Schriftstellerporträts
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Schriftstellerporträts

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Schriftstellerporträts

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Über dieses Buch

Die wichtigsten Porträts des bekannten Literaturkritikers aus zwanzig Jahren: spannend erzählte Begegnungen mit Büchern und deren Verfassern - von Marcel Proust bis Christoph Ransmayr.Er ist ein Erzähler: Das prägt von früh an die Arbeiten und Analysen des Literaturkritikers Volker Hage. Stets ist bei ihm das Urteil mit der höchst anschaulichen und verständlichen Darstellung von Werk und Autor verbunden, ob bei Klassikern oder Zeitgenossen. Zahlreiche Begegnungen mit Schriftstellern zählen zu den journalistischen Höhepunkten seiner Tätigkeit als Redakteur bei so renommierten Blättern wie der "Frankfurter Allgemeinen", der "Zeit" oder dem "Spiegel". Immer wieder geht es Hage dabei um die Frage des autobiografischen Hintergrunds, der Mühsal des Schreibens und der Freude am fertigen Werk, der Krisen, Brüche und des Selbstverständnisses. Auch die Erfahrungen des Redakteurs im Umgang mit Schriftstellern fließen ein, wie sie sich in Telefongesprächen und Korrespondenzen manifestieren. Das macht die Porträts nebenbei zu einem spannenden Spiegel der Wechselwirkung von Zusammenarbeit, Nähe und Distanz. Die Auswahl der Porträts zeigt die subjektiven Vorlieben eines intimen Literaturkenners.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783835344082

NICHT ERFINDUNG,
SONDERN BESEELUNG

THOMAS MANN

In Kalifornien, unweit von Hollywood, hatte sich der ins Exil getriebene Schriftsteller Thomas Mann noch einmal ein Haus bauen lassen, und dort erreichte ihn 1951, er war Mitte siebzig, die Nachricht von der in Deutschland publizierten Jubiläumsausgabe der Buddenbrooks: fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans im Oktober 1901. Die deutsche Gesamtauflage seines »Familienromans« war damit auf 1,8 Millionen geklettert, und der Autor, dem Deutschland in den Exiljahren seit 1933 »doch recht fremd geworden« war, notierte am 26. November 1951 gerührt: »Bei den Deutschen, so hämisch sie oft sind, schließlich einzig Verständnis.«
Wollte er geliebt werden? Ausgerechnet von den Deutschen, denen er den Pakt mit Hitler nicht verzeihen konnte? Er hatte sein Haus in München zurücklassen müssen und den Verlust »der gewohnten Lebensbasis« als Schock erlebt, ebenso wie die gleich nach 1933 gegen ihn gerichteten »kläglichen Aktionen daheim, Ausbootungen, Absagen«. Es war ein quälendes Paradox: Deutsche Bürger, die den Roman über das Bürgertum doch ihm verdankten, hatten Thomas Mann aus Deutschland vertrieben und ihm seine Würde abgesprochen, ausgerechnet ihm, der so viel auf sein »Deutschtum« gab, der die deutsche Sprache liebte und beherrschte wie kaum einer.
Er war, wie sein Held Tonio Kröger, ein »verirrter Bürger«, hin- und hergerissen zwischen »Anständigkeit und Abenteuertum«. Und er war ein deutscher Schriftsteller, den die mystische »Altertümlichkeit« der deutschen Seele faszinierte, aber auch abstieß, als sie sich in der »hysterischen Barbarei« des Nationalsozialismus entlud. Wie ihn als Künstler die »Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit« im bürgerlichen Alltag nie losgelassen hat, so suchte er auch immer wieder die Anerkennung durch das Land seiner Herkunft und die Auseinandersetzung mit dessen Dämonen.
Ob der Künstler der Antipode des Bürgers ist, ob er seiner Kunst das Leben, auch die Liebe opfern muss, das war für ihn von Anfang an eine große Frage gewesen, die er schon in seinen frühen Novellen Tonio Kröger (1903) und Der Tod in Venedig (1912) gestellt hatte – und nun erst wieder in seinem in den USA geschriebenen, in Deutschland spielenden, auf Deutschland zielenden Roman Doktor Faustus (1947), der Geschichte eines Teufelspakts. Der Künstler sei der Bruder des Verbrechers und des Verrückten, heißt es darin – und über den Romanhelden, den Komponisten Adrian Leverkühn: »Wen hätte dieser Mann geliebt? Einst eine Frau – vielleicht. Ein Kind zuletzt – es mag sein … Wem hätte er sein Herz eröffnet, wen jemals in sein Leben eingelassen?«
Das war ein Stück Selbstporträt, und dennoch schrieb Thomas Mann 1950 in einem Brief die Worte: »Unbeliebt soll man sich machen bei den Dummen und Schlechten, und ich habe es immer unbedenklicher, rücksichtsloser getan, je älter ich wurde. Aber ungeliebt war ich nicht, bin ich nicht, will ich nicht sein, leugne, es zu sein.«

Drei Fehleinschätzungen

Noch einmal ein halbes Jahrhundert später, 100 Jahre nach dem Erscheinen seines ersten und bis heute erfolgreichsten Romans, wurde der Schöpfer zum Fernsehhelden: in dem TV-Dreiteiler Die Manns von Heinrich Breloer und Horst Königstein, verkörpert durch den Schauspieler Armin Mueller-Stahl, der ihm ein liebevolles, überraschend gütiges Gesicht lieh. Aus Anlass der ersten Ausstrahlung dieses Films durch den Fernsehsender Arte schrieb der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der »FAZ«: »Thomas Mann, er, der Emigrant, der in Deutschlands Unglück Deutschlands Glück war – jetzt erst ist er ganz heimgekehrt. Diese Heimkehr ist ein nationales Ereignis.« Lebendig unterstützt wurde die freundliche Mann-Verkörperung im Film durch die eingestreuten Erinnerungen von Elisabeth Mann Borgese, der (in einem Wort des Vaters) »Letztausharrenden« der sechs Dichterkinder: Sie wusste als Kronzeugin und hellwache Gesprächspartnerin Breloers Liebevolles, ja geradezu Zärtliches über ihren Vater zu berichten.
Thomas Manns Heimkehr als Fernsehstar war das TV-Ereignis der Vorweihnachtszeit 2001: Allein die erste Folge auf Arte sahen rund anderthalb Millionen Zuschauer, für den elitären Kulturkanal das drittbeste Ergebnis seiner Geschichte. Und für die ARD war es ein gutes Zeichen: Dort lief der Film wenig später an drei Abenden zur besten Sendezeit, insgesamt mehr als fünf Stunden. Die Geschichte einer Schriftstellerfamilie wurde zelebriert als kulturelles Großereignis.
Thomas Mann, der 1955 bald nach seinem 80. Geburtstag in der Schweiz gestorben ist und dessen »unbezweifelbare Sehnsucht« es war, »den Lebenskreis zu runden«, wäre entzückt gewesen. Sein Roman Buddenbrooks hatte sich inzwischen allein in deutscher Sprache mehr als vier Millionen Mal verkauft, die Weltauflage wird auf rund zehn Millionen geschätzt. Im Jubiläumsjahr 2001 hatte sich der Verkauf laut Auskunft des Verlags S. Fischer gegenüber dem Vorjahr verdoppelt.
Die Buchhandlungen waren pünktlich zum TV-Event gut gerüstet, die Schaufenster voll mit Werken aus der literarischen Werkstatt der Familie Mann und über sie. Denn nicht nur Thomas Mann, auch seine Mutter, seine Brüder (Heinrich und Viktor) und seine Kinder hatten geschrieben. Und über sie alle ist ebenfalls jede Menge geschrieben worden. Er aber, Thomas Mann, war und ist es in erster Linie, der einer ehemaligen Lübecker Kaufmannsfamilie zum glänzenden Comeback verhalf, zu einer Erfolgsstory, die das 20. Jahrhundert auf beispiellose Weise gespiegelt und geprägt hat. Und so drehte sich am Ende doch wieder einmal alles hauptsächlich um ihn, den bedeutenden deutschen Schriftsteller.
Der Aufstieg der Manns zur großen deutschen Dichterdynastie begann mit drei Fehleinschätzungen. Die erste betrifft den Vater von Thomas und Heinrich Mann, den erfolgreichen Kaufmann und Senator, der 1891 überraschend im Alter von 51 Jahren gestorben war und ein Testament hinterlassen hatte, in dem er seinen beiden Ältesten jegliche literarische Begabung absprach: Heinrich, dem Erstgeborenen, sagte er »träumerisches Sichgehenlassen« nach. Von Thomas glaubte er, dass der sich in einen »praktischen Beruf« hineinfinden werde. Nur dem jüngsten Sohn, Viktor, gerade ein Jahr alt, traute er offenbar einiges zu (»Das Kind hat so gute Augen«).
Der junge Thomas dachte gar nicht daran, sich der väterlichen Einschätzung zu beugen, ging vielmehr vorzeitig von der Schule ab und zog, die Firma in Lübeck war inzwischen verkauft worden, Richtung Süden: nach München, wo die Mutter fortan lebte, weiter nach Rom, wo auch sein Bruder Heinrich sich als Schriftsteller übte. Er schrieb nun ebenfalls, kürzere Prosastücke zunächst, und er plante vieles, darunter eine kürzere Knabennovelle, die Geschichte eines »sensitiven Spätlings« namens Hanno.
Das war die zweite Fehleinschätzung. Die Arbeit am Manuskript, begonnen im Oktober 1897, Thomas war 22 Jahre alt, nahm überraschende Form und Dimension an: Aus einer knappen Vorgeschichte, in der der Autor kurz auf Hannos Ahnenreihe eingehen wollte, erwuchs eine komplette Generationensaga – gespeist aus vielerlei Informationen über die eigene, seit 1775 in Lübeck ansässige Kaufmannsfamilie.
Knapp drei Jahre später, es war im Sommer 1900, hatte er den Roman abgeschlossen. Thomas Mann nannte ihn Buddenbrooks und schickte das dicke, beidseitig mit violetter Tinte beschriebene Konvolut nach Berlin, zum Verlag von Samuel Fischer: das einzige Exemplar, das er hatte, per Post – immerhin als Wertpaket.
Die Antwort des Verlegers war die dritte Fehleinschätzung: Er glaube nicht, schrieb Fischer, dass sich viele Menschen finden würden, die Zeit und »Concentrationslust« hätten, einen Roman dieses Umfangs zu lesen. Seine Empfehlung: um die Hälfte kürzen! Dem aber widersetzte sich der Autor entschieden und ohne sich lange zu bedenken.
Und so erschien 1901 tatsächlich, zunächst in zwei Bänden, jener Roman, in dem der »Verfall einer Familie« (wie der Untertitel lautet), die Krise des Bürgertums am Beispiel der fiktiven Lübecker Familie Buddenbrook erzählt wird – für Thomas Mann die Keimzelle seines eigenen märchenhaften Aufstiegs, Fundament einer neuen, am Ende weitaus bedeutenderen Großfamilie, weit entfernt vom Kaufmännischen, dennoch als paradoxe Neuauflage gutbürgerlicher Lebensform inszeniert.

Poet mit Personal

Es wäre falsch, den Abstieg der Romanfamilie mit dem Schicksal der realen Lübecker Kaufmannsfamilie Mann gleichzusetzen: Während die Firma der Buddenbrooks unter Wert liquidiert wird und der letzte Buddenbrook, Hanno, romanwirksam in jungen Jahren an Typhus stirbt, blieb der Mutter der beiden Schriftstellersöhne nach dem testamentarisch verfügten Verkauf des Mannschen Familienunternehmens genug Vermögen, um als Witwe in München nicht zu darben und ihre fünf Kinder gut zu versorgen: Neben den drei Söhnen waren da noch die Töchter Julia, Lula genannt, und Carla.
Sohn Thomas aber wollte, bewusst oder unbewusst, höher hinaus, wollte die Geborgenheit im Bürgertum für sich selbst ins Leben zurückholen – nicht bloß im Roman rückblickend als gefährdete, scheinbar verlorene Welt rekonstruieren. Und er war sich über die eigenen Impulse durchaus im Klaren, als er selbstbewusst, den wachsenden Erfolg der Buddenbrooks im Rücken, um die wunderschöne, acht Jahre jüngere Mathematikstudentin Katia Pringsheim warb, seine »Märchenbraut« und eine der besten Partien Münchens. Über das fürstliche Anwesen der Familie Pringsheim in der Arcisstraße wusste er sich einzugestehen: »Die Atmosphäre des großen Familienhauses, die mir die Umstände meiner Kindheit vergegenwärtigte, bezauberte mich« – dort fand er auch das »im Geiste kaufmännischer Kultureleganz Vertraute« wieder.
Und entsprechend richtete er sich das Leben zusammen mit seiner Ehefrau Katia ein (die Heirat fand 1905 statt), seiner lebenslangen Gefährtin und intimsten Vertrauten. Sie war, wie es der gemeinsame Sohn Golo 1986 formulierte, »die größte Liebe seines Lebens und jene, die bei weitem am längsten dauerte«. Die Dichtersgattin – auf ihrem Briefkopf stand später »Frau Thomas Mann« – unterstützte ihren Ehemann in seinen großbürgerlichen Träumen nach Kräften. »Die Buddenbrooks, das sind doch keine Herrschaften!«, so soll sie mehr als einmal gesagt haben. Für sie waren die Romanfiguren aus dem baldigen Bestseller lediglich (laut Golo Mann) »gute Bürgersleute in einer kleinen Stadt«, und das war zugleich ein Urteil über die Vorfahren ihres Mannes. Sie war anderes gewohnt und hatte anderes vor. Thomas Mann war es nur recht.
Ein Poet mit Personal: Er speise schon zum Morgentee Zuckerbrötchen und trage fast ausschließlich Lackstiefel, behauptete Thomas Mann 1907 von sich, ein wenig selbstspöttisch zwar, doch auch mit Selbstbehagen: »Mein Hausstand ist reich bestellt, ich befehle drei stattlichen Dienstmädchen und einem schottischen Schäferhund.« Und da wohnten die Manns noch lange nicht in der nach ihren Wünschen gebauten Villa in der Poschingerstraße, die 1914 bezogen wurde.
Beide Eheleute stammten aus kinderreichen Familien; Katia hatte vier Geschwister wie ihr Mann, lauter Brüder. Sie selbst brachte sechs Kinder zur Welt (außerdem gab es zwei Fehlgeburten) – jeweils als »Pärchen«, wie die Mutter sagte, in aufeinanderfolgenden Jahren: 1905 /06 Erika und Klaus, 1909 /10 Golo und Monika, 1918 /19 schließlich Elisabeth und Michael. Sechs Kinder – und das bei diesem »ichwärts gekehrten väterlichen Wesen« (Monika Mann), bei einem Schriftsteller, dem die Arbeit nicht eben leicht von der Hand ging (Thomas Mann: »Ein Schriftsteller ist ein Mensch, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten«): Das ist nur einer der Widersprüche dieses an inneren Gegensätzen, Spannungen, Irritationen so reichen Dichterlebens.
Noch erstaunlicher war vielleicht die von den Kindern später immer wieder hervorgehobene Liberalität in Thomas Manns Haus, ein Gewährenlassen, das in schrillem Gegensatz zu jeder bürgerlichen Wohlanständigkeit stand. Die Kinder kehrten zwar noch als Erwachsene immer wieder gern für kürzere oder längere Zeit ins Elternhaus zurück, aber niemand wurde festgehalten, eigentlich auch niemand erzogen. Ob sie, die Kinder, »letzte, verwöhnte Sprösslinge einer hoch intellektualisierten Bourgeoisie« seien, fragte sich der junge Klaus Mann Anfang der dreißiger Jahre. Er fand seine Kindheit, obwohl »nach außen noch ziemlich behütet«, »fragwürdiger, gefährdeter«, als man sich eine »bürgerliche Kindheit« gemeinhin vorstelle.

Ins unselig Bohemehafte gedrängt

Die Geschichte der Manns ist nicht bloß eine von gewaltigen literarischen Leistungen und hoher Arbeitsdisziplin, sondern auch von Drogenmissbrauch, Selbstmorden und sexueller Not – und eine, um die sich zahlreiche Legenden ranken. Behauptungen einzelner Forscher allerdings, dass es zum Geschwister-Inzest kam oder der junge Thomas Mann in Italien sich eines Tier- oder gar Menschen-Blutopfers schuldig machte, sind nie schlüssig belegt worden. Dennoch: »Was für eine sonderbare Familie sind wir!«, notierte Klaus Mann 1936 im Tagebuch. »Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.« Im selben Jahr offenbarte er auch, immerhin schon ein beachteter junger Schriftsteller: »Ich bejahe jede Verschwendung, die ich mit meinen Kräften getrieben habe, und treibe. Hierher gehört sowohl die wahllose Unzucht, als auch die Neigung zum Gift.«
Was sollte Thomas Mann dem entgegensetzen? Hatte nicht schon ein Pastor in Lübeck nach dem Tod des Senators die ehemals so wohlgelittenen Manns eine »verrottete Familie« genannt? Die Mutter war als Witwe in München nicht unbedingt durch züchtigen Lebenswandel aufgefallen, ebenso wenig deren Töchter.
Beide Schwestern von Thomas Mann nahmen sich später das Leben: Carla, die wenig erfolgreiche Schauspielerin, 1910, mit 28 Jahren; Lula, Mutter dreier Töchter und morphiumsüchtig, 1927. Carlas Freitod war – nach dem frühen Tod des Vaters – ein schwerer Schock, der Thomas Manns bürgerliche Sicherheit ins Wanken zu bringen drohte; ihm schien durch die Tat »unsere Verankerung gelockert«. Zugleich beklagte er Carlas »stolzen und spöttischen Charakter«, nannte sie »entbürgerlicht« und »ins unselig Bohemehafte gedrängt«. Es gab eben doch Grenzen, und weder der Selbstmord (für den Dichter kein so fremder Gedanke, früh schon bekannte er »Sympathie mit dem Tode«) noch die Einnahme von Rauschgift ließen sich mit Manns durchaus liberaler Vorstellung von Bürgerlichkeit in Einklang bringen.
So auch bei Ehefrau Katia: Ihr galt die Drogensucht von Klaus als das »Kleinbürgerliche«, für dessen offen zur Schau gestellte Homosexualität galt das nicht, Freunde von Klaus wurden daheim willkommen geheißen. Es hat nichts genützt: Auch er, Klaus Mann, nahm sich 1949 das Leben – als erstes der Kinder Thomas Manns; viele Jahre später, in der Silvesternacht 1976 /77, folgte ihm der jüngste Sohn, Michael, der sich zunächst als Musiker hervortat und in den USA spät noch zur Germanistik wechselte.
Eine erstaunliche Familie in jeder Hinsicht – das Wort von der »amazing family«, 1939 von dem britischen Diplomaten und Schriftsteller Harold Nicolson in die Welt gesetzt, machte bald die Runde und wurde später von den Manns selbst gern aufgegriffen; auch die Eltern verwendeten es in Briefen an die Kinder. »Jeder Zoll ein bürgerlicher Dichterfürst« sei Thomas Mann schon in der Weimarer Republik gewesen, befand Marcel Reich-Ranicki, und: »Was den Briten ihre Windsors, das sind den Deutschen, jedenfalls den Intellektuellen, die Manns.«
Gewiss hat die Faszination, die diese Familie bis heute umgibt, auch mit Voyeurismus zu tun: Wo sonst lassen sich derartige Einblicke hinter die Fassade einer Familie tun? Kaum von seinen besten Freunden wisse man so viel wie von Thomas Mann, schrieb Hermann Kurzke, einer der zahlreichen Mann-Biografen. Und das gilt keineswegs nur für die zentrale Figur dieser Familie, den fleißigen Tagebuch-Schreiber Thomas Mann. Vielmehr war das Motto der Manns insgesamt: jeder über sich, jeder über jeden – und keineswegs immer freundlich. Klaus Harpprecht, ein anderer Mann-Biograf, nannte das »die eingeborene Taktlosigkeit der Familie Mann«.
Das begann schon früh mit den Brüdern Heinrich und Thomas Mann, den bedeutendsten Schriftstellern der Familie, aber viele Jahre lang auch erbitterten Konkurrenten. So schrieb 1904 Thomas in einem Brief über den vier Jahre Älteren, dessen »künstlerische Persönlichkeit« provoziere bei ihm Hass, seine Bücher seien in so außerordentlicher Weise schlecht, »dass sie zu leidenschaftlichem Widerstand herausfordern«. Und wenn sein Bruder Heinrich 1915 in einem Essay über Zola schrieb, es sei »Sache derer, die früh vertrocknen sollen, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewusst und weltgerecht hinzutreten«, so sah sich der erfolgreiche Buddenbrooks-Autor wohl nicht ganz zu Unrecht gemeint.
Noch 1938 hielt Thomas Manns Sohn Klaus in seinem Tagebuch fest, der Vater sei gegenüber Heinrich (den er sehr schätzte) oft »gedankenlos-grausam« – und setzte die Frage hinzu: »Wem gegenüber nicht?« Es war nicht leicht, ein Sohn Thomas Manns zu sein. Den Töchtern fiel es bei Weitem nicht so schwer, an ihn heranzukommen, ihn liebevoll, ja zärtlich zu erleben: Erika, der Ältesten, und mehr sogar noch Elisabeth, der Jüngsten und ihm erklärtermaßen Liebsten (»Das Kindchen unendlich rührend, wie immer«).
Wenn die Gefahr drohte, dass der junge Golo allein mit dem Vater, vor dem er in Jugendjahren »große Scheu« hatte, zu Abend essen musste, dann notierte er sich vorher ein paar Punkte, »damit das Gespräch nicht stockt und ein schreckliches Schweigen entsteht«. Als er das einmal seinem Bruder Michael beichtete, lachte der nur: »Ich mache es genauso!« Michael Mann erinnerte sich später an die lange Familientafel in dem großen Haus, die der Vater wie selbstverständlich dominierte: Die Jüngeren »saßen am andern Ende der Tafel mit unserem Kinderfräulein und durften nicht mitreden, außer wenn wir gefragt wurden«. Nur ein einziges Mal in der Münchner Zeit ist es offenbar vorgekommen, dass dort, »wo sonst nur der lübische Hausherr und Familienvorstand saß« (Golo), ein anderer Platz nehmen durfte: Es war der von Thomas Mann geschätzte Kollege Hugo von Hofmannsthal – eine Auszeichnung für den Gast.
Auch das Schlafzimmer des Vaters wagte der kleine Michael nur ein einziges Mal zu betreten, nämlich 1929, als die Mutter ihn und Elisabeth vorschickte, um dem Ruhenden die Nachricht vom Nobelpreis zu überbringen. Da gab es dann keine Probleme, keinen Protest. Sonst aber: Fürchterlich war »das Donnerwetter, wenn wir ihn gestört hatten«, wie Sohn Golo später in seinen Erinnerungen schrieb. »Wir mussten uns nahezu immer ruhig verhalten; am Vormittag, weil der Vater arbeitete, am Nachm...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Auftakt mit Porträts: Marcel Proust
  5. Nicht Erfindung, sondern Beseelung: Thomas Mann
  6. Ins Reine, Wahre, Unveränderliche: Franz Kafka
  7. All diese Lügen und Legenden: Samuel Beckett
  8. Der ewige Romanträumer: Wolfgang Koeppen
  9. Der Zwang zur Formulierung: Max Frisch
  10. Für mich ist das Leben geheim: Albert Camus
  11. Die Angst muss im Genick sitzen: Gert Ledig
  12. Das Glück, das vor ihm lag: James Salter
  13. Umständehalber jetzt nicht zu drucken: Martin Walser
  14. Weil ich das letzte Wort haben will: Günter Grass
  15. Störfälle und Sommerstücke: Christa Wolf
  16. Das erträgt man eigentlich nicht: Walter Kempowski
  17. Wir haben nur uns selbst: Imre Kertész
  18. Ein Zeuge fürs eigene Leben: John Updike
  19. Die entwürdigende Katastrophe: Philip Roth
  20. Ich habe das lange verdrängt: Dieter Forte
  21. Jedes Buch muss für sich einstehen: Joyce Carol Oates
  22. Aber ich bin doch nicht nur ich: Peter Handke
  23. Der Sinn für Vermissen: Botho Strauß
  24. Zurück in die eigene Geschichte: Christoph Ransmayr
  25. Nachbemerkung
  26. Impressum