Mein Island
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Mein Island

  1. 224 Seiten
  2. German
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Mein Island

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Über dieses Buch

Diese Islanderzählung beginnt unter Palmen … … auf einer Feste mit Blick auf den Indischen Ozean: Hierhin verschlug es im 17. Jahrhundert den Isländer Jón Ólafsson, der seine Erinnerungen an den Orient später in leuchtenden Farben niederschrieb. Ausgehend von diesem frühen Zeugnis isländischer Entdeckerlust zeichnet Karl Wetzig die Geschichte der Insel am Polarkreis nach; dabei schöpft er aus den berühmten Isländersagas ebenso wie aus dem reichen Erfahrungsschatz seiner persönlichen Islandjahre. Er erzählt von den Besonderheiten der Sprache, von der Kneipenkultur Reykjavíks, von Wanderungen über zerklüftete Lavafelder und Neujahrsbädern in verschneiten Flusslandschaften. Wetzigs Blick auf das Land und seine raue Natur ist geprägt von großer Liebe und Kennerschaft, und wer die Insel auf seinen Spuren bereist, wird es mit offenen Augen tun – und abseits der bekannten Routen auf manchen Ort stoßen, den es noch zu entdecken lohnt.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783866483552
»Jeder, der in einer Stadt lebt, wird das Gefühl kennen, sich zu lange in ihr aufzuhalten. – Permanent zwischen Häusern und Straßen zu leben, führt zu einem Gefühl des Eingeschlossenseins und der Kurzsichtigkeit.«
Robert Macfarlane, The Wild Places

Ein winterliches Clair-obscur

Als am Vormittag endlich die Dunkelheit wich, glomm hinter der schartigen Klinge der Bergkette rotes Leuchten auf und setzte den Himmel in Brand. Eine funkelnde Lanzette aus Licht zuckte über die Kammlinie. Zwei, drei, vier und weitere folgten und entfachten pyramidenspitze Gipfel zu Fackeln aus flammendem Fels.
In der Höhe ballte sich das Universum zu einem schieren Blau, dessen Abglanz die langen Schatten auf dem blendend weißen Schnee erhellte. Es löste das rotgoldne Leuchten in Äther auf und hinterließ eine Klarheit, die den Atem stocken ließ: Man glaubte kaum, dass es in dieser absoluten Transparenz Atemluft gab. Nichts trübte die Reinheit dieser Bläue. Auf ihrem Hintergrund explodierte ein Hausdach förmlich in einem Rot, das im Blau sofort gefror.
Nachmittags saß ich im Helldunkel eines sonnendurchwebten Cafés und erholte mich von diesem Licht, das den Tag über herabgepfeilt war. In den Straßen hatte ich einen Mann herumirren sehen, der den Anschein machte, im gnadenlosen Glanz des Winterlichts den Verstand verloren zu haben. Er schlotterte in einer verschossenen Windjacke, hatte Mantel oder Überjacke irgendwo liegen lassen. Das fadenscheinige Haar blies ihm der Wind in die Stirn, und graue Bartstoppeln ließen seine hohlen Wangen eingefallen wirken. Mit einem Stadtplan als Brevier unter dem Arm stand er am Rinnstein einer Kreuzung, schwankte gefährlich vor und zurück, dass die Autofahrer vorsichtig einen Bogen um ihn fuhren, und wiederholte im Delirium des Lichts gebetsmühlenartig: »La neige, la lumière divine, le bleu et le blanc …«
Während ich Tee trank und den Passanten zusah, schmolz die Lichtflut des kurzen Wintertags draußen zu einem glutroten Bündel schräg einfallender Strahlen zusammen. Sie ließen mannslange Eiszapfen an den Dachtraufen der Häuser auffunkeln, während die wellblechverkleideten Wände bereits in gerippte Schatten sanken. Die Straßenflucht hinab wusste ich die Aussicht zum eisgrünen Fjord, jenseits den schneegepanzerten Bergstock, scheinbar zum Greifen nah in der polklaren Luft. Drinnen, in dem hohen Raum des Cafés, flochten die Sonnenstrahlen Fäden aus goldenem Licht in den Vorhang der Rauchschwaden. Klänge eines Bandoneons flossen aus Lautsprechern, so gut hierher passend, als schwängen Feuerland und Eisland im gleichen Rhythmus. Auf dem Nebentisch hatte jemand ein Buch vergessen: Versuch über den geglückten Tag.
Der stürmische Wind wehte in der Nacht allen losen Schnee im Schatten der Häuser zu Halden und polierte am Morgen den Stahlschild des Himmels. Jede freie Fläche gleißte im Gegenlicht der heraufziehenden Wintersonne. Von den Bergen jenseits der Bucht stäubten lange weiße Fahnen empor. Erst hielt ich sie für niedrig ziehende Wolken, bis ich beim Verlassen der Stadt erkannte, dass es Schnee war, den der Wind von den Graten riss.
Über einer Galerie von Bogenlaternen markierte eine Reihe dunkler Wassertanks auf einer verschneiten Hügelkuppe die Stadtgrenze. Dahinter ragte das breit hingelagerte Massiv der Esja auf. Über ihren erstarrten Lavaströmen meißelten metallblaue Schatten steile Felsbänder aus geschichtetem Basalt.
Die Straße führte über einen Fluss nach Norden. Die Strömung hielt Risse im Eis offen, zwischen denen Wasser grünlich über milchige Schollen dem Meer zuspülte. Auch die Bucht war über weite Flächen von Eisbrei bedeckt.
Der Wagen schnurrte als roter Schlitten auf dem dunklen Reißverschluss der Straße durch das weiße Tuch über der Landschaft.
Jenseits der großen Meeresbucht schwebte weit draußen in klarem Weiß die beinah abstrakt regelmäßige Form des Snæfellsjökull über der dunkelgrünblauen See.
Andernorts brachten dämmerig weiche Stimmungen oder geheimnisvolle Nebel die Menschen zum Träumen und Spintisieren. Doch Ossian kam nicht von dieser Insel. Hier erzeugten die unbedingte Klarheit der wenigen Farben und die Allmacht des harten Lichts überwirkliche Stimmungen wie kaltes Fieber.
Über der Fahrbahn waberten Schleier von wehendem Schneefegen wie Bodennebel. Als sich der Wagen eine Steigung hinaufschob, wuchsen darüber die in der Bewegung erstarrten Wellen einer tausend Meter hohen Bergkette auf. Von der Anhöhe öffnete sich zwischen dem Bergpanorama und dem treibenden Schnee vor der Frontscheibe der klaffende Spalt eines gewaltigen Axthiebs. Mehr als dreißig Kilometer weit schnitt der Hvalfjörður ins Land.
Auf einem windumbrausten Absatz unterhalb der Straße kauerte ein kleines Kirchlein. So unscheinbar es sich vor dem dunklen Fjord und den mächtigen Eisriesen der Berge auch ausnahm, war es doch einmal Ort einer Begegnung von weltgeschichtlicher Bedeutung gewesen. Im Winter des Jahres 1477 hatte der vormalige Abt des Klosters Helgafell hier einen fremden Seefahrer begrüßt, der auf einem englischen Schiff aus Bristol nach Island gekommen war, um Gerüchten auf den Grund zu gehen, die ihm vermutlich in den Schenken der englischen Hafenstadt zu Ohren gekommen waren. Der frühere Abt und nun Bischof konnte die Gerüchte bestätigen: Jawohl, vor nicht langer Zeit waren Isländer noch regelmäßig zu einem mit Wald bewachsenen Land weit im Westen gesegelt, um von dort dringend benötigtes Bauholz und Holzkohle mitzubringen. In den Annalen seiner Klosterbibliothek habe er Aufzeichnungen über dieses ferne Land im Westen gelesen. – Es gab also Land im Westen des Weltmeers. Mit dieser Auskunft kehrte Christoph Kolumbus umgehend nach Spanien zurück. In seinen Unterlagen hielt er fest: »Im Februar des Jahres 1477 segelte ich nach Ultima Thule.«
Vor Borgarnes schwang sich eine flache Brücke über den nächsten Fjord. Besser noch einmal auftanken. Zur Tankstelle gehörten ein Schnellrestaurant mit mehr als sechzig Sitzplätzen, eine Bank, ein Supermarkt und eine Touristeninformation. Die Touristeninformation war geschlossen, die Bank auf Automatenbetrieb gestellt, im Supermarkt saß ein Schulmädchen blass und unausgeschlafen an der Kasse und blätterte in einem Teenagermagazin, und im Restaurant hockte ein einzelner Fernfahrer über einer Tageszeitung und kaute auf frittierten Hähnchenteilen, die er aus einem Plastikkorb achtlos in seinen fast zahnlosen Mund schob.
Ich setzte mich an eines der großen Fenster. Ein älteres Paar betrat den viel zu großen Gastraum. Es war Sonntag, und die beiden hatten sich anscheinend für einen Ausflug in die Stadt zurechtgemacht. Seine breiten Pranken waren so gründlich geschrubbt, dass sie noch aus der Entfernung rot unter den dunklen Jackenärmeln hervorleuchteten. Ihre Haare waren frisch aufgedreht, das Silbergrau mit einem violettblauen Schimmer überfärbt, der entfernt an das Morgenlicht auf den verschneiten Bergen erinnerte. Beide trugen gleichfarbige Trainingsanzüge aus Ballonseide und an den Füßen, ungeachtet des Schnees draußen, flache Turnschuhe. Sie nahmen jeder ein Tablett und ließen sich von dem Mädchen hinter der Theke gleich mehrere Stücke der vorfabrizierten, mit Zucker vollgestopften Torten auf die Teller laden. Dann erhielten sie noch eine Thermoskanne mit Kaffee und balancierten dieses Festtagsgedeck vorsichtig hinüber zu einem Tisch für zwölf Personen. Dort platzierten sie die Tortenteller um ein Gesteck aus ausgeblichenen Plastiktulpen und begannen schweigend, einen Teller nach dem anderen leer zu putzen. Mir wurde klar, dass sie das Ziel ihres Sonntagsausflugs bereits erreicht hatten.
Die Straße führte zwischen aus dem Schnee ragenden Basaltklippen hindurch und überquerte einen grünen Lachsfluss mit schäumenden Katarakten. Dahinter dehnte sich weites Tiefland: flache Moore, niedriges Gestrüpp. Gesprenkelt wie das Fell eines Schneeleoparden. An einigen Stellen hatte der Wind in den verharschten Schneefeldern savannengelbe Flecken aus erfrorenem Gras freigelegt. Moosbirkendickichte setzten ihnen dunkle Punkte auf.
In der Ferne standen die Gebirgsketten von Snæfellsnes, doch sie hatten alle Zeit der Welt und konnten noch ein paar ihrer langen Atemzüge auf mich warten, während ich zum Meer abbog und auf einer holprigen Nebenstraße dem flüchtigen Licht der Wintersonne entgegenfuhr, die bald wieder in Sinkflug übergehen würde. In dem offenen Gelände war der Schnee weitgehend fortgeweht worden, und es schien, als habe jemand einen großen Spiegel auf den Fahrdamm geworfen: überall blinkten im torfbraunen Schotter die Splitter überfrorener Schlaglöcher. Größere Spiegelscherben lagen als vereiste Tümpel und kleine Seen neben der Straße im Moor. Strohiges Gelb verdorrter Halme, morastiges Braun und das Grau abgestorbener Zweige sprenkelten den winterstarren Sumpf. In Mulden und Vertiefungen lagen Schneereste als stumpfe, körnige Masse.
Das kalt glitzernde Quecksilberband der See wurde zusehends breiter. Bald glitt das Land immer häufiger hinein, tauchte unter durchsichtige Eishäute, sodass ich nicht länger unterscheiden konnte, ob ich noch zwischen Seen dahinfuhr oder bereits eine weite Lagune mit Sandbänken durchquerte. Weit draußen unterbrachen einige flache Dächer und ein winziger Kirchturm auf einer niedrigen Wurt den Horizont.
Der Fahrdamm führte geradewegs darauf zu und endete auf dem Hofgelände. Eine letzte Fahrspur verlor sich dahinter in einer niedrigen, spärlich mit Strandhafer bewachsenen Düne. Ich hielt an, stellte den Motor ab und stieg aus.
Der Wind hatte nachgelassen. Das lauteste Geräusch war das Rascheln, mit dem in einem schmalen Vorgarten erfrorene Blätter aneinanderschabten. Das doppelstöckige Haus dahinter sah fest verschlossen aus, als habe es seit Winteranbruch kein Mensch mehr betreten. Im Eingang war eine Sichel aus angewehtem Schnee bis hinauf zur Klinke fest mit der Tür verbacken. Dennoch empfand ich das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden, und mochte nicht glauben, dass der Hof gänzlich verlassen war. Aus den Augenwinkeln meinte ich, hinter den blinden Scheiben des Nebengebäudes eine Bewegung wahrzunehmen. Bevor ich genauer hinsehen konnte, kam ein gelber Hund hinter dem Gebäude hervor. Er freute sich, von einem lebendigen Wesen Besuch zu bekommen. Schwanzwedelnd lief er auf mich zu, schnupperte an meinen Hosenbeinen und ließ sich gutmütig die Schulter klopfen. Doch er war nicht der einzige Bewohner dieses Geistergehöfts. Ein alter Mann kam um die Hausecke, in Gummistiefeln und einem schmutzstarrenden, farblosen Overall, der um seine zusammengefallene Gestalt schlotterte wie die Blätter um die vertrockneten Pflanzenstängel. Als er herangekommen war, grüßte er in den umständlichen Formeln eines altmodischen Isländisch: »Sei mir willkommen, guter Mann, Glück und Segen!«
Unter buschigen Augenbrauen und tief herabhängenden Augenlidern blinkte unverstellte Freundlichkeit aus kleinen graublauen Augen.
»Ich wusste nicht, dass die Straße hier endet«, sagte ich. »Doch wo ich nun einmal hier bin, würde ich gern ein wenig am Strand spazieren gehen.«
»Jaja, zu einer der beiden Gruppen musstest du ja gehören, mein Guter. Entweder zu den Kirchenbesichtigern oder zu den Strandspaziergängern. Das sind nämlich die einzigen Sorten von Fremden, die sich hierher verirren. Ich habe nichts gegen die eine und nichts gegen die andere, denn beides geht mich nichts an. Früher, als ich noch mein eigener Herr auf eigenem Grund und Boden war, hätte ich freilich etwas dagegen einzuwenden gehabt, wenn mir die Leute einfach das gute Holz von meinem Strand geklaubt hätten. Was kann man nicht alles mit einer geraden Bohle aus Treibholz anfangen? Aber heute, wo ich gerade noch als Pächter in diesem prächtigen Haus aus Wellblech wohne, kann mir das egal sein, zumal der jetzige Besitzer auch nichts anderes tut, als unnütze Figuren aus dem wertvollen Holz zu schnitzen, wenn er sich im Sommer hier aufhält. Geh also nur und sieh, was im letzten Monat alles angespült wurde von diesem freundlichen Meer da hinter der Düne. So lange bin ich nämlich nicht mehr hingekommen, weil ich keinen Diesel mehr für den Traktor habe.«
»Seit einem Monat warst du nicht mehr im Ort? Wovon lebst du denn die ganze Zeit? Bist du hier allein, brauchst du vielleicht Hilfe?«, fragte ich.
»Ach, weißt du, früher, als ich noch ein selbstständiger Bauer war, habe ich immer gesagt, Unabhängigkeit ist besser als Fleisch, und ein freier Mann lebt gut genug von Salzfisch. Heute reicht es mir, wenn ich mich vor Weihnachten, ehe hier unten dauerhaft der Schnee kommt, im Kaufladen mit dem Nötigsten eindecke. Damit komme ich dann meist bis zur Schneeschmelze aus. Im Übrigen habe ich meine gute Hündin zur Gesellschaft. Und wenn du jetzt bis hierher durchgekommen bist, muss die Straße wieder befahrbar sein. Sonst kommen die ersten Spaziergänger erst nach den Zugvögeln, du bist ein wenig früh im Jahr.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht stören.«
»Och, schon gut. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich nehme an, du hast genug Sprit, um heute Abend wieder in die Stadt zurückzukommen. Mach also einstweilen deinen Spaziergang, und wenn du willst, führe ich dich nachher durch die Kirche.«
Das erste Stück bis zu einer großen Scheune begleitete mich die gelbe Hündin. Anfangs lief sie freudig voraus, dann blieb sie immer häufiger stehen, winselte und schaute abwechselnd auf mich und zu dem verfallenen Nebenhaus, in dem der Alte wieder verschwunden war. Schließlich hielt sie die Trennung nicht länger aus und rannte laut bellend zurück.
Als ich um die Scheune bog, sah ich, dass sich dahinter eine schmale Nehrung kilometerweit parallel zum Ufer erstreckte und mit dem ausgestreckten sandigen Finger auf den Snæfellsjökull wies, dessen Gipfel nun in blauem Glast verschwamm. Das Meer davor leuchtete nahe dem Strand türkisgrün, weiter draußen war ihm ein aufgewühlter Sepiaton beigemischt. Auf der anderen Seite der Landzunge breitete sich flaches Haff, in dem Strandläufer und Austernfischer auf hohen Beinen herumstelzten und mit orangeroten Schnäbeln Muscheln aufhackten und Schnecken aus dem Schlick spießten. Ihr fleißiges Tick, Tick und gelegentliche Erfolgsrufe, Kliep, Kliep, begleiteten mich länger als eine Stunde. Auch dann war das Ende der Nehrung noch nicht in Sicht, doch unterwegs hatte ich an vielen Stellen mächtige Baumstämme gesehen, die Brandung und Stürme übereinandergeworfen hatten. Jahrelang gelaugt vom Salzwasser, ragten ihre blanken Stämme aus dem Strandwall wie bleiches Walgebein.
Auf dem Rückweg sah ich hinter der flachen Düne ein paar Pferde reglos und mit hängenden Köpfen auf dem hart gefrorenen Boden einer staubig braunen Koppel stehen. Als ich näher kam, trotteten sie mir mit staksigen Schritten müde entgegen. Sie waren entsetzlich abgemagert. Das lange Winterhaar bereits in Büscheln ausgefallen, an kahlen Stellen scheuerten fast die blanken Knochen durchs Fell. Auf dem aufgescharrten Boden stand kein Halm mehr, nur Haufen von vertrocknetem Pferdemist lagen überall umher. Ein Falbe mit schmutzig grauer Mähne lag abgewandt am anderen Ende der Weide und hatte die Beine lang von sich gestreckt. Vielleicht war er vor Hunger und Schwäche zusammengebrochen. Ich ging hinüber, um zu sehen, ob ich ihm aufhelfen könnte, doch das Pferd regte sich nicht. Als ich von hinten um es herumtrat, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Sie beginnt an einem unvermuteten Ende
  6. Landungen: strandhögg
  7. Sie gibt sich anfangs spröde
  8. Ein winterliches Clair-obscur
  9. Sie wird ins Dasein geschrieben
  10. Isländische Traumpfade
  11. Wind in den Nerven
  12. Von See- und anderen Ungeheuern. Herbst in Hallormstaður
  13. Wo sind die Wörterbücher des Windes, der Gräser?
  14. Zitierte Literatur
  15. Über das Buch
  16. Karte