vielfältig die Architektur des Fin de Siècle zwischen Historismus und Jugendstil. [6] Die Erschliessung neuer Quartiere verband sich mit der Entwicklung und Ausdehnung der Wasser-, Elektrizitäts- und Gasversorgung. 1900 begann die elektrische Strassenbeleuchtung die Gaslampen abzulösen. Der Volkswohlfahrt dienten auch öffentliche Pärke, kurz vor der Jahrhundertwende wurden die Schützenmatte und die Margarethenwiese diesem Zweck zugeführt. Und dann das Basler Tram: 1895 verband die erste elektrische Tramlinie den Schweizer (und Elsässer) Bahnhof mit dem Badischen Bahnhof. Mit der Jahrhundertwende führten immer neue Strassenbahnlinien in die Aussenquartiere und Vororte, bis ins benachbarte, noch frei erreichbare Ausland: nach St. Ludwig (heute Saint-Louis) und Hüningen (Huningue). Im Oktober 1913 beschloss der Grosse Rat Linienführungen aufs Bruderholz und von Riehen nach Lörrach. Aber für die letztere war es vorerst zu spät.
Zugleich städtebaulich wie sozialpolitisch bedeutend war die freisinnige Bildungsoffensive, die sich im Bau zahlreicher neuer und grosszügig angelegter und ausgestatteter Schulhäuser, vor allem Primarschulen, in Gross- und Kleinbasel manifestierte. Wohl nicht zufällig bietet noch heute auf dem Kohlenberg das turmbewehrte Gymnasium Leonhard, die ehemalige Töchterschule (Ausbau 1906), städtebaulich gewissermassen dem Münster und der Elisabethenkirche die Stirn. Das staatliche Bildungsmonopol und ein republikanisch-laizistisches Schulwesen waren zentrale Programmpunkte des Freisinns, ein Stück Kulturkampf gegen das altprotestantische Basel. Der radikal-freisinnige Regierungsrat Wilhelm Klein (1825–1887) setzte sich allerdings mit seiner Vision einer antiständischen Einheitsschule nicht durch. 1880 kam es zu einem dauerhaften Kompromissgesetz, das eine achtjährige Schulpflicht und die Unentgeltlichkeit des Unterrichts bis zur Universität festschrieb, aber in der Aufteilung der Schülerschaft nach vier Jahren auf Sekundar- und Realschule sowie (gross-)bürgerliches Gymnasium noch für rund ein Jahrhundert das ständische Element beibehielt.

Ab 1900: Integrationsprozesse

Die Jahrhundertwende signalisierte in Basels Geschichte eine neue Epoche. War die freisinnige Herrschaft hauptsächlich eine Zeit der Modernisierung in Verwaltung und Infrastruktur, begann nun eine Periode der vermehrten politischen Einbindung der neuen Bevölkerungsgruppen, um ein konfliktträchtiges Ungleichgewicht zwischen der städtischen Bürgerschaft als Minderheit und der Mehrheit der Zugezogenen zu vermeiden. Dabei blieben die Ansprüche der Frauen bekanntlich noch auf Jahrzehnte unbeachtet. [7] Es waren drei Reformprozesse, die von den neuen Kräften angestossen wurden und nach langen Jahren der Auseinandersetzung schliesslich Erfolg zeitigten: das nur knapp durchgesetzte Proporzwahlsystem für den Grossen Rat 1905, die Trennung von Kirche und Staat 1910 und, noch vor beidem, das Bürgerrechtsgesetz von 1902.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte das Verhältnis von Bürgern und Nichtbürgern in der Einwohnerschaft Basels immer schiefere Formen angenommen. 1900 besassen noch 26 Prozent das Bürgerrecht, gegenüber 35,8 Prozent nicht eingebürgerten Schweizern, die Stimm- und Wahlrecht hatten, und 38,2 Prozent Ausländern. Ausgehend von einem Anzug des Sozialdemokraten Eugen Wullschleger (1832–1931) legte der Regierungsrat 1900 einen Ratschlag zur Revision des Bürgerrechtsgesetzes im Sinne einer Erleichterung der Einbürgerung für Ausländer vor [8]: Einwohnern, die seit mehr als 15 Jahre im Kanton wohnten, aber unter 45 Jahre alt waren, wurde nun ein Recht auf Aufnahme ins Bürgerrecht zugestanden, natürlich mit gewissen Einschränkungen (Kriminalität, Konkurs innert der letzten drei Jahre, Beanspruchung von öffentlicher oder privater Wohltätigkeit, «anstössiger Lebenswandel»). Prinzipiell konnte Schweizern nach acht- und Ausländern nach zehnjährigem Wohnsitz im Kanton das Bürgerrecht – unentgeltlich – erteilt werden. Man öffnete das Bürgerrecht also für jene, die von Alter und Vorleben her für die Bürgerschaft zuverlässig und nützlich erschienen. Den integrativen Sinn der erleichterten Einbürgerungspraxis formulierte auf eidgenössischer Ebene, wo zeitgleich ein angepasstes Bundesgesetz über die Einbürgerung angeregt wurde, der St. Galler Nationalrat Theodor Gut: «Abgesehen von politischen Gefahren, welche dieses grosse Kontingent von nicht mit schweizerischen Institutionen verwachsenen Ausländern mit sich bringen könne, sei auch vor allem daran zu erinnern, welch verderbliche Erwerbskonkurrenz von dieser von der persönlichen Militärdienstleistung in der Schweiz befreiten Ausländerkolonie dem im wehrpflichtigen Alter befindlichen Schweizerbürger drohe.». [9] – Allerdings: Die Migration hielt an, und der Anteil der ausländischen Bevölkerung verringerte sich bis zum Kriegsausbruch kaum, trotz des neuen, gosszügig gehaltenen Bürgerrechts. Denn der Bürgerrat blieb gegenüber «Petenten, die in schwachen ökonomischen Verhältnissen sind», restriktiv, weil man Angst hatte, sie würden den sozialen Institutionen bei nächster Gelegenheit zur Last fallen. Zudem scheinen auch viele Angehörige der Arbeiterklasse sich geschämt zu haben, vor der Bürgerkommission ihre brüchigen, stets armutsgefährdeten Lebensverhältnisse offenzulegen. [10]
Von grosser Bedeutung für die Identifikation der verschiedenen Bevölkerungsschichten mit den staatlichen Institutionen und für die Verbesserung der politischen Konfliktkultur überhaupt war die Einführung des Proporzwahlrechts 1905. Es brachte die gesellschaftliche Vielfalt und Heterogenität der gewachsenen Stadt auch politisch zum Ausdruck und löste die absolute parlamentarische Mehrheit des Freisinns durch eine aus den Wähleranteilen der Parteien abgeleitete Zusammensetzung des Grossen Rates ab. Der Proporz war gewissermassen der Abschluss der 1875 eingeleiteten Verfassungsrevision und eines fünfzehnjährigen konfliktreichen Prozesses um die Gestaltung des Wahlrechts. [11] Die Gegner des Proporzsystems sahen darin nicht eine konfliktregelnde integrative Institution, sondern im Gegenteil eine Gefährdung der Einheit: Es «würde das Gefühl der Zusammengehörigkeit geschwächt, der Rat würde sich in Vertretung einzelner Interessen auflösen und schwierig für einen bestimmten wichtigen Gedanken zu gewinnen sein.» [12] Das neue Wahlrecht setzte sich in der Volksabstimmung nur sehr knapp durch – mit ganzen zehn Stimmen Mehrheit! –, zeigte dann aber rasch den Wandel der realen Verhältnisse. Die Sozialdemokratische Partei war seit 1890 als Vertreterin der Arbeiterschaft gross geworden und seit 1902 mit Eugen Wullschleger im Regierungsrat vertreten. Dank dem Proporz wuchs sie zur stärksten Fraktion im Grossen Rat heran und gewann 1910 mit Hermann Blocher einen zweiten Sitz im Regierungsrat. Im Wahljahr 1911 erreichten die Sozialdemokraten als wählerstärkste Partei 32,8 Prozent der Stimmenden, die mittelständischen Freisinnigen demgegenüber noch 28,6 Prozent, die altbaslerisch gesinnten Liberalen 18,4 Prozent, und die Katholiken gewannen 13 Prozent Stimmenanteil. Im gleichen Jahr konstituierte sich die Fortschrittliche Bürgerpartei, eine von Hausbesitzern und Gewerblern getragene rechte Abspaltung des Freisinns, und gewann auf Anhieb 6,5 Prozent der Wählerstimmen. Im Regierungsrat hatten 1914 neben den beiden Sozialdemokraten die liberal-konservative Partei mit Carl Christoph Burckhardt-Schatzmann und Rudolf Miescher ebenfalls zwei und die Freisinnigen mit Armin Stöcklin, dem parteilosen Fritz Mangold und Friedrich Aemmer drei Vertreter.
Die dritte wichtige Reform zur Gleichstellung von Bevölkerungsminderheiten betraf die Trennung von Kirche und Staat durch die Verfassungsänderung von 1910. Der Zustand, dass die evangelisch-reformierte Staatskirche indirekt auch aus Steuermitteln der Nichtprotestanten alimentiert wurde, war immer stossender geworden. Nachdem die Katholiken 1903 eine staatliche Subvention auch ihrer Kirche gefordert hatten, beantragten die Sozialdemokraten 1906 im Grossen Rat die vollständige Trennung von Kirche und Staat. Ein komplizierter Verhandlungsprozess setzte ein, an dessen Ende die Rechtsgleichheit der reformierten, (römisch-)katholischen und christkatholischen Kirchen sowie der jüdischen Gemeinde stand. Die Verflechtung von Kirche und Staat, das letzte institutionelle Relikt des ‹alten› Basel, entfiel, und keine Kirche konnte mehr staatliche Finanzmittel beanspruchen. Der Trennungsprozess beschränkte allerdings die Autonomie der reformierten – und auch der christkatholischen – Kirche: Der Staat behielt die Oberaufsicht und legte den demokratisch-pluralistischen Charakter der evangelisch-reformierten Kirche fest. Synode und Kirchenrat wurden künftig nach dem Proporz gewählt, sodass positive (orthodox-antiliberale), freisinnige und unabhängige Gemeindevereine nebeneinander vertreten waren. Die Kirche selber ging dann sogar noch weiter als der Staat: Auch Ausländer und ab 1920 Frauen erhielten als Kirchenmitglieder das Stimm- und Wahlrecht. Als öffentlich-rechtliche Institution anerkannt, durften die beiden Kirchen ihre Mitglieder besteuern. Die römisch-katholische Kirche allerdings widersetzte sich der staatlichen Oberaufsicht und blieb (bis 1972!) ein privater Verein ohne eigenes Steuerrecht. Anteilmässig umfassten die Protestanten zu Beginn des 20. Jahrhunderts 63 Prozent, die Katholiken rund 30 Prozent, die Christkatholiken 3,2 Prozent und die Juden 1,3 Prozent der Bevölkerung. Auch die neue Regelung der kirchlichen Verhältnisse war somit ein Modernisierungsschritt, der Basels grossstädtische Vielfalt abbildete und eine nicht zu unterschätzende integrierende Kraft besass.
Abgesehen von diesen teilweise langwierigen politischen Prozessen galt Basel insgesamt für Arbeiterfamilien als attraktiver Ort. Neben relativ günstigen Mietpreisen, der Unentgeltlichkeit der Schule, niedrigen (aber noch nicht familiengerechten) Steuern – für Arbeiterinnen und Arbeiter ein bis zwei Prozent des Einkommens – sorgten Pionierleistungen im Sozialwesen und grosszügige Wohlfahrtseinrichtungen für den gesellschaftspolitisch vergleichsweise guten Ruf der Stadt: 1910 wurde die Freiwillige kantonale Arbeitslosenversicherung eröffnet, 1911 das staatliche Einigungsamt für die Vermittlung bei Arbeitskonflikten eingerichtet und 1914 die gut ausgebaute Allgemeine Poliklinik von der Oeffentlichen Krankenkasse (OeKK) abgelöst. [13] Kennzeichnend für die Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg war aber immer noch ein Wirrwarr von privaten und staatlichen Zuständigkeiten in der Sozialhilfe, welches einer langfristigen, koordinierten sozialpolitischen Strategie im Wege stand. Erst Krieg und Landesstreik sollten die Entfaltung einer umfassenden Sozialpolitik beschleunigen. [14]

Zunehmende Klassenkämpfe

Alle diese Fortschritte in der städtischen und kantonalen Politik standen aber in einem auffälligen Kontrast zur desolaten materiellen Lage der Arbeiterbevölkerung. Oder anders gesagt: Den Bemühungen um die politische Integration entsprachen keine privatwirtschaftlichen Bemühungen um die ökonomische Besserstellung der Arbeitsbevölkerung. Die Konjunkturwellen ab 1895 hatten zwar das Volkseinkommen insgesamt, kaum aber die Löhne der Arbeiterschaft gesteigert. Auch wenn sich die Arbeitszeiten in vielen Betrieben um eine Stunde wöchentlich senkten, auch wenn in den modernsten Betrieben allmählich einige Tage Ferien eingeführt wurden – die Fabrikarbeiterschaft lebte mehrheitlich im Existenzminimum, kinderreiche Familien ernährten sich schlechter als die Gefangenen der Strafanstalt, wie der Kantonsstatistiker und spätere Regierungsrat Fritz Mangold anmerkte. [15] Vor allem sorgte die anhaltende Lebensmittelteuerung dafür, dass das Proletariat sich immer mehr nach der Decke strecken und von der städtischen Modernisierung ausgeschlossen fühlen musste. Basel verzeichnet deshalb zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine markante Zunahme an Arbeitskämpfen. Dabei spielten neben den stagnierenden Löhnen in Zeiten des allgemeinen Fortschritts auch andere Faktoren eine Rolle: die bessere Organisation bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welche auch internationale Absprachen erlaubten und mindestens den Ton der Auseinandersetzungen radikalisierten, dann die zunehmend sichtbaren Unterschiede von Arm und Reich durch die Herausbildung deutlich get...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Dank
  6. Einleitung: Basel und der Erste Weltkrieg?
  7. 1 Basel vor 1914 – Auf Grossstadt-Kurs
  8. 2 Panik, Vertreibung, Mobilisation und Krieg
  9. 3 Kriegsnothilfe und das wachsende Elend der Bevölkerung
  10. 4 Militärische und zivile Welt – Vom Konsens zur Krise
  11. 5 Humanitäres Engagement und seine Grenzen
  12. 6 Kartoffelschlachten – Im Spannungsfeld der Lebensmittelversorgung
  13. 7 Brennpunkt Kohle
  14. 8 Kapital und Arbeit
  15. Einige Akzente zum Schluss
  16. Anhang