»Liebe ist stärker als Angst oder Grenzen«
CHRISTINA BRUDERECK
Heute bin ich noch einmal in meiner Wahlheimat Essen unterwegs. Genauer gesagt: in Rüttenscheid. Der Stadtteil ist beliebt mit seinen gepflegten Altbauwohnungen, es gibt Yogastudios und Bioläden an jeder Ecke, und auf der Rüttenscheider Straße, kurz Rü genannt, die sich quer durch den Stadtteil zieht, habe ich manchmal das Gefühl, dass sich Essen als Düsseldorf verkleidet. Porsches stehen auf den Parkplätzen und andere teure Autos. Kein Vergleich zum Essener Norden mit Stadtteilen wie Karnap, Altenessen oder Katernberg. Auf der Landkarte mögen nur wenige Kilometer Luftlinie zwischen diesen Vierteln liegen, im echten Leben sind es verschiedene Welten. Zusätzlich getrennt durch die A 40, den Ruhrschnellweg mit einem der höchsten Verkehrsaufkommen in Deutschland. Deswegen sagt hier auch niemand Ruhrschnellweg, sondern Ruhrschleichweg.
In Rüttenscheid drehe ich erst einmal ein paar Runden durchs Viertel. Nach zwanzig Minuten habe ich endlich einen Parkplatz in relativer Nähe zum heutigen Treffpunkt gefunden. Es ist eine alte Stadtvilla mit großem Garten. Die alten Magnolien sind schon fast verblüht. Es fühlt sich für mich ein wenig nach Heimat an. In dem Gebäude lebt die evangelische Theologin und Autorin Christina Brudereck gemeinsam mit anderen Menschen, die das Leben miteinander teilen – örtlich, menschlich und auch spirituell. Kirubai heißt diese Gemeinschaft aus Erwachsenen und Kindern. Ich kenne Christina Brudereck schon lange und schätze sowohl ihre Texte als auch ihre oft sehr pointierten theologischen Standpunkte, die ich als sehr bereichernd empfinde.
Mit ihr möchte ich mich heute über das christliche Abendland unterhalten, über Gutmenschen, Religionen und die Kraft der Naivität. Wir nehmen im Wohn-Esszimmer Platz; durch die riesengroßen Fenster kann man in den Garten sehen. An der Wand ein Triptychon, das die Autorin selbst gemalt hat. Bei der Verteilung der Kreativität ist es bei manchen Menschen mit dem lieben Gott offensichtlich durchgegangen. Gemeinsam mit ihrem Mann Ben Seipel bildet Christina Brudereck nämlich auch noch das Duo »2Flügel«. Poetische Texte, die mit der Musik von Seipel zu einem nie ganz zu fassenden Erlebnis zwischen Konzert und Lesung werden.
Ich lehne mich auf dem gemütlichen Sofa zurück. Als Erstes suche ich Klärung von der Theologin. Der Begriff des »christlichen Abendlandes« geistert schon lange durch die Medienlandschaft. Allerdings meist mit einer eher negativen Konnotation. Für viele Menschen bedeutet das »christliche Abendland« anscheinend vor allen Dingen die Abgrenzung vom Morgenland. Eine Abschottung. Ganz anders, als ich den Begriff verinnerlicht habe. Was ist denn nun richtig und auf welche Werte berufen wir uns eigentlich, wenn wir vom christlichen Abendland reden?
EHRLICH GESAGT FINDE ICH ES FRAGWÜRDIG, WENN MAN »CHRISTLICHES ABENDLAND« SAGT UND »GEGEN MUSLIME« MEINT.
Christina Brudereck
Die 49-Jährige muss nicht lange überlegen. Sie hat einen klaren Standpunkt: »Es ist so schade, dass ein Wort, das einmal etwas Gutes beschrieben hat, auf einmal so ein Kampfbegriff wird. Ja, wenn heute nach dem ›christlichen Abendland‹ gefragt wird oder nach der ›jüdisch-christlichen Tradition‹, kann das abgrenzend, ausgrenzend gemeint sein. Auch schnell islamfeindlich. Aber es gibt diese Frage auch in einem guten Sinn. Woher eigentlich bekommt diese Welt ihre großen Ideen?« Man merkt, dass sie diesen Gedanken schon länger mit sich rumträgt. »Was soll unser Zusammenleben halten? Was verleiht Europa eine Seele? Da sag ich immer: Woher nehmen, wenn nicht lesen? Wenn man nämlich mal guckt, was die Wurzel der ›christlich-jüdischen Tradition‹ ist, landet man bei der Bibel. Und ihr Herz ist die Liebe. Die sich zeigt im Schutz der Fremden, in Frieden, Mitmenschlichkeit und Gastfreundschaft.«
Ich spiele den Advokaten der »anderen Seite« und führe eine Aussage an, die sich inzwischen in weiten Teilen der Bevölkerung verfestigt hat. Nämlich, dass Religionen, egal welche, der Ursprung allen Übels seien, der Treibstoff für Kriege und Verfolgung, für Kreuzzüge und Dschihad, für Unterdrückung, Morde, Folter und Machtmissbrauch. Ohne Religionen ginge es uns wahrscheinlich besser, so die Meinung vieler Menschen.
Wieder antwortet Brudereck schnell und treffsicher: »Können wir uns darauf einigen, dass der Mensch ziemlich viel Böses tut?«, fragt sie rhetorisch. »Ja, wie sagte schon Gregor Gysi: Religion kann das Allerschlimmste aus dem Menschen hervorholen. Sie kann aber eben auch das Allerbeste hervorlocken. Die gute Seite der Religion erzählt von Menschenwürde. Von Gleichwürdigkeit. Vom Teilen. Davon, dass das Leben heilig ist. Und jeder Mensch als Geschöpf Gottes gewollt und wertvoll ist – und zwar jede und jeder Einzelne, unabhängig davon, was eine Person geleistet hat, egal, ob reich oder arm, ob krank, gesund oder behindert, ob man unserer Gesellschaft gerecht wird oder scheitert, ob man auf die Tafel angewiesen ist oder großzügig geben kann. «
DIE ALTERNATIVE ZU EINER SCHLECHTEN RELIGION IST NICHT GAR KEINE RELIGION, SONDERN GUTE RELIGION.
Christina Brudereck
Ich mag ihre Art, auch in alltäglichen Gesprächen immer diesen literarischen Rhythmus in der Sprache zu haben. Mit vielen kleinen Synkopen bringt sie ihren Standpunkt an den Mann oder die Frau. Und unter die Haut. Sie fährt fort: »Wir wissen ja alle, dass Religion zu den Kreuzzügen geführt hat und zu Hexenverbrennungen. Sie führt auch immer noch zu Ausgrenzungen. Aber die Alternative zu einer schlechten Religion ist nicht gar keine Religion, sondern eine bessere Religion. Gute Religion.«
Das klingt mir ein wenig zu sehr nach naivem Gutmenschentum: Liebe, Gastfreundschaft und unantastbare Menschenwürde. Ob das jemanden überzeugen kann, der im Osten in einer Kleinstadt sitzt und sich abgehängt fühlt? Der denkt, dass andere alles in den Hintern gesteckt bekommen, während er die Miete nicht zahlen und sich sonst kaum etwas leisten kann? Ich hake noch mal etwas provozierend nach.
»Das mag naiv klingen, aber ich freue mich ehrlich gesagt über Leute, die so einfache und scheinbar naive menschliche Regungen noch haben und leben«, sagt sie wieder erstaunlich schnell. »Diese erste Reaktion, zu einem Menschen in Not zu sagen: ›Du bist willkommen! Ich helfe dir‹, mag naiv sein und alle Folgeprobleme erst mal ausblenden, aber es ist eigentlich die zutiefst menschlichste Reaktion. Da bin ich gern naiv. Ohne diese Mitmenschlichkeit sähe die Welt doch noch viel schlimmer aus, hm?«
Christina Br...