DIE SCHWEBENDE PHASE
Zurück in Augsburg, konsultierten wir mit unserer Cityfarm-Idee erst einmal Freunde und Verwandte. Die einen erklärten uns schlicht und einfach für verrückt, die anderen meinten: »Unter Vorbehalt könnte es funktionieren.«
Zunächst stand aber in Ildis Heimat die Apfelernte an. Selbst nach einigen idyllischen Tagen im Grünen und etwa einer Tonne gepflückter Äpfel waren der ungefähre Umfang unserer Farm sowie eventuelle Tierhaltung nicht im Mindesten ausdiskutiert. Erst der Besuch bei Onkel Fritz, einem leidenschaftlichem Imker und Kleintierzüchter, überzeugte mich vollends von Russenkaninchen sowie von der Europäischen Honigbiene, Apis mellifera.
Nur ein Grundstück musste her!
Zu unserem neuen Leben trugen nicht nur das mit Apfelkisten vollgestopfte Auto, das uns nach einem Besuch in der Thierhaupter Mosterei leckersten Apfelsaft bescherte, sondern auch meine erste Cityfarm-Lektion in Realitätsbewusstsein maßgeblich bei: Warum kaufen, wenn selbst gemacht so viel besser schmeckt?
Für mich war das das schlagende Argument: Der hochqualitative Saft ist auch noch überwältigend günstiger als jeder gekaufte. Nicht umsonst lautete mein Spitzname für geschlagene zehn Jahre »Bertel«, abgeleitet vom Geizhals Dagobert Duck.
Von nun an bemühten wir uns um ein Stück Land, auf dem wir unseren Traum verwirklichen konnten. Ich will die Tatsache nicht verschweigen, dass in einer Industrieregion wie Augsburg ohne einen müden Kreuzer in der Tasche kaum etwas Brauchbares zu finden war. Verseuchte Flächen, allerorts Blei, Kadmium oder Schlimmeres in der Humusschicht. Bauvorhaben, die innerhalb weniger Jahre unsere mühsam von Hand verrichtete Arbeit mit Baggern niedergewalzt hätten. Einer verlangte für eine heruntergekommene Gärtnerei, in der sich zu der Zeit auch noch ein Sadomaso-Klub befand, einhunderttausend Euro Kaufpreis. Das war ein gruseliger Anblick, sag ich euch. Haltet mich ruhig für einen Spießer. Folterinstrumente, Liebesschaukeln, Bullenjoch und Lederensembles so weit das Auge reichte. Glücklicherweise aber ohne deren Nutzer, ich hätte sonst, samt Hund und Frau, schreiend Reißaus genommen.
So verlegten wir uns mangels Grundstück auf das traditionelle Jagen und Sammeln.
Diverse Landschafts-, Wasser- und Naturschutzgebiete bieten uns Augsburgern naturnahe Entspannung und eine reichliche Fülle an wilden Früchten und Kräutern, aus denen sich leckere Teemischungen herstellen lassen. Unser deutscher Haustee aus einer Mischung aus Johannisbeerblättern sowie ein Frauenleidentee aus Himbeerblättern, Holunderblüten, Frauenmantel und Lamium fanden reißenden Absatz bei unseren Freunden und Bekannten. Während einem dieser Jagdausflüge lernte ich einen liebenswerten und auch ziemlich komischen Kauz in der Wolfzahnau kennen, den Bibermann. Er hauste in einem aufgelassenen Weltkriegsbunker am Rande der Stadt. Er, vom Geruch her eher gewöhnungsbedürftig, und ich sind Verwandte im Geiste. Er war aus der Stadt geflohen, da ihn das Tempo, der Lärm und der Gestank in den Wahnsinn getrieben hatten. Der Preis, den er für seine Flucht zu bezahlen hatte? Zahlreiche Anzeigen wegen Landstreicherei, gejagt von der Polizei, aber zu fassen bekamen sie ihn nie. Die Staatsmacht scheiterte an seinen Geländekenntnissen wie einst die Römer an den Germanen im Teutoburger Wald. Er erklärte mir seine Definition von wahrer Freiheit: So viel zu besitzen, dass es für das täglich Brot genügt, aber so wenig, dass es auf keinen Fall belastet oder etwas kostet.
Das war der Denkanstoß dafür, meinen eigenen Lebenswandel zu hinterfragen. Die geplante Anschaffung eines Autos? Gecancelt.
Unser Autoersatz, das »Human Powered Vehicle«
Der neue Plasmafernseher? Ich besaß doch eine funktionierende Röhre. Was sollte diese Rennerei nach mehr, wenn das, was ich bereits mein Eigen nannte, bereits das Doppelte von dem war, was ich wirklich benötigte? Meine Holde, die einen untrüglichen Riecher für derartige Geisteseinstellungen besitzt, schenkte mir mit ihrem Einzug in meine Ein-Zimmer-Küche-Bad-Bude eine Bibliothek von unschätzbarem Wissen. Seit Langem schon gefesselt von der Weisheitslehre Buddhas, entdeckte ich Leonardo da Vincis Wirken in Wort und Werk. Nun will ich euch, liebe Leser, eines meiner Lieblingszitate des italienischen Meisters nicht vorenthalten:
»Hütet euch, dass die Gier nach Geld in euch nicht die Liebe zur Kunst erstickt!
Denkt daran, dass das Erwerben von Ruhm etwas Größeres ist als der Ruhm des Erwerbens.
Das Andenken an die Reichen erlischt mit ihrem Tode; das Andenken an die Weisen wird nie vergehen; denn Weisheit und Wissenschaft sind rechtmäßige Kinder ihrer Eltern, nicht aber Bastarde wie Geldschätze.
Liebe den Ruhm, aber fürchte dich nicht vor Armut!
Denke daran, dass viele im Reichtum geborene große Philosophen freiwillig in Armut lebten, um ihre Seele nicht durch eitlen Tand zu beschmutzen.«1
Starke Worte für einen derart hoch verschuldeten Mann. Ich muss dazusagen, dass ich in den Jahren zuvor, geknechtet in einem Fünfzig-Stunden-Job bei dreitausendfünfhundert Euro Nettogehalt, in der Nachtschicht vegetierte. Zwar war es nur ein vorübergehender Studentenjob, er offenbarte mir jedoch die Perspektive, als Lohnsklave zu leben. Reich begütert, aber dafür arm im Geiste, abgestumpft sowohl durch Schlafmangel als auch durch zu viel Geld für Bier und Filterzigaretten, litten sowohl meine Gesundheit als auch meine Beziehung. Als ich dann auch noch an meinem Geburtstag durch einen nächtlichen Anruf in die Firma gezwungen wurde, fiel der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte. Ich benötigte dringend ein langfristiges alternatives Lebenskonzept. Insbesondere da mich zu dieser Zeit mein persönliches zu tragendes Kreuz ereilte. Bereits wegen diverser gesundheitlicher Zipperlein ausgemustert, kippte ich eines Tages nach dem Training einfach um. Diagnose: Herzmuskel- und Sinusknotenentzündung. Zu meinem großen Glück stand Ildi felsenfest hinter mir, auch wenn der Amtsarzt meinte, ich wäre aus »gesundheitlicher Sicht« nicht geeignet für den Schuldienst. Meine gesamte Lebensplanung stand kurzerhand auf dem Spiel.
Aber da waren immer noch das Pferd und die vorübergehend bei Ildi eingezogenen Igelbabys Prinzi, Luise und Fiona, um die es sich zu kümmern galt. Von diesen stacheligen Gesellen lernte ich erst, dass es Ekelhaftigkeiten wie Lungenwürmer oder Stachelpilze gibt.
Igel in Not – der freche Prinzi
Wir waren fest darauf konzentriert, eine eigene Scholle zu ergattern, und schon begannen sich im Keller und in der Wohnung in Windeseile alle möglichen Dinge anzusammeln, die man als zukünftiger Bauer gebrauchen kann. Unser Besitz wurde zunächst mehr und nicht weniger, auch der Tierische. In Ildis Zimmer zogen zwei possierliche weiße Fellknubbel ein, die hochschwangere Häsin Maja, gemeinsam mit einem nicht verwandten Rammler, der in Bälde seine Potenz beweisen sollte. Einen Winter lang lebten sie Seite an Seite mit der Diplomarbeit schreibenden Ildiko.
Seid froh, liebe Leser, dass ihr nach dieser zoologischen Zwischennutzung den Naturholzboden der Wohnung nicht in den ursprünglichen Zustand habt versetzen müssen. Karnickel-Pipi dringt wahrlich tief!
Derweil ereilte uns eine traurige Nachricht. Die von Ildis Opa versprochenen Hennen hatten das Zeitliche gesegnet. Zu ihrem Verderben führte eine kurze Spritztour durch die anliegenden konventionell bewirtschafteten Felder. Sie hatten sich heimlich an chemisch gebeiztem Saatgut ergötzt, das ihre kaum walnussgroßen Lebern unmöglich aufarbeiten konnten. Zuerst stellten sie die Eierproduktion ein, dann fielen sie reihenweise wortwörtlich von der Stange. Das war für uns ein weiterer Grund, endlich an ein Stück Land heranzukommen, bedachte man die Schwierigkeiten, sich moralisch vertretbar, gesund und auch noch für Studenten erschwinglich zu ernähren.
Da eröffnete sich auf einer Rundfahrt die Chance, auf die wir so lange gewartet hatten. Um Gino, einem unserer Pflegehunde, ein wenig Abwechslung während der täglichen Gassirunden zu bieten, nahmen wir im sogenannten Fischerholz, dem berüchtigtsten Viertel Augsburg-Oberhausens, einen anderen Weg als sonst. Abseits der ausgetretenen Lech- und Wertachpfade war meist weniger los. Wir radelten an einem Mann vorbei, der gerade die Hecke seines leicht verwilderten Grundstücks pflegte. Ildi fielen sogleich die vielen überreifen Hagebutten auf und wir erkundigten uns danach, ob diese gespritzt seien. Man weiß ja nie. Der Herr lachte uns schallend aus, und so kamen wir ins Gespräch. War das Glashaus unserer Träume mittlerweile von den vielen Absagen zerschmettert worden, ergab sich hier schon mal ein stabiles Fundament, eine sich anbahnende Freundschaft. In der folgenden Woche half ich als versierter Apfelpflücker, seine Obsternte einzufahren. Natürlich konfrontierten wir den guten Mann sofort mit unserer Cityfarm-Idee, die ihn zu überzeugen schien. Ihm fehlte die Zeit, sich um seinen Garten zu kümmern. Selbstständigkeit bedeutet nun einmal, dass man selbst und ständig arbeitet. Um ehrlich zu sein, traf mich beim Sichten unseres sich anbahnenden Gartendomizils zunächst der Schlag. Generationen hatten hier alle möglichen unbrauchbar gewordenen Dinge abgeladen. Eine Hundertschaft Paletten kann man zumindest noch als Feuerholz gebrauchen und unzählige Baustahlgitter vielleicht als Beitrag zur Altersversorgung. Ich enthalte mich jedes weiteren Kommentars, da der Großteil der Räumarbeit an mir hängen blieb.
In den ersten drei Monaten hatten wir noch keinen Zaun um das Gartengrundstück. Aber sowohl der Irish Wulf als auch der Scottish Deerhaunt, die Hunde unseres neuen Verpächters, schützten ihr Revier vortrefflich. Wobei Indira zumeist frohen Mutes schwanzwedelnd auf jeden Besucher zugetrottet kam. Das war aber weniger ein Problem, denn ganz im Gegensatz dazu biss sich der Rüde Picko einfach durch den Maschendraht, der das Grundstück begrenzte, wenn er einen Vierbeiner auf der anderen Seite entdeckte, den er nicht mochte. Trotz seiner ungestümen Art gegenüber manchen Artgenossen war Picko ein liebenswerter Kerl. Ich war der Einzige der frisch geborenen Cityfarmer, der als Teil des Rudels anerkannt war und sich wirklich frei auf dem Gelände bewegen durfte. Mich kannten die Hunde schon, denn ich war glücklicherweise bereits bei der Apfelernte helfend zur Hand gegangen.
Nur mit einem Handschlag als Versicherung, dass wir das Grundstück beziehen durften, startete das Projekt Cityfarm. Ich gebe gerne zu, dass der eine oder andere Kollateralschaden während unserer Aufräumarbeiten unumgänglich war. Fiel mir beim Ausräumen der Hütte die Mauer entgegen? Leider ja. Meine blauen Zehen sprachen Bände. Ich lernte eine weitere wichtige Cityfarm-Lektion, die meine Füße auch im Sommer käsig-weiß leuchten lassen.
Lektion Nummer zwei: TRAGE BEI DER ARBEIT IMMER SICHERHEITSSCHUHE, am besten mit Trittschutz!
Mir fielen auch diverse Stromkabel zum Opfer, während ich mit der Sense den Brombeerwald rodete. Handgelenksdicke Monsterbrombeeren, die mit ihren drei Zentimeter langen Todesstacheln überall wild wuchsen. Es begann ein Jahre dauernder Kampf gegen das nicht tot zu bekommende Gestrüpp. Von den zerstörten Spaten, Sensen, Hacken, Äxten, Astscheren und Motorsägen ganz zu schweigen.
Ja, richtig gelesen, Motorsägen. Meine Liebste schenkte mir, wie es sich für einen richtigen Cityfarmer gehört, einen auf eBay ergatterten Zweitakter samt Motorsägenschein. Nun konnte ich das Sägen genauso wenig lassen wie die Katze das Mausen. Ich war nicht in der Lage, mir zu verkneifen, das Baby ein Stündchen mit Vollgas auszufahren. Wenn man von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, ist das allerdings keine gute Idee, wie sich bald zeigen sollte.
Jungfernfahrt der Motorsäge
Der abendliche Arbeitseinsatz gemeinsam mit Jens und Flo machte zu den tanzenden Schatten im Flutlicht trotzdem einen Heidenspaß. Aber irgendwie stotterte die Motorsäge zum Schluss ganz schön. Die gnädige Diagnose des Fachmanns: »Kolbenfresser, wahrscheinlich Dreck in der Maschine.«
Heute weiß ich es besser. Die Cityfarm rieb mir eine weitere Lektion unter die Nase.
Lektion Nummer drei: Schütte niemals reines Benzin in einen Zweitakter mit Gemischtschmierung.
Wenigstens wurde das liebevoll ausgesuchte Geschenk nicht einfach weggeworfen, sondern die nutzbaren Teile schlachteten wir noch aus. Da erbarmten sich meine Eltern, jetzt, da wenigstens einer in unserer Familie sägen durfte, zu einem Shoppingausflug zum Stihl-Händler Wüst in Bobingen. Für unser bisschen Wald musste eine neue eigene Motorsäge her. Bisher hatte das Sägen ein Freund erledigt, der jetzt aber leider aus gesundheitlichen Gründen ausfiel. So kam ich endlich zu einem effektiven Werkzeug gegen Hartholz wie Hartriegel und Co.
Während dieser Zeit war zu meinem Leidwesen von meiner holden Gattin wenig zu sehen. Sie absolvierte, vergraben zwischen Tabellen und Büchern, ihren Studienabschluss. Ironischerweise gereichte mir dieser Umstand sehr zum Vorteil. Ich ...