Present Shock
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Present Shock

Wenn alles jetzt passiert

  1. 280 Seiten
  2. German
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Present Shock

Wenn alles jetzt passiert

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Über dieses Buch

Maschinen, die für uns arbeiten, damit wir mehr Zeit für uns haben! Was einmal wie ein Traum vom Paradies klang, hat eher albtraumhafte Züge angenommen. Statt auf dem Rücken liegend den Vogelflug zu bewundern, sind wir Sklaven von Email, Twitter und Facebook geworden. Wir sehen von allem zu viel und doch nie das richtige, da zuviele Welten gleichzeitig um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Diagnose: Present Shock.Douglas Rushkoff fasst in Worte, was wir alle erleben, aber kaum einordnen können. Seine kritische Bestandsaufnahme als Medientheoretiker und als Betroffener erklärt, wodurch wir den Augenblick verloren haben. Er eröffnet eine Perspektive auf das Leben im digitalen Zeitalter, die uns das gewaltige Ausmaß des Umbruchs vor Augen führt - und uns auf geradezu kathartische Art und Weise damit versöhnt.»Wir wissen zwar nicht mehr, wo es langgeht, aber wir kommen viel schneller voran.«

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783936086751

1 | Narrativer Kollaps

Ich hatte mich auf das 21. Jahrhundert gefreut. In den 1990ern ging das den meisten so: Unser Blick ging nach vorn. Alles schien sich zu beschleunigen, die Rechengeschwindigkeit der Computer genauso wie das Wachstum der Märkte. Auf allen PowerPoint-Folien sah man die gleiche steile Aufwärtskurve, ob es nun um die Höhe des zu erwartenden Profits, die Anzahl der Computernutzer oder den CO2-Ausstoß ging – das Wachstum war exponentiell.
1965 hatte Intel-Mitgründer Gordon Moore das mooresche Gesetz formuliert, eine Faustregel für den technologischen Fortschritt, die besagte, dass sich die Rechnerleistung alle zwei Jahre verdoppeln würde. Aber nun schien sich auch alles andere im Handumdrehen zu verdoppeln: der Aktienindex, die Arztrechnung, die Internetgeschwindigkeit, die Anzahl der Kabelfernsehsender. Wir hatten uns nicht nur an einzelne Veränderungen zu gewöhnen, sondern an die wachsende Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen auf uns zukamen. Wir erlitten, wie es der Zukunftsforscher Alvin Toffler nannte, einen Zukunftsschock.
Daraufhin traten wir die Flucht nach vorn an. Jeder und alles richtete sich auf die Zukunft aus. Nicht, weil wir uns auf etwas Bestimmtes freuten, sondern weil unser Blick ganz allgemein in die Zukunft ging. Trendforscher und »Cool Hunter«, die einen exklusiven Ausblick auf das nächste große Ding versprachen, gehörten zu den bestbezahlten Beratern überhaupt. Optimistische Bücher über Die Zukunft des … füllten die Regale der Buchläden und wurden später von Titeln à la Das Ende der … abgelöst. Worum es jeweils ging, spielte eigentlich keine Rolle; es zählte nur, dass sie eine Zukunft hatten oder – und das war fast noch beruhigender – dass sie eben keine hatten.
Wir alle waren Zukunftsforscher, angetrieben von neuen Technologien, neuen Theorien, neuen Geschäftsmodellen und Denkansätzen, die nicht einfach nur mehr versprachen, sondern etwas völlig anderes: eine Verschiebung mit unbekannter Stoßrichtung und von noch nie da gewesenem Ausmaß. Mit jedem Jahr, das verging, zog es uns stärker zu einer Art »chaotischem Attraktor« hin, und je näher wir kamen, desto schneller schien die Zeit abzulaufen. Schließlich befanden wir uns in den letzten Jahren des letzten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts vor der Jahrtausendwende. Der unaufhaltsame, vom Internet verstärkte Boom der 1990er-Jahre war von genau diesem Blick nach vorne geprägt, von der Sehnsucht nach dem erlösenden Abschluss, dem ultimativen Wechsel ins nächste Jahrtausend.
Pedanten zählten das Jahr 2000 noch zum 20. Jahrhundert, doch uns galt es als Beginn eines neuen Zeitalters. Wir fieberten der Veränderung entgegen wie gläubige Millenaristen der Wiederkunft Christi. Die meisten erwarteten den Umbruch allerdings eher in der säkularen Gestalt des millenium bug: Computersysteme, die das Jahr in zwei Ziffern codierten, drohten am Übergang zur doppelten Null zu scheitern. Aufzüge würden stecken bleiben, Flugzeuge vom Himmel fallen, Kernkraftwerke eine Kernschmelze erleben – es wäre das Ende der Welt, wie wir sie kannten.
Und falls uns der Y2K-Bug verschonte, würden uns die Terroristen kriegen. Der Elfte September lag noch in der Zukunft, aber schon am 31. Dezember 1999 war man bei den Feierlichkeiten auf dem Times Square auf einen terroristischen Anschlag gefasst. In Seattle hatte man die Festivitäten aus Angst vor einem Terrorangriff sogar abgesagt. Die Berichterstatter von CNN verfolgten das mitternächtliche Hinüberschreiten ins neue Jahrtausend Zeitzone um Zeitzone und verglichen das Feuerwerk über dem Eiffelturm mit dem über der Freiheitsstatue.
Aber das Spektakulärste, was es von den verschiedenen Zwischenstationen zu berichten gab, war, dass überhaupt nichts Spektakuläres geschah – weder in Auckland noch in Hong Kong und auch nicht in Kairo, im Vatikan, in London, Buenos Aires oder Los Angeles. Die Flugzeuge blieben in der Luft – KLM hatte sicherheitshalber nur 3 ihrer 125 Maschinen im Einsatz –, und kein einziger Terroranschlag wurde verübt. Die Jahrtausendwende war eine einzige Antiklimax.
Aber etwas veränderte sich doch in dieser Nacht. Das Gefühl der Erwartung ließ nach. Der Blick in die Zukunft wich einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die Menschen fragten sich nicht mehr, was geschehen würde, sondern begannen, sich mit dem zu beschäftigen, was schon war.
Auf den Finanzmärkten etwa wurde der aktuelle Stand einer Geldanlage wichtiger als ihr zukünftiger Wert. Zehn Wochen nach der Jahrtausendwende erreichte der NASDAQ – der größte Markt für zukunftsorientierte Technologieunternehmen – mit 5.100 Punkten sein Allzeithoch, nur um kurz darauf abzustürzen. Er hat sich bis heute nicht erholt. Schuld gab man der Dotcom-Blase, dabei hatte der Absturz wenig damit zu tun, ob die digitalen Technologien hielten, was sie versprachen, oder eben nicht. Er markierte vielmehr einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel: Was für die Menschen zählte, war nicht mehr der erwartete, sondern der aktuelle Wert einer Anlage. Die Perspektive eines Investments, auf die sich seine Gewinnaussichten gründeten, seine »Story«, verlor gegenüber der Jetztzeit an Bedeutung: Wie stehen meine Aktien im Moment? Wie viel Geld besitze ich tatsächlich? Was ist mein Portfolio jetzt wert?
Die bis dahin erfolgreich erzählte Geschichte vom unbegrenzten Wachstum der Aktienmärkte war nur eine von vielen in einer auf die Zukunft fixierten Gesellschaft. Alle großen »Ismen« des 20. Jahrhunderts – ob Kapitalismus, Kommunismus, Protestantismus, Republikanismus, Utopianismus oder Messianismus – beruhen auf einer großen, sinnstiftenden Erzählung. Nicht das, was sie in der Gegenwart leisten, macht sie aus, sondern das, was sie für die Zukunft versprechen. (Oder zumindest bieten sie im Heute etwas Besseres als die Schmerzen und Entbehrungen der Vergangenheit.) Der Zweck heiligt die Mittel. Der Krieg von heute ist die Freiheit von morgen. Das gegenwärtige Leid dient der zukünftigen Erlösung. Die Arbeit von heute wird morgen belohnt.
Eine Zeit lang funktionierten diese Geschichten wunderbar – besonders in den USA, wo Optimismus ein Grundbestandteil des Nationalcharakters zu sein schien. Immerhin ließ die Vision von einer besseren Zukunft einst Menschen ihr Leben riskieren für den Versuch, den Ozean zu überqueren und die Wildnis des amerikanischen Kontinents bewohnbar zu machen. Die neue Welt war aus ihrer Sicht ein unbeschriebenes Blatt, mit weiten Horizonten und scheinbar unendlichen Ressourcen, die erobert und mit einer eigenen Geschichte gefüllt werden wollten. Auch darum fiel in Nordamerika die protestantische Arbeitsethik, für die alles Streben einer besseren Zukunft zu gelten hatte, auf besonders fruchtbaren Boden. Und während sich die Europäer der Bewahrung ihrer Kultur widmeten, begriffen sich die Amerikaner als ein Volk, das sich einer gemeinsamen Herausforderung stellte, mit eigens dafür erschaffenen Mythen, die dazu beitragen sollten. Genau wie die Mormonen die Geschichte des Alten Testaments in die amerikanische Gegenwart hinein fortsetzten, sollten technologische Neuerungen vom Space Shuttle bis zum Computerchip Amerikas Manifest Destiny, seine »offensichtliche Bestimmung«, in die Zukunft überführen. Der amerikanische Traum war in all seinen Varianten an die gleiche narrative Struktur geknüpft. Ob ökonomisch, politisch oder spirituell: Wir stützten uns immer auf Geschichten.
In ihrer Gesamtheit gaben sie unserem Leben, unserer Nation, unserer Kultur und unserem Glauben eine erzählerische Ordnung. Die Art und Weise, in der wir unsere Erfahrungen strukturierten und über die Welt sprachen, war im Wesentlichen narrativ. So gesehen ist Amerika nicht nur ein Ort, an dem wir leben, sondern die Reise eines Volks durch die Zeit. Apple ist nicht nur ein Handyhersteller, sondern zwei Kerle in einer Garage, die ihren Traum von einer kreativeren Technologie verwirklicht haben; Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern die Kraft, die die Menschheit befreien wird; Umweltverschmutzung nicht nur ein notorisches Problem der Industrie, sondern der drohende katastrophische Höhepunkt unserer Zivilisation.
Das Geschichtenerzählen wurde zum kulturellen Wert an sich. Vor Millionen hingerissenen Fernsehzuschauern erklärte der Mythenforscher Joseph Campbell dem Journalisten Bill Moyers in einer sechsteiligen Interviewreihe, wie Geschichten die Grundstruktur unserer Zivilisation bildeten. Joseph Campbell and The Power of Myth wiederum hat zahllose Regisseure, Werber und Management-Theoretiker dazu inspiriert, dem Geschichtenerzählen eine zentrale Rolle in ihren eigenen Entwürfen zuzuweisen. Sogar die Hirnforschung erkannte in der Narrativität eine wesentliche Komponente des Denkens. »Narrative Vorstellungen – Geschichten – sind ein fundamentales Werkzeug unseres Denkens, von dem unsere Fähigkeit zur rationalen Einsicht abhängt. Sie sind unser wichtigstes Instrument, um in die Zukunft sehen, Dinge vorhersagen, planen und erklären zu können«, schrieb Mark Turner von der Case Western Reserve University in Cleveland.1 Oder in den Worten der Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin: »Die Geschichte – von Rumpelstilzchen bis Krieg und Frieden – ist ein grundlegendes Werkzeug des menschlichen Geistes, mit dem er die Welt erfasst. Es hat komplexe Gesellschaften gegeben, in denen das Rad keine Rolle gespielt hat, aber eine Gesellschaft ohne Geschichten gab es nie.«2
Wenn wir die Welt als Geschichte erfahren, entwickeln wir ein Gefühl für den Kontext. Das beruhigt und gibt uns Orientierung. Hürden und Hindernisse werden zu kleinen Unebenheiten auf dem Weg zu einem besseren Ort oder zumindest zum Ziel der Reise. Solange der Schwung, der Vorwärtsdrall, die dramatische Spannung groß genug ist, werden wir den Unglauben aussetzen, um der Geschichte zu folgen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts waren der Schwung, der Drall und die Spannung enorm. Vielleicht zu groß. Noch wenige Jahrzehnte davor, im idyllischen Jahr 1965, gewann Mary Poppins fünf Oscars, gaben die Grateful Dead ihr erstes Konzert, wurde die erste Staffel von Bezaubernde Jeannie auf NBC ausgestrahlt. Aber es war auch das Jahr, in dem der erste Mensch ins All geschossen, der Hypertext erfunden, das erste Beatmungsgerät erfolgreich eingesetzt wurde. Diese und andere Ereignisse und Erfindungen waren so vielversprechend, dass sie Alvin Toffler dazu bewegten, seinen grundlegenden Essay »The Future as a Way of Life« zu schreiben, in dem er den Begriff »Zukunftsschock« prägte.
Wir sollten uns auf vulkanische Erschütterungen gefasst machen und überraschende Richtungswechsel und Umbrüche, nicht nur in unserer Sozialstruktur, sondern auch in der Wertehierarchie und der Art und Weise, wie die Individuen die Realität wahrnehmen und begreifen. Die gewaltigen Veränderungen, die mit steigender Geschwindigkeit über uns hereinbrechen, werden die Menschen desorientieren, verwirren und einige unter sich begraben. […] Selbst die gebildetsten Leute gehen heute davon aus, dass die Gesellschaft verhältnismäßig statisch ist. Bestenfalls extrapolieren sie bestehende Trends. Die Folge ist eine totale Unfähigkeit, sich der Zukunft zu stellen, wenn sie eintritt. Kurz: ein Zukunftsschock.3
Toffler glaubte, die Dinge würden sich so schnell verändern, dass wir nicht mehr in der Lage wären, uns daran anzupassen. Neue Medikamente würden unsere Lebensspanne verlängern; medizinische Techniken würden uns ermöglichen, unseren Körper und unsere genetische Ausstattung nach Belieben zu verändern und neue Technologien die körperliche Arbeit obsolet machen sowie Echtzeitkommunikation über gewaltige Entfernungen ermöglichen. So wie die Einwanderer in ein fremdes Land ein Kulturschock erwartet, würde uns die sich rasend schnell bis zur Unkenntlichkeit verändernde Welt einen Zukunftsschock verpassen. Unsere Desorientierung wäre dabei nicht die Folge einer bestimmten Veränderung, sondern der Geschwindigkeit, mit der sich die Veränderung vollzieht. Toffler machte einen praktischen Vorschlag: Wir sollten alle Zukunftsforscher werden. Warum die Kinder in der Schule nicht mehr Science-Fiction lesen und Grundkurse in Prognostik besuchen lassen? Das Fehlen grundlegender prognostischer Fähigkeiten käme in der zeitgenössischen Welt schließlich einer Art funktionalem Analphabetismus gleich.4
Und so ähnlich geschah es auch. Zwar wurde Zukunftsforschung kein Schulfach, aber dafür erteilten uns die Populärkultur und die Geschäftswelt einige schmerzhafte Lektionen. Wir wurden Trendforscher und Hobbyfuturologen, die versuchten, das nächste große Ding auszumachen. Und das übernächste. Dann kamen wir tatsächlich an. Im Jetzt. Im Hier. In der Zukunft. Und als damit alle unsere Geschichten auseinanderfielen, stellten sich die ersten Symptome des Gegenwartsschocks ein.
Der Kollaps des Erzählens
Toffler hatte verstanden, dass die Kenntnis der Geschichte uns half, die Gegenwart in Perspektive zu setzen. Wir begreifen, wo wir uns befinden, weil wir wissen, wo wir herkommen. Was die Zukunft anging, so führte diese Fähigkeit zur narrativen Selbstverortung allerdings zu Problemen: Die neuen Erfindungen und Phänomene passten einfach nicht in die Geschichten, mit denen wir uns selbst unseren Platz in der Welt zuweisen wollten. Was geschieht mit unserer traditionellen Lebensplanung – vierzig Jahre arbeiten und mit 65 in Rente – in einer Zeit, in der die Lebenserwartung rasant gestiegen ist? Wie verändern Fruchtbarkeitsmedikamente die Familienplanung, die E-Mail unsere Wahrnehmung der Arbeitswoche und wie Roboter das Verhältnis von Arbeitern und Management? Oder, mit Blick auf den Nahen Osten: Wie verändern soziale Netzwerke die Ziele einer Revolution?
Kommende Veränderungen wären weniger traumatisierend für uns, wenn wir besser darin würden, verschiedene Szenarien zu entwickeln, zukünftige Realitäten vorherzusehen und neue Trends vorauszuahnen, meinte Toffler. Es würde uns nicht aus der nächsten Kurve tragen, wenn wir sie schon sehen würden und davon erzählen könnten.
Aber auch wenn Star Trek die Erfindung von Handy und iPad vorweggenommen hat, sind dem Versuch, mittels Science-Fiction-Geschichten eine Vorstellung von der Zukunft zu entwickeln, enge Grenzen gesetzt. Erstens bewegt sich die Realität manchmal schneller als die Fiktion. Während Geschichten bestimmten Plotkonventionen folgen müssen, um für ihre Zuschauer, Zuhörer oder Leser Sinn zu ergeben, ist die Realität oft chaotisch. Die Dinge passieren einfach, auch wenn man gerade nicht mit ihnen rechnet. Zweitens können Geschichten die Zukunft nicht nur voraussagen, sondern sie auch verändern. Sie haben sich als großartiges Medium erwiesen, um Informationen und Werte für die kommenden Generationen zu speichern. Wir erzählen unseren Kindern vor dem Zubettgehen eine Gutenachtgeschichte, in die wir Werte einflechten, die sie sie mit in ihre Träume (und ihr erwachsenes Leben) nehmen sollen. Unsere religiösen Mythen und unsere Nationalgeschichtsschreibung funktionieren ähnlich: Sie bewahren und vermitteln bestimmte Wertvorstellungen – das ist ein Grund, warum Zivilisationen über Jahrhunderte fortbestehen konnten.
Die hohe Kunst der Zukunftsforschung ist niemals wertneutral, egal, wie gewissenhaft sie betrieben wird. Als im Januar 1993 die erste Nummer von Wired erschien, war denen, die das Internet schon kannten, gleich klar, worauf diese Zeitschrift es anlegte: Sie wollte die Werte des Netzes mit denen des freien Marktes identifizieren. Die zahlreichen Zukunfts- und Trendforscher, die in den 1990ern unterwegs waren, sagten mit schöner Regelmäßigkeit eine Zukunft voraus, in der sie selbst die wichtigste Rolle spielten. Und die Geschichten, die sie den Konzernen zurechtschneiderten, erzählten immer auch vom Fortbestand der Unternehmensmacht. Im Grunde beschäftigten sie sich nicht mit der Zukunft, sondern pinselten jenen den Bauch, die eine überkommene Vergangenheit bewahren wollten.
All das Zukunftsgerede trug wenig dazu bei, uns mit der Gegenwart zu versöhnen. Wir hörten dadurch vielmehr auf, die Gegenwart als sinnvoll und bedeutsam wahrzunehmen. Anstatt in ihre Innovationskraft und ihre Kernkompetenzen zu investieren, gaben die Unternehmen jede Menge Geld dafür aus, Zukunftsszenarien an die Wand zu beamen. Sie bezahlten Berater (manchmal Medientheoretiker wie mich) dafür, ihnen eine Vogelperspektive auf ihr Unternehmensumfeld zu bieten – in dem festen Glauben, dass sie immer weiter voraussehen konnten, je höher sie flogen. Eine der Technologiefirmen, mit denen ich zu tun hatte, entschied anhand von Prognosen über die Entwicklung von Währungen, an welchen Standorten sie ihre Offshore-Fabriken errichten sollte. Der Finanzvorstand eines anderen Unternehmens spekulierte mit Warentermingeschäften – ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die in seiner eigenen Firma entwickelten Technologien genau diese Waren überflüssig machen würden. Manche Unternehmen verloren aufgrund solcher Spekulationen Millionen. Manche gingen sogar bankrott.
Individuen, Unternehmen, Institutionen oder Nationen opferten also den Blick auf die Gegenwart für den in die Zukunft. Aus Geschäftsführung wurde Strategieplanung, aus dem Arbeitsleben die Lebensarbeitszeit für den Rentenanspruch und aus globaler Kooperation die Spekulation an den Börsen. Das funktionierte ganz wunderbar, solange die Kurven auf den Charts allesamt nach oben zeigten. Doch dann kam der Jahrtausendwechsel. Die Börsenkurse brachen ein, das World Trade Center fiel in sich zusammen, und unsere Geschichten kollabierten.
Die Auswirkungen des Elften September auf unser Verhältnis zur Geschichte sind nicht zu unterschätzen. Während ich an diesem Kapitel arbeitete, lernte ich eine College-Absolventin kennen, die gerade ein Mentorenprogr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. 1 | Narrativer Kollaps
  8. 2 | Digiphrenie
  9. 3 | Überspanntheit
  10. 4 | Fraktalnoia
  11. 5 | Apokalypsie
  12. Dank
  13. Literaturnachweis
  14. Auswahlbibliografie
  15. Stichwortregister
  16. Über das Buch
  17. Der Autor
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