1 Einleitung
Dieses Buch versucht eine Brücke zu schlagen zwischen klinischer Praxis und Forschung. Mit ihm ist das wichtige Anliegen verbunden, für das Gebiet der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und -psychiatrie ein aktuell gültiges Übersichtswerk vorzulegen, das verschiedene, bisher vernachlässigte, Bereiche einbezieht, kritisch bewertet und versucht, diese miteinander zu integrieren. Für jedes der behandelten Störungsbilder wurde versucht, das Spektrum von der Symptomatik und Auftretenshäufigkeit über unterschiedliche Erklärungsansätze und Modelle, Komorbiditäten, diagnostische Vorgehensweisen, Interview- und Testverfahren bis hin zu den therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten und deren Erfolgsaussichten so zu behandeln, dass praktisch tätige Therapeuten brauchbare Hinweise erhalten, die auf dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand basieren. Es soll darüber hinaus eine Brücke geschlagen werden zum Verständnis psychischer Störungen von Erwachsenen, die in aller Regel ihre Grundlagen und Entstehungsvorläufer in der Kindheit und Jugend haben. Damit wird gleichzeitig die Bedeutung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und -psychiatrie für die Psychotherapie und Psychiatrie im Allgemeinen hervorgehoben.
Ein zusätzliches Anliegen dieses Buches ist es, den Lesern ein wissenschaftsmethodologisch kritisches Werk vorzulegen, das ihnen erlaubt, die Studienlage zu den verschiedenen Störungsbildern differenzierter – und in dennoch verständlicher Weise – beurteilen zu können, als dies andere Lehrbücher üblicherweise tun. Forschung in der Psychotherapie ist – wie viele andere Gebiete auch – Einflüssen von Interessengruppen ausgesetzt, die nach Auffassung des Autors vor allem nicht dem Gegenstandsbereich der Psychotherapie gerecht werden können und deshalb auch nicht den Anliegen und Bedürfnissen von Patienten und Therapeuten entsprechen. Diese Interessen Dritter führen zu einer verzerrten Vorstellung vom komplexen Gebiet der psychotherapeutischen Veränderungsprozesse und produzieren somit kaum oder keine für die Praxis tauglichen Erkenntnisse. Die Skepsis vieler praktisch tätiger Therapeuten gegenüber einer solchen Forschung und ihren Ergebnissen lässt sich somit leicht nachvollziehen. Dieses Buch betrachtet daher die wissenschaftlich gewonnenen Ergebnisse kritisch im Hinblick auf ihre methodische wie klinische Gültigkeit und fasst die Erkenntnislage auf dieser kritischen Basis abschließend für jedes Störungsbild zusammen.
Auch ist es diesem Werk ein tiefes Anliegen, die behandelten Störungsbilder in einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu stellen und ausfürlich zu reflektieren, ob und ggf. warum psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter anscheinend in ihrer Häufigkeit zunehmen, warum »neue« Störungsbilder auftauchen und was dies mit den Entwicklungsbedingungen unseres modernen Gemeinwesens zu tun hat.
Es ist die Hoffnung des Verfassers, dass dieses Buch seinen Weg finden wird zu den klinisch tätigen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten – und Erwachsenentherapeuten – unterschiedlicher konzeptueller Orientierung, da fast alle in diesem Buch behandelten Störungsbilder ihren Ausgangspunkt in der Kindheit und Jugend haben und die erwachsene Persönlichkeit mit ihren psychischen Defiziten und aktuellen Belastungen in aller Regel erst im Lichte dieser frühen Erfahrungen und Prägungen verstanden werden kann.
Ein weiteres zentrales Anliegen des Buches ist es, die behandelten Störungsbilder schulenübergreifend zu betrachten, möglichst die aktuell verfügbaren Erkenntnisse zu berücksichtigen und die Wirkkomponenten effektiver psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlungen so weit wie möglich zu berücksichtigen.
Abschließend sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet wird. Diese gilt für alle Geschlechtsformen.
Volker Tschuschke |
Juni 2019 |
2 Ausgangspunkte psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
2.1 Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung, Traumatisierung – Risikofaktoren und Prädiktoren für vielfältige Störungen
Die frühen Lebensabschnitte sind in jeder Hinsicht prägend für die sich entwickelnde menschliche Persönlichkeit und stellen daher eine in extremem Ausmaß vulnerable Phase dar. Größere Studien weisen nach, dass es eine ganze Reihe an Risikofaktoren für die spätere Gesundheit gibt, die als Prädiktoren für eine mehr oder weniger beeinträchtigte Gesundheit – sowohl körperlich wie psychisch – abgesichert sind (Egle, 2016). Aus diesem Grunde werden in diesem Kapitel die möglichen Belastungen und Traumatisierungen ausführlich behandelt, da einzelne oder mehrere der nachfolgend aufgezählten Risikofaktoren einen mehr oder weniger schweren Einschnitt in die Kindesentwicklung darstellen und den Ausgangspunkt für praktisch alle später in diesem Buch zu behandelnden Störungsbilder bilden.
Zu den Risikofaktoren für eine Beeinträchtigung der späteren Gesundheit zählen
• »eine längere Trennung von der primären Bezugsperson im ersten Lebensjahr,
• die Geburt eines jüngeren Geschwisters in den ersten beiden Lebensjahren,
• ernste oder häufige Erkrankungen in der Kindheit,
• körperliche oder psychische Erkrankungen der Eltern,
• Geschwister mit einer Behinderung,
• chronische familiäre Disharmonie,
• Abwesenheit des Vaters,
• viele Umzüge und Schulwechsel,
• Trennung/Scheidung der Eltern,
• Wiederverheiratung und Hinzukommen eines Stiefvaters bzw. einer Stiefmutter,
• Verlust eines älteren Geschwisters oder eines engen Freundes,
• außerfamiliäre Unterbringung, z. B. Aufenthalt in einem Krankenhaus,
• Lern- oder Verhaltensstörungen« (Egle, 2016, S. 25),
• schlechte finanzielle Rahmenbedingungen,
• niedriger Bildungsgrad der Eltern,
• Alkohol- und Drogenmissbrauch eines Elternteils oder beider Eltern,
• psychische Erkrankung eines Elternteils.
Bereits diese Liste an Risikofaktoren umfasst eine größere Zahl an möglichen Störfaktoren, die alle einen nachhaltig ungünstigen Einfluss auf die weitere Entwicklung eines Kindes nehmen können. Das Zutreffen mehrerer der genannten Belastungsfaktoren führt naturgemäß zu einer weiteren Risiko-Erhöhung für eine später beeinträchtigte Gesundheit.
Hinzu treten allerdings weitere Risikofaktoren, wie sie aus zahlreichen Studien mehr oder weniger abgesichert sind, z. B. Untersuchungen zu kindlichen Gewalterfahrungen in physischer, psychischer oder sexueller Hinsicht, von denen wir wissen, dass sie – trotz verbleibender Dunkelziffer – weit verbreitet sind. Sie tauchen selbst in der großen, von der Robert-Koch-Stiftung durchgeführten KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen allein in Deutschland nicht auf (Robert Koch-Institut, 2014). Solche Erhebungen werden auf der Basis von repräsentativen Stichproben regelmäßig durchgeführt, allerdings anhand von Befragungen der Bevölkerung. Ein solches Ergebnis verwundert jedoch weniger, wenn man weiß, dass solche Studien – in aller Regel an großen repräsentativen Stichproben-Umfängen durchgeführt – im Wesentlichen aber von den Befragten mit den üblichen fehlerbehafteten Tendenzen beantwortet werden, die solchen subjektiven Beurteilungen stets zugrunde liegen: sozial erwünschte Antworttendenzen, Verleugnungen, Verdrängungen oder schlicht mangelndes Verständnis einzelner Fragen. Hinzu tritt bei diesem heiklen Themengebiet als besonders zu gewichtender Faktor die Scham, überhaupt zutreffende Auskünfte zu geben. Diese Aspekte münden – zusammengenommen – zwangsläufig in die Schlussfolgerung, dass solche Erhebungen nicht die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegeln.
Hier zeigt sich ein wesentliches Problem wissenschaftlicher Forschung, nämlich dass Erhebungen mittels Fragebögen eine erhebliche Verfälschungstendenz mit sich bringen und kaum oder gar nicht Wirklichkeiten individuellen Verhaltens oder der abgefragten Lebensumstände spiegeln; dieses Problem wird eingehender im Kapitel 4 behandelt (
Kap. 4).
Dabei gibt es objektivere Forschungen, die ein ganz anderes Bild der Gesundheit der deutschen Bevölkerung zeigen.
Eine – ebenfalls auf Befragungen basierende – repräsentative Erhebung an Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1997 weist ca. ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung als in der Kindheit mit schwerwiegenden bzw. häufigeren Formen sexueller und/oder physischer Gewalterfahrung belastet aus (Wetzels, 1997). Eine neuere Untersuchung desselben Instituts gelangt 2004 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland – allein für den sexuellen Missbrauch – 18,1% der weiblichen und 6,2% der männlichen Bevölkerung angeben, in der Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein (Bange, 2004). Bei aktuellen retrospektiven Studien gaben von 2 510 erwachsenen Teilnehmern weibliche Personen emotionale Vernachlässigung bzw. emotionalen Missbrauch, schweren physischen Missbrauch, schweren sexuellen Missbrauch sowie physische Vernachlässigung mit 28,3% an, von den männlichen Personen taten dies 20% (Witt et al., 2017). Wesentlich aussagekräftiger sind dagegen die Zahlen klinisch auffällig gewordener Patientenkinder oder Jugendlicher – und ebenfalls Erwachsener! – in psychiatrischen Einrichtungen. Sie erlauben exaktere Hochrechnungen auf die vermutliche Grundgesamtheit psychisch schwer belasteter Bevölkerungsbereiche, ihrer psychischen und psychiatrischen Auffälligkeiten, deren zahlenmäßige Entwicklungen über viele Jahre hinweg sowie auf die Ursachen der frühkindlichen schweren Belastungen und Traumatisierungen.
Die Auswirkungen auf die körperliche wie psychische Entwicklung in der Kindheit schwer belasteter Menschen können immens sein: Sie reichen von schwerster Traumatisierung und nachfolgend gestörter psychosozialer Entwicklung oder Persönlichkeitsdeformationen bis hin zu späteren somatischen Erkrankungen. Diese Zahlen korrespondieren auf plausible Art und Weise mit den Zahlen, die über das Ausmaß psychischer Störungen von Erwachsenen in Deutschland Auskunft geben: Die Verbindung zwischen schweren Belastungen und Traumatisierungen im Kindesalter und psychischer Fehlentwicklung ist evident. Auch die Assoziation zwischen den aufgezählten Belastungen und nachfolgenden schweren körperlichen Erkrankungen ist belegt, wie dies in diesem Buch im Rahmen der verschiedenen schweren psychischen Erkrankungen zu zeigen und zu diskutieren sein wird.
Die Forschung zu Gewalterfahrungen in der Kindheit weist aus, dass es wesentlich mehr Studien zu sexuellem Missbrauch und seinen Folgen als zu Untersuchungen mit physischen Misshandlungen gibt. Zu den Langzeitfolgen physischen und/oder sexuellen Missbrauchs in der Kindheit zählen Störungen, die sich erst in einer Latenz von mindestens zwei Jahren in der Adoleszenz oder erst später im Erwachsenenalter zeigen: chronische Symptome wie affektive Störungen, autodestruktives Verhalten bis hin zur Suizidalität, gestörtes Selbstwertgefühl, Substanzmissbrauch, dissoziative Störungen, somatoforme Störungen, Schlaf- und Essstörungen, Angststörungen, Depressionen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, chronifizierte posttraumatische Belastungsstörungen, sexuelle und Beziehungsstörungen, erhöhte Inanspruchnahme des medizinischen Systems (Amann & Wipplinger, 2012; Berzenski & Yates, 2011; Dorrepaal et al., 2010; Farley & Patsalides, 2001; Martsolf & Draucker, 2005; Osvath et al., 2004; Schäfer & Fisher, 2011; Sikkema et al., 2007; Spitzer et al., 2008; alle zit. n. Tschuschke, 2013). Sogar spätere Krebserkrankungen und erhöhte Sterberaten sind ausweislich schweren Stresserlebens in vulnerablen kindlichen Entwicklungsphasen mittlerweile abgesicherte Erkenntnis (Keinan-Boker et al., 2009). Alle genannten malignen Auswirkungen können als Folgen schwerer bis schwerster kindlicher Traumatisierung verstanden werden aufgrund physischer oder sexueller Missbrauchserfahrungen, die als existenziell bedrohlich erlebt wurden.
Ungeachtet möglicher später schwerer somatischer Folgeerscheinungen führen chronische Misshandlungen in der Kindheit zu massiven Störungen in der Entwicklung des Gehirns, in der Fähigkeit zur Stressregulation, zu Störungen in der Ich- und der Persönlichkeitsentwicklung und im Gefolge davon zu Störungen der Bindungsmuster und der Affektregulation (Tschuschke, 2002; Streeck-Fischer, 2004; Schmeck et al., 2009; Strauß, 2013).
2.2 Frühe Traumatisierungen
Intrafamiliäre Gewalt und defizitäre soziale Strukturen stellen eine fundamentale Verbindung dar zwischen Trauma und Entwicklung (Pynoos et al., 1996). Zu den nachgewiesen traumatisierenden Ereignissen, die mit schweren posttraumatischen Belastungsreaktionen einhergehen, zählen die Autoren
• Exposition gegenüber direkter Lebensbedrohung,
• Verletzungen inkl. das Erleben von Schmerzen,
• das Erleben von Verletzungen oder schockierendem Tod als Zeuge (speziell von Familienangehörigen oder Freunden),
• Beobachtung gewalttätiger Handlungen gegen andere,
• das Mitanhören unbeantworteter Hilferufe und Schreie aufgrund von extremer Not, das Riechen gefährlicher Dämpfe oder Düfte,
• das Gefangen- oder Eingeklemmtsein, ohne Hilfe zu erhalten,
• die Nähe zu gewalttätiger Bedrohung,
• unerwartete und andauernde Stresssituationen,
• das Erleben von Gewalt und des Gebrauchs von Waffen oder anderer schädigender Objekte,
• Zahl und Art der Bedrohungen während eines gewalttätigen Ereignisses,
• Zeuge zu sein von Gräueltaten,
• die Art der Beziehung zum Angreifer und zu den Opfern,
• das Erleben von Nötigungen,
• Verletzung der physischen Integrität des Kindes,
• das Ausmaß an erlebter Brutalität und Böswilligkeit (Pynoos et al., 1996, S. 36 f.).
Alle die genannten Ereignisse seien eng mit dem Beginn und dem Fortbestand einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) im Kindes- oder Jugendalter assoziiert (Pynoos et al., 1996, S. 336 f.). Zu vielfältig traumat...