Die Kunst des Ehebruchs
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Die Kunst des Ehebruchs

Emma, Anna, Effi und ihre Männer

  1. 304 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Die Kunst des Ehebruchs

Emma, Anna, Effi und ihre Männer

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Über dieses Buch

Überraschend neue Blicke auf drei Meisterwerke der Moderne - Wolfgang Matz bietet eine atemlose Lektüre.Liebe und Betrug sind die ewigen Themen der Literatur, von Tristan und Isolde bis Don Giovanni - mitten im 19. Jahrhundert taucht aber plötzlich im Gesellschaftsroman eine neue Variante der alten Geschichte auf: der Ehebruch in der bürgerlichen Familie. Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest - das sind die drei berühmten Frauen, die das Verbotene tun und um eines anderen Mannes willen ihre ganze Existenz riskieren: Emma, die radikale Spielerin, Anna, die leidenschaftlich Liebende, und die viel zu junge, naive Effi, die der flüchtigen Gelegenheit nicht widersteht. Wolfgang Matz folgt in seinem temperamentvoll geschriebenen Buch den Geschichten dieser ganz verschiedenen Frauen, ihrer Ehemänner und ihrer Liebhaber und erkundet, warum ihr privates Scheitern zwischen persönlichem Freiheitsdrang und gesellschaftlicher Ordnung ihre Schöpfer Gustave Flaubert, Lew Tolstoi und Theodor Fontane so fasziniert hat und wie dieses wiederum deren Schreiben bestimmt. Mit den gesellschaftlichen Befreiungen des 20. Jahrhunderts verschwindet die Gattung des Ehebruchromans zwar, aber all die katastrophal scheiternden Liebesgeschichten stehen nach wie vor im Mittelpunkt der Literatur, und deshalb nimmt Wolfgang Matz auch die heutigen Ausweitungen der Kampfzone in den Blick.

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Die ganze Kunst

Flaubert, Tolstoi, Fontane

ERSTES KAPITEL

Unter den menschlichen
Worten das schönste

Gustave Flaubert und Madame Bovary
That, my dear, is called reading.
Toni Morrison

1.

Mit schnellen, leicht fahrigen Schritten tritt ein Mann ins dunkle Zimmer, Hose, Hemd, eine etwas lächerliche Mütze auf dem Kopf, da klingt eine Stimme durch den Raum, nuschelnd, metallisch, rauchig, eine Stimme, die man nie wieder vergisst: »Anybody got a match?« So lässig wie nur möglich in die Tür gelehnt steht eine Frau, sehr jung, sehr schlank, im grauen Pepitakostüm, mit ebenso herausfordernden wie kühlen Augen. Dazwischen der Dritte, der Franzose. Für Sekunden mustern sich Mann und Frau, schweigend, aber mit einer Intensität, in der bereits der Funke springt; nur Frenchies Blicke fliegen hastig abschätzend vom einen zur andern. Dann schießt, kaum dass man die Geste sieht, eine Streichholzschachtel quer durch den Raum, so perfekt gezielt, dass die Frau sie fast reglos abfängt, nur durch eine knappe Bewegung aus dem Handgelenk. Vor ihrem Gesicht flammt das Zündholz mit einer leuchtenden Feuerwolke, in der die markanten Züge der Frau aus dem dunklen Hintergrund plötzlich ganz klar hervortreten. Die gleichen unmerklichen Bewegungen, die Streichholzschachtel schießt zurück, genauso perfekt gezielt. Dann dreht Lauren Bacall sich um, geht, und Humphrey Bogart schaut ihr hinterher. Noch einmal die rauchige Metallstimme: »Thanks.«
Nun nimmt die Geschichte der beiden ihren Lauf. Es gibt Szenen, die in ihrer Kargheit, Konzentration, Schnörkellosigkeit zum Inbegriff einer konsequenten, unbestechlichen, realistischen Bildsprache geworden sind; dazu gehört nicht nur To have and have not, sondern noch manches andere Werk jenes film noir, der in Amerika oder Frankreich mit düsterer Härte die brutale Unterwelt von Verbrechen und Gewalt gezeichnet hat, aber auch von Leidenschaften und Liebe. Wenn man sich jedoch die entscheidenden Bilder dieser Filme noch einmal ansieht, den Schluss von The Big sleep, die Eheszenen der Diaboliques, dann hat man Figuren vor sich, deren Verhalten sie – diesseits der Leinwand – wohl stracks unter psychiatrische Beobachtung bringen würde. Die meisten Figuren in Detektivfilmen benehmen sich, als gingen sie deutlich zu oft ins Kino, um Detektivfilme zu sehen. Lauren Bacall steht in der Tür, als wolle eine Unschuld vom Lande den definitiven Auftritt an Coolness und Verruchtheit hinlegen, und der ebenso kurze wie symbolgeladene Dialog mit der Schachtelvoll Phallussymbole, durch die Luft fliegend wie einstudiert für den Zirkus, würde im realen Leben nur Spott provozieren. Natürlich, die ungeheure Präsenz von Bacall und Bogart und die erotische Spannung zwischen den zwei Jungverliebten nimmt der Filmszene alles Lächerliche. Aber viel interessanter ist eine ganz andere Frage: Warum verstehen wir bestimmte künstlerische Darstellungen als Inbegriff der Realistik, obwohl sie es schlechterdings nicht sind? Warum empfinden wir die künstlerische Darstellung bestimmter Personen als die Darstellung des Lebens selbst, obwohl das gezeigte Verhalten bei lebendigen Menschen nur grotesk wäre? Warum also ist der Begriff des Realistischen, der Wirklichkeitsnähe in der Kunst, sei’s Film, Gemälde oder Literatur, offenbar so losgelöst von dem, was der Betrachter oder Leser sonst in seinem alltäglichen Leben erfährt? Was ist anders in der Wahrheit der Kunst und der des Lebens?
Emmas und Charles’ Geschichte hatte, wir erinnern uns, auch ihre Initialzündung: »›Suchen Sie etwas?‹ fragte sie. | ›Meine Reitpeitsche, bitte‹, antwortete er. | Und er begann überall zu stöbern, auf dem Bett, hinter den Türen, unter den Stühlen; sie war auf den Boden gefallen, zwischen Säcke und Mauer. Mademoiselle Emma hatte sie entdeckt; sie beugte sich über die Getreidesäcke. Charles wollte höflich sein, stürzte herbei, und als er in gleicher Absicht ebenfalls den Arm ausstreckte, spürte er, wie seine Brust den Rücken des jungen Mädchens streifte, das sich unter ihm bückte. Mit rotem Kopf richtete sie sich auf und blickte über die Schulter, in der Hand seinen Ochsenziemer.« Was ist das, dieser Zusammenschnitt von Emmas einladendem Hinterteil, ihrem Bett und Charles’ Peitsche, die beim Gang zu Frauen ja ohnehin unverzichtbar sein soll? Slapstick oder Realismus? Wer hat die Szene so gewollt: Die Wirklichkeit oder der arrangierende Autor? Der so offenkundig schwersterotische Oberton des Ganzen ist schon immer verstanden worden: Das Spiel mit den Rindviechern, französisch bœuf, bereits im Namen Bovary; Charles, der sich über Emmas Rückseite hermacht wie der Stier über die Kuh. Der Ochsenziemer heißt auf Französisch wiederum nerf de bœuf, und die einschlägigen Wörterbücher belehren einen über den jahrhundertelang verbreiteten Volksglauben, dieser Ochsenziemer werde aus nichts geringerem hergestellt als aus dem getrockneten Geschlechtsteil dieses bœuf.
Bei genauer Lektüre entfaltet Flauberts einfache Szene ein äußerst komplexes Gefüge von anzüglichen Doppeldeutigkeiten. Auf der Ebene des Realen erzählt sie zunächst von der Begegnung zwischen einem jungen, aber schon verheirateten Mann und einem jungen Mädchen, und der Leser spürt gespannt, wie hier sofort der Funke überspringt. Auf der zweiten Ebene enthält das Arrangement eine Komik, die gerade durch die übertreibende Drastik des Duos – der Mann über dem Hintern der Frau, die errötende Frau mit der Peitsche in der Hand – etwas ganz anderes wird als etwa eine psychologische Analyse der erotischen Attraktion. Und drittens ist darunter noch die rein sprachlichen Ebene: Durch ihr zusätzliches Bedeutungsnetz wird einerseits die Komik noch verstärkt, andererseits allwissend auf etwas vorausverwiesen, was in diesem Moment der Handlung noch niemand wissen kann, und zuletzt wird beim Leser ein wiedererkennendes, bösartiges Vergnügen ausgelöst, welches sich allein auf diese sprachlichen Schlüpfrigkeiten bezieht. Hält man sich all das vor Augen, so steckt in der Szene ein so erhebliches Maß an Übertreibung, an Komik, an Karikatur, dass man sie – aller erzählerischen Selbstverständlichkeit zum Trotz – auf gar keinen Fall einfach als real hinnehmen kann: angefangen mit Charles, der im Bett des Mädchens stöbert und sich aus Höflichkeit auf ihren Hintern stürzt, bis hin zu der weiß Gott mit gutem Grund errötenden Emma, die ihm das getrocknete Gemächt seines Namenspatrons vor Augen hält.
Flauberts Roman lebt von einer ungeheuren Suggestion: Der Leser wird so dicht herangeführt an Schauplätze, Handlung und Figuren, dass er glaubt, er sei selbst dabei gewesen. Flauberts so neue, unerhörte Konzentration und Schnörkellosigkeit machten seinen Roman zum Inbegriff einer konsequenten, unbestechlichen, realistischen Erzählsprache, die so ungeschminkt vom Leben und Sterben einer Ehebrecherin berichtet, dass die Zeitgenossen hier nicht mehr ein Buch vor sich zu sehen glaubten, sondern die Wirklichkeit selber. Um diese Suggestion zu begreifen, braucht es einen Blick auf die Wirklichkeit des Romans, wie sie dasteht gegenüber der wirklichen Welt außerhalb. Das ist die Geschichte, die Gustave Flaubert erzählt: Der Schüler Charles Bovary ist so beschränkt, dass er seinen eigenen Namen nicht richtig aussprechen kann. Trotzdem schafft er, mit energischer Hilfe seiner Mutter, das Baccalaureat und wird Arzt. Wiederum auf Initiative seiner Mutter heiratet er eine alte, ausgetrocknete Witwe, die für reich gilt, es aber nicht ist. Nach ihrem Tod heiratet er noch einmal, nämlich Emma, die schöne, junge Tochter eines wohlhabenden Bauern. Verdorben durch die frommen Schwestern des Internats und ausschweifende Lektüren, träumt sie den romantischen Traum von Leidenschaft und Fernweh und langweilt sich zu Tode mit den beschränkten Provinzlern und vor allem mit ihrem lächerlichen Charles, wirft sich nacheinander zwei Männern in die Arme, lässt sich von dem diabolischen Händler Lheureux zum Schuldenmachen verführen und vernichtet zum Ende sich und die ganze Familie in einem großen Autodafé. Das Personal ist von monolithischer Einheit, ja von geradezu kongenialer Lächerlichkeit und Dummheit.
Doch ist die Grundidee von Emmas Krankheit überhaupt glaubhaft in dieser Konsequenz: Eine junge Frau verliert durch Romanlektüre so restlos Sinn und Verstand, dass sie in der normannischen Provinz tatsächlich südlich-romantische Gestade erträumt? Wie nur kann Emma, diese attraktive junge Frau, einen solchen Trottel heiraten? Wie ausgerechnet diese beiden mickrigen Helden zu Liebhabern wählen? Und andererseits, kann ein Ehemann wirklich so dumm sein wie Charles, der nichts, aber auch gar nichts bemerkt von dem, was vor seinen Augen geschieht, der es sogar immer wieder in bizarrer Weise fördert? Nicht nur ermuntert er Emma ausdrücklich zum Ausritt mit Rodolphe, er garantiert diesem auch noch schriftlich, »seine Frau stehe ihm zur Verfügung«, wie Flaubert mit brutalem Sarkasmus vermerkt; und die Liste der grotesken Kurzschlüsse zieht sich hin, bis Charles dem Schuldigen, also Rodolphe, beim letzten Bier noch einmal treuherzig versichert: »Schuld ist das Schicksal!« Umgeben ist dieses seltsame Quartett von einer Dorfbevölkerung, die zu ihm passt wie die Faust aufs Auge: der redesüchtige Apotheker Homais, Karikatur des liberalen, fortschrittsgläubigen Kleinbürgers unter Louis-Philippe, der selbstzufriedene Pfarrer Bournisien, der blind ist und taub für Emmas Seelenqual, der widrige Schacherer Lheureux, der zum Zwecke der Bereicherung unter werbewirksamem Gesäusel über Leichen geht wie nur irgendein Investmentbanker.
Sainte-Beuve, der maßgebliche Kritiker der Epoche, hat in seiner berühmten Rezension gerade das dem Roman vorgeworfen: »Warum gibt es nicht eine einzige Figur, die geeignet wäre, den Leser durch ein gutes Schauspiel zu trösten, sich erholen zu lassen, warum findet er dort nicht einen einzigen Freund?« Sainte-Beuve aber verfehlte das Buch, indem er aus einer Beobachtung einen Vorwurf machte, und noch dazu einen der Moral. Viel interessanter nämlich ist es, nach den Gründen zu suchen, die Flaubert zu einer solchen Konstellation gebracht haben. Es kann dem Schriftsteller ja kaum entgangen sein, dass die Einstimmung aller Figuren auf die eine Tonart der »bêtise«, der allumfassenden Dummheit, die Gutgläubigkeit des Lesers auf eine heikle Probe stellt und das Universum des Romans an die Grenze führt zu einer riskanten tautologischen Geschlossenheit. In der Tat genügt es ja, Personal und Schauplatz der Madame Bovary zu vergleichen mit denen der Anna Karenina, und man läuft sofort Gefahr, in einem Anflug von schlechtgelaunter Enttäuschung das Gemälde Flauberts als dürftig zu empfinden und den Roman über die Blödheit irgendwie selber als blödes Buch. Gegenüber jener unendlichen Vielfalt der Charaktere Tolstois, seiner psychologischen Tiefe, ist Flauberts Bild von den »Sitten in der Provinz« auf einer menschlichen Ebene ganz sicher eindimensional; was ihm offenkundig fehlt, ist die weite, nicht auszuschöpfende Welthaltigkeit von Tolstois Werk und dessen nie nachlassender Wille, dem Leben, Denken und Fühlen seiner Gestalten auf allen ihren verschlungenen Wegen zu folgen. Dagegen ist Flaubert obsessiv monothematisch: Der Ton, der mit dem »ridiculus sum« der ersten Szene angeschlagen wird, bestimmt das Buch bis zum Schlussakkord.
Diese Feststellung könnte als literarisches Urteil gelesen werden, und dann wäre es negativ. Allein, ist es vorstellbar, dass ein Schriftsteller wie Flaubert eine solche Entscheidung ohne genaue Überlegung und Absicht fällt? Und muss nicht die Substanz des Buches anderswo liegen, wenn man sie an dieser Stelle nicht auffinden kann? Der Begriff der »Welthaltigkeit« kann das Stichwort geben. Welthaltigkeit bezieht sich notwendig auf die Welt, wie sie ist, verlangt also eine literarische Darstellung, die so realitätsnah ist wie nur möglich. Die Szene von Charles und Emma mit der Peitsche hat es deutlich gezeigt: Flauberts Erzählweise steht offenbar in einer beständigen Spannung, nämlich zwischen der genau austarierten Sprache, welche durch Zuspitzung, Verschärfung und eine bewusst bösartige Vorbestimmung von Charakteren und Szenen eine eigene künstliche Wirklichkeit schafft, und jener Suggestion, die glauben machen will an die unmittelbare Realität des Erzählten. Ob Figuren wie der dumme Charles oder die radikalerotische Emma als lebendige Menschen tatsächlich denkbar wären, mag man sich außerhalb des Romans zuweilen fragen; die Wette des Romanciers ist dann gewonnen, wenn man trotz dieses Zweifels innerhalb des Romans in jedem Augenblick von der Wirklichkeit dieser unvergesslichen Figuren bis ins Tiefste überzeugt bleibt. Erfolg und dauerhafter Weltruhm der Madame Bovary beweisen Flauberts Sieg; warum jedoch diese Realität glaubhaft ist, das kann nur der Roman selbst erklären.

2.

Der Urknall der Madame Bovary ist berühmt, seit Maxime Du Camp ihn in seinen Souvenirs littéraires erzählt hat. Flaubert, der bereits seit Kindertagen schrieb, hatte mit der Versuchung des heiligen Antonius zum ersten Mal ein Werk geschaffen, das ihn selber mehr oder weniger überzeugte. Nun, im September 1849, bestimmte er seine Freunde Maxime Du Camp und Louis Bouilhet zu Richtern über das umfangreiche Opus. Die Spielregel war klar: Flaubert würde das komplette Manuskript seinen zum Schweigen verpflichteten Zuhörern vorlesen, vier Tage lang, insgesamt zweiunddreißig Stunden, jeweils von Mittag bis vier und von acht Uhr bis Mitternacht. »Wir waren übereingekommen, mit unserer Meinung zurückzuhalten und sie erst auszusprechen, wenn wir das ganze Werk gehört hätten«, beschreibt Du Camp die Prozedur: »Nach der letzten Lesung, gegen Mitternacht, schlug Flaubert mit der Faust auf den Tisch und sagte: ›Jetzt zu uns dreien, sagt mir offen, was ihr davon haltet.‹ Bouilhet war schüchtern, doch niemand konnte seine Gedanken entschiedener ausdrücken als er, wenn er nur einmal beschlossen hatte, sie mitzuteilen: ›Wir denken, du solltest das ins Feuer werfen und nie wieder davon reden.‹ Flaubert sprang auf und stieß einen Entsetzensschrei aus.« Wozu gibt es Öfen und Kamine, doch diese Frage wollte der entsetzte Autor nicht hören, hatte er doch Jahre an seinem Werk gearbeitet. »Flaubert sträubte sich; er las einige Passagen noch einmal vor und sagte: ›Aber es ist schön!‹ Wir antworteten: ›Ja, schön ist es, das bestreiten wir nicht, aber es ist eine innere Schönheit, die außerhalb des Buches zu gar nichts taugt. Ein Buch ist ein Ganzes, bei dem jeder Teil der Gesamtheit dient, und nicht eine Zusammenstellung von Sätzen, die, wie gut auch immer sie gemacht sind, nur einzeln für sich einen Wert haben.‹ Flaubert rief aus: ›Aber der Stil?‹ Wir antworteten: ›Stil und Rhetorik sind zwei verschiedene Dinge, die du verwechselt hast; erinnere dich an das Rezept von La Bruyère: Wenn ihr sagen wollt: Es regnet, dann sagt: Es regnet.‹« Flaubert streckte die Waffen; die Versuchung blieb für Jahre im Schreibtisch.
Das Tribunal hatte dem Urteil jedoch einen Ratschlag hinzugefügt: »›Du musst auf diese unklaren Sujets verzichten, die von sich aus schon so verschwommen sind, dass du sie nicht überschauen, sie nicht bündeln kannst; du hast einen unüberwindlichen Hang zum Lyrismus, also musst du ein Sujet wählen, bei dem Lyrismus so lächerlich wäre, dass du gezwungen bist, auf dich aufzupassen und auf ihn zu verzichten. Nimm ein bodenständiges Sujet, eine dieser Geschichten, von denen das bürgerliche Leben so voll ist, irgendwas wie Cousine Bette oder Cousin Pons von Balzac, und zwinge dich, es in einem natürlichen, fast gewöhnlichen Ton zu behandeln, und lass diese Abschweifungen, diese Redereien, die zwar für sich genommen schön sind, aber nur nutzlose Vorspeisen für die Entwicklung deiner Idee und ärgerlich für den Leser.‹« Dann war es soweit: »Plötzlich sagte Bouilhet: ›Warum schreibst du nicht die Delaunay-Geschichte?‹ Flaubert hob den Kopf und rief freudig aus: ›Was für eine Idee!‹« Die Affäre der Landarztgattin Madame Delphine Delamare – die Du Camps spätere Diskretion mit Pseudonym versah – war in aller Munde und auch Flaubert bekannt. Der Weg zu Madame Bovary war frei.
Die Anekdote, wie sie Du Camp Jahrzehnte nach der fatalen Lesung berichtete, ist grosso modo glaubwürdig, doch die Schlussfolgerungen, die man aus ihr gezogen hat, sind deutlich zu simpel gestrickt. Der literarische Sinn der Sache wäre der Legende nach folgender: Der junge Flaubert habe sich, auch generationsbedingt, in ausschweifenden, romantisierenden, symbolbefrachteten und schönheitstrunkenen Stilorgien verlaufen, und erst der alltägliche, bodenständige und realitätsnahe Bericht vom Ehebruch in der Provinz habe ihm – gleichsam ein reinigendes Bad in der Seine – von all diesen Lastern befreit und zum Begründer des realistischen Romans gemacht. Wie immer besitzt die Legende einen Teil Wahrheit, größer jedoch ist jener andere Teil, der noch eine weitere Geschichte enthält. Flaubert hat bekanntlich vor Madame Bovary ein umfangreiches, von ihm nie veröffentlichtes Jugendwerk geschaffen, unter dem sich zahlreiche Erzählungen, aber auch bereits drei abgeschlossene Romane befanden: die Mémoires d’un fou (1838), Novembre (1842) und die erste Éducation sentimentale (1845). In einem berühmten Brief an seine Geliebte Louise Colet wird er am 16. Januar 1852 im Rückblick seine frühen Schreibversuche analysieren: »Es gibt, literarisch gesprochen, zwei deutlich unterschiedene Burschen in mir: der eine ist begeistert von Brüllerei [gueulades], von Lyrismus, von hohen Adlerflügen, von allen Wohlklängen des Satzes und den Gipfeln des Gedankens; der andere wühlt und gräbt, so tief er kann, in das Wahre und liebt es, das kleine Faktum ebenso kräftig herauszuarbeiten wie das große, er möchte die Dinge, die er reproduziert, fast materiell spüren lassen; dieser liebt das Lachen und gefällt sich im Animalischen des Menschen. Die Éducation sentimentale war, ohne mein Wissen, ein Versuch, die beiden Tendenzen meines Geistes zu verschmelzen (es wäre leichter gewesen, in einem Buch das Menschliche zu gestalten und in einem anderen den Lyrismus). Ich bin gescheitert.«
Der Ehebruch wird in zahlreichen frühen Erzählungen zum Thema, doch ist es vor allem eine, die großes Interesse verdient in Hinblick auf Madame Bovary, mit der sie eine verblüffende Verwandtschaft hat. Den realen Kriminalfall für Passion et vertu fand Flaubert in der Gazette des tribunaux vom 4. Oktober 1837, der Gerichtszeitung, in der bereits Stendhal den von Rot und Schwarz entdeckt hatte. Mazza, junge Frau aus guter Familie, beginnt gleich nach der Hochzeit eine außereheliche Affäre. Der Liebhaber Ernest, ein schwacher und zunächst geschmeichelter Mann, flieht vor den leidenschaftlichen Ansprüchen Mazzas nach Brasilien. Die Verlassene aber, in der Hoffnung, ihm folgen zu können, tötet Mann und Kinder und zum definitiven Ende, als sie erfährt, dass Ernest längst eine andere geheiratet hat, sich selbst. Die Ehebrecherin stirbt am Gift, wie zwanzig Jahre später die ungleich berühmtere Emma. Ob Flaubert sich beim Schreiben seines Romans an die Jugenderzählung erinnert hat, wird man nie wissen, doch dass er die gleiche Grundkonstellation noch ein zweites Mal gestaltete, ist sprechend genug. Sieht man ab von anekdotischen Details, so ähnelt die Beziehung von Mazza und Ernest in den charakterlichen Voraussetzungen fast vollkommen der zwischen Emma und Léon. Emma jedoch wird noch deutlich konsequenter sein als Mazza, denn sie wird niemals davon träumen, den abgelegten Ehemann einfach einzutauschen gegen einen neuen. Fünf Jahre später, 1842, erscheint dann in Novembre zum ersten Mal bei Flaubert jene Bovary-Idee, dass einer sich an romantischen Romanen, an rhetorischen Klischees von der Liebe nicht nur berauschen kann, sondern schlechterdings vergiften. Die Heldin Marie konsumiert populäre Romane en masse, und Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virgini...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. VORSPIEL: Reich mir die Hand, mein Leben!. Leben, Liebe, Kunst
  7. ERSTER TEIL: Die halbe Wahrheit. Männer, Frauen, Männer
  8. ZWEITER TEIL: Die ganze Kunst. Flaubert, Tolstoi, Fontane
  9. DRITTER TEIL: Die letzten Mohikaner. Frauen, Männer, Frauen
  10. CODA: Die Entdeckung Amerikas. Leben, Liebe, Kunst
  11. Anhang