Mein Cape Cod
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Mein Cape Cod

  1. 232 Seiten
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Mein Cape Cod

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Einst Ort der Inspiration, an dem Herman Melville die Jagd auf Moby Dick beginnen ließ und dessen Licht Edward Hopper über dreißig Jahre lang malte, heute die Badewanne Bostons und begehrtes Urlaubsziel der Neuengländer: Seit jeher besticht Cape Cod mit dem rauen Charme seiner Küstenlandschaft ebenso wie durch seine reiche Geschichte und Kultur. Holger Teschke besucht die berühmte Landspitze von Massachusetts seit über zwanzig Jahren; in seinem Buch führt er Gespräche mit alten und jungen Einwohnern und begibt sich auf die Spuren der europäischen Entdecker und Kolonisten, der alten Walfänger, vergessenen Künstler und verschollenen Seefahrer. Er erinnert an Puritaner und Quäker im unfrommen Streit über kostbaren Tran, erzählt vom Clamming als neuem Volkssport und von Begegnungen mit Henry David Thoreau und Henry, dem Ranger. Der literarische Spaziergang führt den Leser über die Dünen von Race Point hin zu mythischen Leuchttürmen, in die trubeligen Bars von Provincetown und schließlich in die heimliche Hauptstadt Hyannis, das Tor zu Martha's Vineyard, wo schon die Kennedys die frische Atlantikbrise genossen.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783866483590

Provincetown

»Und am 11. November 1620 ankerten wir in jener Bucht, die ein guter Hafen ist, beinahe rund, bis auf die Einfahrt, welche an die vier Meilen weit ist von Land zu Land, bis an die See umstanden von Eichen, Pinien, Wacholder und Sassafras und anderem Gehölz. Es ist ein Hafen, in den wohl an die tausend Schiffe sicher hineinsegeln könnten.«
Mourt’s Relation (1622)
Von den Eichen und Pinien aus Mourt’s Relation, einem der frühesten Berichte über die Ankunft der Pilger auf Cape Cod, finden sich heute kaum noch Nachkommen. Sie wurden von den englischen Siedlern zu Blockhäusern, Palisaden und Booten verarbeitet oder als Feuerholz verbrannt. Übrig blieben die weißen Sanddünen, »the white shores of the Cape«.
Die Wälder, die in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts angepflanzt wurden, bestehen aus niedrigen Kiefern und weißen Fichten, allesamt Windflüchter vor der steten Nordostbrise, die sich dem kargen Boden der Dünen angepasst haben. Hier an der Spitze des Kaps wehen die Stürme besonders heftig und entwurzeln alles, was in den Himmel zu wachsen versucht.
Wenn man auf Route 6 von der Sagamore Bridge über den Cape Cod Canal und vorbei an Barnstable, Eastham und Wellfleet nach Provincetown fährt, sieht man kurz vor der Stadt am Pilgrim’s Lake die Dünenlandschaft der National Seashore. Während der Herbst- und Winterstürme wandern die Dünen mitunter bis an die Straße und verwehen den Asphalt. Dann sieht es für ein paar Tage wieder so aus wie zu Zeiten des indianischen Giganten Moshup, der die Küste des Kaps geformt haben soll. Die Legenden der Wampanoag berichten, dass es sich bei Moshup um einen freundlichen Riesen handelte, der als erstes Geschöpf des Großen Geistes auf das »schmale Land« zwischen Atlantik und Bayside kam und unter den Sternen schlafen musste, weil kein Wigwam groß genug für ihn war. Nachts wickelte er sich in einen Mantel aus Hunderten von Bärenfellen ein, und wenn er im Winter vor Kälte wach wurde, sprang er von einem Ende des Kaps zum anderen, um sich aufzuwärmen. So entstanden die Niederungen und Buchten zwischen Provincetown und Sandwich. Im Sommer schlief Moshup am liebsten auf den Dünen am Meer, und wenn es ihm zu warm wurde, wälzte er sich von einer Seite auf die andere und formte dabei die Strände zwischen Long Nook und Herring Cove. Eines Sommerabends verlor er seine Mokassins und fand sie erst am nächsten Morgen wieder. Als er den Sand ins Meer ausschüttelte, entstanden Martha’s Vineyard und Nantucket.
Moshup hatte mit seiner Squaw Quaunt fünf Söhne, die ebenfalls gutherzige Giganten waren. Aber ihre Friedfertigkeit wurde immer wieder von den Pukwudgies gestört, einem kleinen boshaften Volk, das das Kap für sich beanspruchte und der Legende nach über beachtliche Zauberkräfte verfügte. Während Moshup und seine Söhne Wale aus dem Meer zogen und an den Strand warfen, damit die Wampanoag genug zu essen hatten, sannen die Pukwudgies darüber nach, wie sie den großen Beschützer der Indianer vertreiben könnten. Sie verwandelten sich daraufhin in Irrlichter, lockten die Indianer in die Sümpfe des Marschlands und zerstörten als Bären und Wildkatzen ihre Felder. Schließlich riss dem Giganten der Geduldsfaden. Er zog mit seinen Söhnen auf den Kriegspfad und legte sich bei Popponesset auf die Lauer. Die Pukwudgies jedoch krochen lautlos durch das Schilfgras, bis sie nahe genug waren, um Moshups Söhnen eine böse Medizin in die Augen zu träufeln. Anschließend schossen sie auf die herumirrenden Gigantenkinder mit vergifteten Pfeilen. Als Moshup ihnen zu Hilfe kommen wollte, war es bereits zu spät – weder er noch die Medizinmänner der Wampanoag konnten die geblendeten Söhne heilen. Sie starben auf dem Marschland von Popponesset Bay. Moshup trug ihre toten Körper ins Wasser von Succonesset, wo er sie zur Ruhe legte und Sand auf sie häufte, bis fünf Inseln entstanden, die er mit Bäumen und Gräsern bepflanzte. Man kennt sie heute als Elizabeth Islands südwestlich von Woods Hole, einst von Bartholomew Gosnold nach seiner Königin benannt. Nach dem Tod von Moshups Söhnen kam ein großes Kanu mit weißen Segeln über das Meer gefahren, und auf ihm verschwand der Gigant für immer vom Kap.
Es ist nicht schwer, in dieser Legende historische Spuren und in den Pukwudgies die Puritaner zu erkennen, die Pulver, Pocken und ihren zornigen Gott mitbrachten. Elizabeth Reynard, die die Legenden der Wampanoag gesammelt hat, erzählt in ihrem Buch Das Schmale Land von 1934 auch die Geschichte von Gosnolds Schiffskameraden John Brereton, der nach seiner Rückkehr nach London im Juli 1602 dem Earl von Southampton von den wunderbaren Inseln berichtete, die er auf seiner Reise in die Neue Welt besucht hatte. An Southamptons Tisch saß ein Dramatiker, der auf der Suche nach einem Stoff für sein nächstes Theaterstück war. Brereton berichtete ihm von sturmumtosten Küsten und Geistergeheul vom Ufer her, von Seeungeheuern und dunklen Eingeborenen, die nur mit Lendenschurz und Federn im Haar herumliefen und grausige Götzen anbeteten. Stundenlang fragte der Theatermann den Seemann aus und schrieb schließlich das Stück Der Sturm, in dem einer der ersten Eingeborenen auf einer europäischen Bühne auftreten sollte und seinem weißen Herrn Prospero sowie dem erschrockenen Publikum entgegenschleudert: »Du hast mir deine Sprache beigebracht, und alles, was ich damit kann, ist: fluchen.«
Ich habe mich, als ich auf Cape Cod den Sturm übersetzte, oft gefragt, ob Shakespeare wohl auch Squanto und seinen Gefährten in London begegnet war. Sie könnten ihn angeregt haben, das Schicksal von Caliban auf die Bühne des Globe zu bringen und die ganze Tragik von Eroberung und Sklaverei zum Gegenstand des elisabethanischen Theaters zu machen:
Als du hier ankamst, hast du mich gestreichelt,
Viel hergemacht um mich, hast mir gegeben
Wasser mit Beeren drin, wolltest mich lehren,
Wie man das große und das kleine Licht benennt,
Die brennen Tag und Nacht. Ich liebte dich dafür,
Zeigte dir alle Herrlichkeiten meiner Insel,
Die frischen Quellen, Salzlöcher, das Marschland –
Verflucht bin ich dafür!
Die Pilger um William Bradford und Miles Standish hatten von der Reise von Gosnold und Brereton gehört, bei der auch John Smith mitgesegelt war. Sie waren aus England nach Leyden in Holland ausgewandert, um ihren Glauben praktizieren zu können, und mussten nun einen Einmarsch der Spanier in die Generalstaaten befürchten. Zudem begannen ihre Kinder die tolerante Lebensweise der Holländer zu schätzen und stellten den strengen Glauben ihrer Väter immer häufiger infrage. Also kehrte die Gruppe nach England zurück, um Geldgeber für eine Überfahrt und ein Siedlungspatent des Königs vom Council for New England zu beschaffen. Nach langen Verhandlungen einigte man sich schließlich auf die Konditionen: Der Council würde zwei Schiffe ausrüsten, im Gegenzug sollten die Pilger sieben Jahre für die Kredite arbeiten. Danach durften sie ihre Schulden abbezahlen oder mussten sich andernfalls weiter der Direktion des Rates fügen. Nun fehlte ihnen nur noch ein zuverlässiger Kapitän.
John Smith suchte 1620 noch immer nach einer Gelegenheit, wieder in die Neue Welt zu gelangen. Es hatte über die Finanzierung und die Geschäfte mit den neuen Besitzungen Streitigkeiten zwischen Sir Walter Raleigh und dem Earl of Southampton gegeben: Die adventure merchants, die Risikokapitalgeber der City of London, waren vorsichtig geworden und nahmen für alle Kredite, die Siedlungspläne in Neuengland betrafen, Wucherzinsen. Umso wichtiger war es, Kapitäne und Offiziere zu finden, die sich mit den fremden Küsten und Völkern auskannten. Nicht nur Shakespeare hatte die Ambivalenz zwischen Schönheit und Schrecken der Neuen Welt anschaulich dargestellt, auch die Reiseberichte, die man bei den Buchhändlern von St. Paul’s kaufen konnte, waren Tagesgespräch.
In diesem Zusammenhang suchten die Anführer der Pilger eines Tages John Smith auf, dessen Karte sie gesehen und studiert hatten. Sie sprachen lange mit dem Kapitän, der darauf brannte, eine weitere Reise in die Neue Welt zu unternehmen. Doch er wurde enttäuscht. Das, was Smith für seinen größten Trumpf hielt, sprach aus Sicht der Puritaner am meisten gegen ihn: Er kannte sich auf der anderen Seite des Ozeans zu gut aus und hätte sich wohl kaum dem Kommando der frommen Pilger gefügt, wenn sie erst einmal am Mündungsgebiet des Hudson angekommen wären. Denn dorthin waren ihre königlichen Siedlungspatente ausgestellt; dort durften sie sich niederlassen und ihre Schulden mit Fellen, Holz und Sassafras abbezahlen. Und doch sollte es am Ende anders kommen.
Nach immer wieder verschobener Abreise und mehr als zwei Monate dauernder stürmischer Überfahrt erreichte die Mayflower am Morgen des 9. November die Küste von Cape Cod. Kapitän Christopher Jones, auf den die Wahl schließlich gefallen war, versuchte, an der Rückseite des Kaps in Richtung Süden weiterzusegeln, gab aber angesichts der tückischen Untiefen und Strömungen auf und drehte bei. Seine Passagiere, die zu einer Hälfte aus Pilgern und zur anderen aus Seesoldaten, Handwerkern und Dienern bestanden, konnten ihn nicht zur Weiterfahrt bewegen.
Die Pilger nannten sich selbst in aller Bescheidenheit die »saints«, während sie alle anderen als »strangers« bezeichneten, was im Grunde ein Synonym für »Sünder« war. Jedenfalls weigerten sich die »Fremden«, im Falle eines Landgangs die Autorität der »Heiligen« anzuerkennen, weil ihre Patente und somit ihr Arbeitsauftrag nur für die Hudson-Bucht galten, nicht aber für Cape Cod. Nun war guter Rat teuer. Schließlich sprachen sich William Bradford und John Carver dafür aus, einen für alle Mitgereisten verbindlichen Vertrag über die künftige Regierungsform ihrer Kolonie aufzusetzen. Das bedeutete etwas noch nie Dagewesenes – Selbstbestimmung statt Unterordnung unter eine Krone oder ein Parlament von Königs Gnaden. So kam es am 11. November 1620 zum »Mayflower Compact«, der als eines der Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten gilt und im State House von Boston besichtigt werden kann: »Wir, deren Namen nachfolgend aufgeführt sind, haben uns entschlossen, Gott zum Ruhm und des Fortschritts des christlichen Glaubens wegen … eine Fahrt zu machen, um die erste Kolonie in den nördlichen Regionen Virginias zu gründen, und schließen dafür feierlich und gegenseitig in Anwesenheit Gottes … einen Vertrag und vereinigen uns damit zu einer zivilen politischen Körperschaft, um uns besser zu organisieren, zu erhalten und dem uns Bevorstehenden zu trotzen und so gerechte und gleiche Gesetze, Verordnungen, Verfassungen und Ämter zu erschaffen und festzusetzen, die, wie wir glauben, dem Wohl der Kolonien am besten zugutekommen wird, und schwören, diesem immer gehorsam zu sein.«
Man wählte John Carver zum künftigen Gouverneur und betete zu Gott für eine sichere Landung. William Bradford erinnerte sich an diesen Moment Jahre später in seinem Bericht Of Plymouth Plantation: »So angekommen in einem guten Hafen und sicher an Land gebracht, fielen sie daselbst auf die Knie und dankten dem Herrn im Himmel, der sie über den weiten und wütenden Ozean gebracht und vor all seinen Übeln und Schrecken bewahrt hatte, um ihren Fuß wieder auf die feste Erde zu setzen, ihr angemessenes Element.«
Die Erleichterung, die aus diesen Zeilen spricht, ist unüberhörbar. Die meisten Pilger und ihre Familien waren während der langen Überfahrt seekrank gewesen und litten an Fieber und Durchfall. Es gab kaum noch ein trockenes Kleidungsstück oder Bettzeug unter Deck, von frischem Wasser oder Gemüse ganz zu schweigen. Die Seeleute hatten sie verhöhnt und angesichts der Herbststürme mehr als einmal gedroht, wieder umzukehren. Nun aber lag die Küste des so lang ersehnten Neuenglands vor ihnen, aus dem sie ihr Neues Jerusalem machen wollten.
Kapitän Jones fand einen Ankerplatz vor Long Point und ließ ein Beiboot der Mayflower zu Wasser. Sechzehn bewaffnete Männer begaben sich auf den ersten Landgang. Am flachen, sandigen Ufer fanden sie Stechpalmen, Walnussbäume und Zedern vor. Sie wanderten über die Dünen und hielten Ausschau, sahen jedoch keine Menschenseele. Die Indianer, von denen John Smith und John Brereton berichtet hatten, mussten entweder fortgezogen sein oder hielten sich versteckt. Die Männer kehrten auf das Schiff zurück und wärmten sich an einem Feuer aus Zedernholz, ihrem ersten Feuer in der Neuen Welt.
Der nächste Tag war ein Sonntag, der Sabbat, an dem sie sich jede Arbeit außer dem Gebet verboten hatten. Erst am Montag, dem 13. November gingen die Pilger wieder an Land, um nach frischem Wasser zu suchen. Ihre Frauen entdeckten einen Teich und machten die erste große Wäsche seit drei Monaten. Noch heute gilt der Montag in Neuengland als Waschtag. Die Männer sammelten Muscheln und machten Jagd auf Enten und Gänse. Das größte Wunder waren für sie aber die Wale, die aus den Wassern der Bucht auftauchten und bis ans Schiff herangeschwommen kamen. Ein Matrose, der früher auf einem Walfänger vor Grönland gefahren war, schätzte den Wert an Öl und Fett vor ihrem Bug auf viertausend Pfund, was die hoch verschuldeten Pilger zum Nachdenken brachte. Aber da sie weder Harpunen noch Erfahrung mit der Waljagd hatten, gedachten sie lieber des Propheten Jona und nahmen die Wale als göttliches Zeichen für kommende Gnade und Wohlstand. »Denn sie wussten, sie waren Pilger«, wie William Bradford später schrieb. Was sie dagegen nicht wussten, war, was ihnen in ihrem ersten Winter noch bevorstand.
Die Geschichte dieser ersten Tage in der Neuen Welt wird heute in den amerikanischen Schulbüchern mit der späteren Ansiedlung in Plymouth, dem ersten Thanksgiving-Fest nach der ersten Ernte und den Kämpfen gegen die Indianer im sogenannten King Philip’s War von 1675 nachgezeichnet. Die Stadt Plymouth beanspruchte für sich, Geburtsort der Besiedlung von Neuengland und damit auch die Wiege der Vereinigten Staaten zu sein. Feierlich erklärte man einen Findling zum »Plymouth Rock«, auf dem die Pilger angeblich zum ersten Mal an Land gegangen waren. Man baute Museen und Denkmäler, um patriotische Touristen aus dem ganzen Land anzulocken. Diesem anmaßenden Treiben konnten die Stadtväter von Provincetown nicht länger tatenlos zusehen: 1906, rechtzeitig vor dem dreihundertsten Jahrestag der Landung, beschloss man deshalb, ein Zeichen zu setzen, und zwar ein sichtbares.
Der Stadtrat von Provincetown entschied, einen Turm zu errichten: das Pilgrim Monument, noch heute Wahrzeichen und Stolz der Stadt. Als Sieger ging aus dem Architekturwettbewerb der Entwurf von Willard T. Sears hervor, der sich den Torre del Mangia aus Siena zum Vorbild genommen hatte. Ein Sturm von Hohn und Spott brach los. Was denn die Pilgerväter mit Italien zu tun gehabt hätten, fragten die Kritiker. Nichts, antworteten die Spötter, aber vielleicht habe ja auch die Mafia von Boston ein Zeichen setzen wollen. »Wenn die Provincetowner unbedingt mit einer architektonischen Besonderheit protzen wollen, warum bauen sie dann nicht den Schiefen Turm von Pisa nach?«, höhnte ein Architekt, dessen Entwurf nicht in die engere Auswahl gekommen war. »Wenn die Kritiker die anderen Entwürfe im Rathaus gesehen hätten, dann wären sie allesamt verstummt«, resümierte Mary Heaton Vorse in ihren Erinnerungen Time and the Town von 1942. 1907 legte Präsident Theodore Roosevelt den Grundstein, und drei Jahre später ragte der sechsundsiebzig Meter hohe Granitturm in den Himmel über der Bay. Die Provincetowner feierten und freuten sich, dass ihr Turm bis nach Plymouth zu sehen war – denn darauf kam es schließlich an. Auf die Frage eines Reporters des Boston Globe nach dem »Wunderturm« antwortete ein alter, weltbefahrener Kapitän: »Der ist schon in Ordnung. Spricht doch für sich, dass er an einen portugiesischen Leuchtturm erinnert. Provincetown ist schließlich voller Portugiesen.«
Die Portugiesen waren seit dem Ende des Unabhängigkeitskrieges vor allem von den Azoren und Kapverden nach Provincetown gekommen. Sie hatten zuerst auf den Walfängern von Nantucket und New Bedford angeheuert, die auf den Azoren Frischwasser und Fleisch aufnahmen und schon hier neue Leute finden mussten, weil viele amerikanische Walfänger desertierten. So kamen die Portugiesen nach Neuengland, holten ihre Familien nach und versuchten, sich auf dem neuen Kontinent ein besseres Leben aufzubauen. Sie lernten schnell, sich der Lebensart der Yankees anzupassen. Zwar amerikanisierten sie ihre Namen, ihren portugiesischen Humor behielten sie jedoch.
Josef Berger erzählt in seinem Cape Cod Pilot die Anekdote des portugiesischstämmigen Schusters Joe Halfdollar, der die amerikanischen Werbemethoden zur Kunst erhob. »Im Schaufenster seines Ladens stand auf der linken Seite ein großer, von Haizähnen zerfetzter alter Seestiefel, den er am Strand gefunden haben musste – an den Rändern ausgefranst und mit einem klaffenden Loch an der Spitze. Darunter hatte er ein Schild aufgestellt, auf dem stand: VORHER. Rechts daneben ein Damenpumps mit silbernem Absatz, glänzend vor unbefleckter Zierlichkeit. Auf dem Schild davor war zu lesen: NACHHER.« Als Berger dem alten Schuster zu dieser Idee gratulierte, winkte der nur ab und sagte trocken: »Ach, das ist bloß meine Kunst.« Heute würde der Mann mit dieser Installation ins Museum of Modern Art kommen.
Joe Halfdollar war nicht der einzige portugiesische Fantasiename: Da ihre richtigen Familiennamen von den Yankees gnadenlos verstümmelt wurden, wählten sich die Männer und Frauen von den Azoren selbst englische Namen, mit denen sie sich schon bald auch untereinander anredeten: Manuel und Maria Codfish samt ihren kleinen »Kabeljaus«, Mike Molasses oder ganz modern: Miss Mabel Jazzgarter. Die weniger fantasievollen Familien ließen sich einfacher anglisieren: »Aus Perreira wurde Perry, aus Diaz wurde Deers«, schreibt Mary Heaton Vorse in Time and the Town. »Aber sie brachten ihre Lieder und Tänze mit, ihren Gottesdienst und das jährliche Fest, bei dem die Fischerflotte gesegnet und das noch heute gefeiert wird.« Inzwischen findet man wieder die ursprünglichen Namen von Avellar bis Duarte und Silva, und aus manchen Bars erklingen am Abend die Fados von Amália Rodrigues.
Während die Männer das tägliche Brot auf hoher See verdienten, buken die Frauen und Mädchen es zu Hause. Provincetown verdankte den portugiesischen Einwanderern im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur seinen Wohlstand als Fischereihafen, sondern auch seine besten Bäckereien. Jedes Mal, wenn wir unseren Stadtspaziergang machen, holen Karen und ich uns ein Stück Mandelkuchen und einen Kaffee aus der Portuguese Bakery an der Commercial Street. Dann setzen wir uns auf eine der Bänke vor der Town Hall, um der zweitschönsten Nachmittagsbeschäftigung in Provincetown nachzugehen: dem »people watching«. Hier zieht jeden Sommer Tag und Nacht ein endloser Strom von Touristen, Einheimischen und Selbstdarstellern vorbei, die alles überbieten, was in den benachbarten Kinos anzusehen ist: Dragqueens, die als Dolly Parton oder Lady Gaga verkleidet Werbung für ihre Shows machen, Schwule und Lesben in der neuesten Sommerkollektion von Marc Jacobs und mit ihren adoptierten asiatischen Kindern, Besucher und Besucherinnen aus allen fünfzig Bundesstaaten im Wettbewerb um das geschmackloseste Sommerkleid und das hässlichste T-Shirt, faszinierte Europäer, die das alles fotografieren, und gelassene Lieferanten, die ihre Getränkekisten und Lebensmittelcontainer im Slalom um diesen Hexenkessel herum zu den Restaurants und Fast-Food-Buden karriolen. Dazwischen die Teenager von Provincetown, die ausprobieren, wie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Ein Kap auf der Weltkarte
  6. Von Chequesset zu Cape Cod
  7. Provincetown
  8. Truro
  9. Wellfleet
  10. Eastham
  11. Chatham
  12. Yarmouth Port
  13. Hyannis und Nantucket
  14. Barnstable
  15. Mashpee
  16. Falmouth und Woods Hole
  17. Martha’s Vineyard
  18. Sandwich
  19. Cape Cod Canal
  20. Dank
  21. Quellenverzeichnis
  22. Über das Buch
  23. Karte