Mein Irland
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Mein Irland

  1. 160 Seiten
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Mein Irland

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Über dieses Buch

Nach dreißig Jahren als Wahl-Dubliner und Irlandkorrespondent der taz hat Ralf Sotscheck (fast) jeden Stein auf der Insel umgedreht, (fast) jeden Pub besucht und zu (fast) jedem denkbaren Thema recherchiert. Und so kann er von Dingen erzählen, die weit über das bei Irland-verliebten Deutschen verbreitete Klischee von der Insel mit den melancholischen Liedern und den trinkfreudigen Bewohnern hinausgehen. Auf einer Reise entlang der irischen Küste berichtet Sotscheck nicht nur von atemberaubenden Landschaften und der erstaunlichen Eintracht einer aus der Arktis, dem Mittelmeerraum und den Alpen stammenden Flora – er erklärt auch, wie europäische Quotenregelungen zu einem irischen Golfboom führen konnten, warum Barack 'O'Bama' eigentlich Ire ist und was den Gallier Asterix an die felsige Westküste trieb.Wer sich an Sotschecks Fersen heftet, erfährt vom Lebenswasser 'Uisce Beatha', von ehrenamtlichen Heiratsvermittlern, Seilbahn fahrenden Kühen, Sambarhythmen im Country Pub und todkündenden Erscheinungen über dem Meer – und von einem liebenswerten und verrückten Land, das so viel mehr ist als eine grüne Insel im Regen.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783866483569

Die Insel des Nobelpreisträgers

Es ist nun Zeit, den Burren zu verlassen. Wir tun das, indem wir dem Wild Atlantic Way gen Norden folgen, um die Bucht nach Galway, der größten Stadt im Westen der Insel.
In Galway ist der Buchstabe »g« der Inbegriff für das neue Irland geworden – in Form von »The g«, einem Fünfsternehotel, das vom Hutmacher Philip Treacy entworfen wurde. »Es verbindet zeitgemäßes Design mit traditionellen Stilelementen«, heißt es in der Werbebroschüre. Das Hotel hat etwas von dem altmodischen Hollywood-Zauber. Als ich ihm kurz nach seiner Eröffnung einen Besuch abstattete, kam ich mir vor, als liefe ich durch ein glamouröses Puppenhaus. Die Rezeption mit schwarzen Glaswänden, einem Aquarium mit Seepferdchen und venezianischem Putz erinnert an eine Muschel. Einen Wellnessbereich gibt es natürlich auch. Im Salon glitzern Tausende von Swarovski-Kristallen. Dass man so etwas aus einem ehemaligen Bürohaus machen kann! Treacys Muse, das Supermodel Linda Evangelista, überredete ihren Freund, ihr einen Raum zu widmen. Wer in das Bett im Linda-Evangelista-Zimmer schlüpfen will, muss zweitausend Euro die Nacht berappen. Ohne Evangelista.
Galways Innenstadt, ein lebhaftes Zentrum mit Einkaufsstraßen, einem Wochenmarkt und zahllosen Musikpubs, liegt nur zehn Minuten zu Fuß vom Luxushotel entfernt. Für Musikliebhaber ist das Róisín Dubh in der Dominic Street die erste Adresse: ein großer, verwinkelter Pub mit Wänden aus unbehauenem Stein. Durch Holzbalustraden ist der Raum in viele kleine Nischen unterteilt. In der einen gibt es einen Kamin, in der anderen ein Bücherregal. Die Livemusik spielt im vorderen Teil. Eine richtige Bühne mit professioneller Verstärkeranlage verleiht ihr allerdings einen eher offiziellen Charakter.
Wer Muscheln mag, sollte im September nach Galway kommen, denn dieser Monat gehört im Westen der Auster. Erst veranstalten sie in Galway ein Austernfestival und danach im wenige Kilometer südlich gelegenen Clarinbridge. Die Auster, früher ein Arme-Leute-Essen, ist inzwischen eine fast schon rare Delikatesse. Die Natur kommt mit der Produktion kaum nach. In der Bucht von Galway ist die Austernfischerei mit dem Schleppnetz nur noch an einem einzigen Tag im Jahr erlaubt, um die Bestände zu erhalten. Und die großen Austernbänke an der Mündung des Colgan liefern sehr langsam, denn pro Jahr nehmen die wertvollen Masttiere nur etwa zehn Gramm zu. Ich esse sie am liebsten, wenn sie »à la Rockefeller« zubereitet sind – also mit einer Spinatmasse überbacken. Gourmets schütteln sich vermutlich bei dieser Vorstellung.
Westlich von Galway geht es nach Connemara und weiter nach Clifden. »Clifden ist eine kleine, saubere Stadt mit Steinhäusern und einer einzigen breiten Hauptstraße«, schrieb der englische Reiseschriftsteller Henry Vollam Morton 1930, und das gilt auch heute noch. »Der Hügel, auf dem die Stadt steht, neigt sich einem Meeresarm zu, der direkt auf den Atlantik und nach Amerika zeigt.« Clifden gilt als Hauptstadt Connemaras. Das Quay House befindet sich direkt am Hafen. Es ist das älteste Haus am Ort und wurde 1820 für den Hafenmeister gebaut. Später zogen die Franziskaner ein, dann wurde es zu einem Nonnenkloster und schließlich zu einem gemütlichen Hotel mit Kaminen und antikem Mobiliar.
Connemara gehört, nach dem Burren, zu den schönsten Gegenden der Grünen Insel. Es ist eine Landschaft voller Kontraste: zerklüftete Berge, tiefe Seen, felsige Küstenstriche und lange Sandstrände. Im Frühling und im Sommer, wenn die Wildblumen blühen, ist Connemara bunt, im Herbst wechseln die Farben, die Torfmoore werden kastanienbraun. Wer die Ruhe und Einsamkeit sucht, kommt im Winter, muss aber auf das Wetter vorbereitet sein. »Wie es in Irland regnen kann«, wunderte sich Morton. »Stunde um Stunde fällt der Regen in übertriebener Begeisterung als großes Bettlaken vom Himmel.« Um bei der Wahrheit zu bleiben: Es regnet zwar oft in Irland, aber selten lange. Windig ist es allerdings fast immer.
Wir fahren von Clifden weiter in Richtung Norden. Folgt man nach wenigen Kilometern einem kleinen Abzweig nach links, gelangt man nach Cleggan. Dort legt die Queen ab, eine Personenfähre. Die Überfahrt zur Insel Inishbofin dauert eine halbe Stunde, die Einfahrt in den Naturhafen ist alleine schon die Reise wert. Rechts an der Hafeneinfahrt ragt die Ruine einer spanischen Piratenburg aus dem 16. Jahrhundert auf, darunter ziehen sich lange Sandstrände hin. Der Name der Insel stammt vom irischen Inis Bó Finn – die »Insel der weißen Kuh«. Er geht auf die Legende von zwei Fischern zurück, die auf der Insel einer alten Frau begegneten. Sie schlug auf ihre Kuh ein und verwandelte das Tier dadurch in einen Felsen. Als die beiden Fischer eingreifen wollten, wurden sie von der Frau ebenfalls versteinert.
Das Auto kann man nach Inishbofin nicht mitnehmen, man braucht es auch nicht. Day’s Pub liegt nur zweihundert Meter von der Pier entfernt, gleich neben Day’s Hotel. Weiter bin ich nie gekommen. Bis man 1992 die neue Pier gebaut hatte, befand sich die Bootsanlegestelle direkt vor der Tür des Wirtshauses. Die Abende bei Day’s mit traditioneller Musik sind legendär, eine Sperrstunde gibt es nicht, denn der nächste Polizist, der sie überwachen könnte, lebt auf dem Festland. Der Tresen ragt wie ein Schiffsbug in den Gastraum hinein, überall hat man Bootsutensilien aufgehängt. Im linken, etwas höher gelegenen Teil des Pubs steht ein Billardtisch für die Inseljugend.
Aber heute bin ich wegen der Musik hier – drei Geigen, ein Knopfakkordeon und ein Banjo. Zwischendurch, wenn er nicht zapfen muss, singt der Wirt ein Lied. Doch er muss viel zapfen an diesem Abend, erst spät in der Nacht macht der Pub schließlich dicht, und ich sinke nebenan im Hotel ins Bett.
Die Rückfahrt am nächsten Morgen ist stürmisch, doch der Wind vertreibt den Restalkohol. Eigentlich bin ich auf dem Weg zu einer anderen Insel: Achill. Von Cleggan führt der Wild Atlantic Way zunächst nach Osten und biegt dann nach Norden Richtung Delphi ab. Hier spielte sich Mitte des 19. Jahrhunderts eine Tragödie ab. 1849 war bereits das fünfte Jahr der Hungersnot in Irland. Am 30. März erwarteten Notleidende in Louisburgh die Ankunft von zwei britischen Regierungsbeamten, Colonel Hogrove und Captain Primrose. Deren Aufgabe war es, den Hungernden »Armutsbescheinigungen« auszustellen, die zum Bezug von drei Pfund groben Mehls berechtigten.
Aus welchem Grund die Bescheinigungen nicht ausgestellt wurden, ist nicht überliefert. Den sechshundert Menschen, die aus dem Umland nach Louisburgh gekommen waren, teilte man jedenfalls mit, sie sollten sich um sieben Uhr am nächsten Morgen am Delphi-Haus einfinden, der Anglerhütte des Marquis von Sligo am See mit Namen Doo Lough, wo sie von den Sonderbeauftragten der Regierung Hilfe bekommen würden. Ein Drittel der Gruppe musste in Louisburgh zurückbleiben: Die Menschen waren von Hunger und Kälte schon zu geschwächt, ihr Überlebenswille war gebrochen.
Die Übrigen machten sich barfuß und nur notdürftig bekleidet auf den zehn Meilen langen Marsch, gerieten unterwegs in einen Schneesturm und trafen erst am nächsten Mittag am Delphi-Haus ein. Die Regierungsbeamten waren gerade beim Dinner und wollten nicht gestört werden. Nachdem sie gespeist hatten, schickten sie die verzweifelte Gruppe weg, ohne irgendwelche Hilfe gewährt zu haben. In seinen Aufzeichnungen beschreibt James Berry aus Louisburgh, wie die bis auf die Knochen abgemagerten Menschen auf dem Rückweg am Straßenrand starben. Wie viele es waren, ist nicht bekannt, doch in lokalen Überlieferungen ist von Hunderten die Rede. Am Silver Strand im nahe gelegenen Killadoon gibt es heute noch einen kegelförmigen Grabhügel, wo man damals die Toten aufgeschichtet hat, weil die Angehörigen zu entkräftet waren, um die Leichen zu begraben.
Ich habe rund hundertfünfzig Jahre später einen Gedenkmarsch mitgemacht, dessen Bilder nun immer vor mir auftauchen, wenn ich die Gegend um Delphi passiere. Zu den Ehrengästen gehörten damals der Schauspieler Gabriel Byrne, der australische Enthüllungsjournalist John Pilger, dessen Ururgroßvater 1821 wegen einer Rebellion gegen die englische Herrschaft in Irland zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Australien deportiert wurde, sowie Gary White Deer vom Indianervolk der Choctaw aus Oklahoma. Die Choctaw haben einen Ehrenplatz im kollektiven Gedächtnis Irlands: Als damals die Nachricht von der Hungersnot ins ferne Oklahoma drang, schickten die Choctaw, denen es selbst nur wenig besser ging, hundertsiebzig Dollar nach Irland – eine beträchtliche Geldsumme für damalige Zeiten.
Am Rande des Gedenkmarsches spielten Amateurschauspieler die grauenhaften Szenen nach, die sich damals ereignet haben müssen: Zwei Frauen und ein Mann trugen eine Frauenleiche ans Ufer des Sees, auf einem Hügel saß eine schwarz gekleidete Frau und wiegte ihr totes Kind im Arm. Die Straße führte die Teilnehmer des Marschs durch die atemberaubende Landschaft des Doo-Lough-Tals. Die Felderwaren mit Steinen und Felsbrocken übersät, dazwischen weideten ein paar Schafe, hin und wieder waren Torfsoden in langen Bahnen zum Trocknen ausgelegt. Im Tal leben nur noch wenige Menschen.
Die sechzehn Kilometer nach Louisburgh zogen sich scheinbar endlos hin, manche fielen weit zurück oder ließen sich von Begleitbussen ein Stückchen mitnehmen. Als nach vier Stunden endlich das Ortsschild von Louisburgh auftauchte, waren viele der Marschteilnehmer fix und fertig. Dabei hatten sie belegte Brote und Getränke dabei, feste Schuhe an den Füßen, und außerdem schien die Sonne. Wie müssen sich die hungernden Menschen damals gefühlt haben, als sie den Nachbarn, die Freundin, den Verwandten tot am Straßenrand zurücklassen mussten.
Von Louisburgh ist es nur ein Katzensprung zum Croagh Patrick, Irlands heiligem Berg. Jedes Jahr am letzten Sonntag im Juli ruft er die Sünder zur Buße, und mit bis zu sechzigtausend Pilgern ist immerhin ein kleiner Teil auch zur Stelle. Doch auf meiner Fahrt nach Achill lasse ich diesen Ausflug aus. Erstens ist es nicht Juli, und zweitens war ich bereits drei Mal auf dem Croagh Patrick, und jedes Mal fiel mir der Aufstieg schwerer.
Ich nähere mich über Westport, Newport und Mallaranny meinem Ziel. Von Mallaranny führt die Michael-Davitt-Drehbrücke über den schmalen Sund, den Achill Sound, nach Achill Island, die mit hundertzweiundvierzig Quadratkilometern größte Insel vor der Küste Irlands.
Der Besuch dieser Insel ist für mich mit Erinnerungen verbunden. Das letzte Mal war ich im März 1992 auf Achill. Damals wurde das Cottage von Heinrich Böll als Schriftstellerzentrum eingeweiht, und es waren auch einige Protagonisten aus Bölls Irischem Tagebuch dabei. Die junge Arztfrau zum Beispiel.
»Um sich abzulenken, hat die junge Arztfrau angefangen zu stricken, aber bald schon hat sie Nadel und Wollknäuel in die Sofaecke geworfen«, heißt es im Kapitel »Die schönsten Füße der Welt«. Böll beschreibt, wie die Frau voller Sorge auf ihren Mann wartet, der mitten in der stürmischen Nacht zu einer Schwangeren ins Haus an den Klippen am anderen Ende der Insel gerufen wurde. Nach vielen Stunden des Wartens sieht sie endlich den Lichtkegel und hört das Motorengeräusch des Wagens. Der Arzt kehrt mit dem Honorar zurück, einem »riesigen Kupferkessel, der von der Armada stammen soll«.
Fünfunddreißig Jahre später, zur Eröffnung des Böll-Hauses, erzählte mir Clodagh King, die inzwischen nicht mehr ganz so junge Arztfrau, dass sich die Szene genau wie von Böll geschildert abgespielt habe. Mit einer Ausnahme: »Den Kupferkessel gab es nur in seiner Vorstellung. Wahrscheinlich steht er symbolisch für irgendetwas, vielleicht wollte er damit meinem Mann ein Denkmal setzen.« Der Mann, Edward King, ist 1983 gestorben, und auch Clodagh King lebt nicht mehr. Sie starb 1995.
Diesmal treffe ich ihren Sohn, der wie sein Vater Edward King heißt und ebenfalls Inseldoktor ist. »Das Haus, zu dem mein Vater damals wegen der Geburt gerufen wurde, steht immer noch«, erzählt er mir, »aber es wird heute als Viehstall genutzt. Das Leben hier hat sich seitdem sehr verändert. Mein Vater war damals einer der wenigen Inselbewohner mit Telefon, und wenn er unterwegs war, konnte niemand ihn kontaktieren.«
Nachdem das Irische Tagebuch erschienen war, schickte Böll den Kings ein Exemplar. »Es dauerte aber zwei Jahre, bis meine Eltern herausfanden, dass sie darin verewigt sind«, erzählt mir der Sohn. »Ein Deutscher, den sie zufällig getroffen hatten, übersetzte ihnen das Kapitel.«
King ist ein freundlicher, schlanker Mann mit grauen Schläfen. Er ist auf Achill aufgewachsen, hatte aber eigentlich nicht vor, sein Leben auf der Insel zu verbringen. »Nachdem mein Vater gestorben war, kam ich aus Dublin zurück und wollte sechs Monate bleiben«, sagt er. Nun steht er kurz vor der Pensionierung und ist immer noch hier. Er zuckt die Achseln. »Es ist einfach ein großartiger Ort zum Leben und zum Arbeiten. Wir tun hier viel mehr als normale Allgemeinärzte. Das nächste Krankenhaus ist sechzig Kilometer entfernt, sodass wir auch kleinere Operationen machen müssen.«
King wohnt in Keel, und dort hat er auch seine Praxis. Als Heinrich Böll das erste Mal nach Achill kam, wohnte er ebenfalls in Keel – in der Pension Bervie House. »Mein Vater und Heinrich Böll waren fast gleichaltrig«, erzählt King. »Sie waren sich im Bervie begegnet und freundeten sich an. Ich spielte oft mit René Böll, auch wir waren gleichaltrig.«
Wie ist Böll überhaupt nach Achill gekommen? Schon bei meinem ersten Besuch auf der Insel hatte mich diese Frage interessiert. Bei einem Treffen mit Bölls Sohn René war ich ihr nachgegangen.
»Mein Vater ist 1954 zum ersten Mal durch Irland gereist und durch einen Bekannten auf Achill aufmerksam gemacht worden«, erzählte mir René Böll damals. »Wir sind dann ab 1955 zwei oder drei Jahre im Sommer nach Achill gekommen und ein paar Monate geblieben. Wir waren zuerst in Keel, dort hat mein Vater auch das Irische Tagebuch geschrieben. Dann haben wir 1958 das Haus in Dugort gekauft.«
Ursprünglich bestand es lediglich aus einem winzigen Cottage und einem Schuppen mit Garage im Hof. Böll hat den Schuppen und die Garage zu drei kleinen Zimmern ausbauen und eine Verbindung zum Cottage errichten lassen, sodass das Gebäude nun hufeisenförmig ist. In der ehemaligen Garage steht noch heute sein Schreibtisch – eine Holzplatte auf zwei Böcken – mitsamt Holzstuhl. »Einige seiner Romane sind an diesem Schreibtisch entstanden«, erzählte mir René Böll. »Ich weiß allerdings nicht, welche. Er sagte, er hätte hier immer am besten arbeiten können.« Als das Haus für Schriftsteller eingeweiht wurde, habe ich mich auf den Holzstuhl gesetzt und ein Foto von dem Blick gemacht, den Böll hatte, als er am Schreibtisch saß – als Inspiration. Vielleicht konnte er aber auch deshalb so gut arbeiten, weil es keine Ablenkung gab: Der Blick durchs Fenster auf einen grünen Hang ist eher langweilig.
Doch zurück zu meinem heutigen Ausflug auf die Insel und meinem Treffen mit dem Arztsohn King, von dem ich wissen möchte, wie es inzwischen um das Böll-Haus steht. »Meine Mutter war sehr involviert bei der Umwandlung des Hauses ins Schriftstellerzentrum«, erzählt er mir. »Die Grafschaftsverwaltung von Mayo unterstützt das Projekt. Künstler und Schriftsteller können hier für jeweils zwei Wochen arbeiten. Und die Warteliste ist lang.«
Böll sei früher oft in Dugort gewesen, sagt King. »Später, nachdem er den Literaturnobelpreis gewonnen hatte, kam er nur noch selten. Er war ein angenehmer Mensch. Sein Englisch war nicht besonders gut, im Gegensatz zu dem seiner Frau, sie beherrschte es perfekt. Die beiden waren auf der Insel sehr beliebt. Sie gingen oft auch bei Wind und Regen spazieren und jeden Sonntag pünktlich um elf zur Messe.«
Besucht man die Insel, ist es zunächst die von der Küstenwitterung geprägte Landschaft, die ins Auge fällt. Achill scheint nur aus Klippen, Heide und Moor zu bestehen, siebenundachtzig Prozent der Insel sind von Torfmooren bedeckt. Die wenigen Bäume wachsen wegen der stürmischen Atlantikwinde in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Boden. Viele Häuser haben flache Dächer, weil in den Fünfzigerjahren Beton billig war. Sie sind zwar gut gegen die Stürme gewappnet, aber innen sehr feucht.
Auch einen Strandbesuch sollte man einplanen, denn Achill hat einen der schönsten Strände Irlands: Keem Bay liegt im äußersten Westen der Insel, die Bucht ist eingebettet zwischen Bergen. Allerdings muss man abgehärtet sein, um hier zu baden, denn selbst im Sommer ist das Wasser recht kalt. Am südlichen Ende der Keem Bay, hoch oben auf dem Moytoge Head, stehen die Überreste einer britischen Wachstation aus dem Ersten Weltkrieg, durch die Waffenlieferungen an die IRA, die Irisch-Republikanische Armee, verhindert werden sollten.
Im 19. Jahrhundert gehörten die Bucht von Keem und weite Teile der Insel Charles Boycott, der sich den militärischen Titel »Captain« selbst verliehen hatte. Er war keineswegs ein brutaler Landherr, aber im Zuge der Landkriege kam auch er nicht ungeschoren davon. Auf dem Festland in Mayo, wo er 1874 mehr als zweihundertfünfzig Hektar Land samt einem stattlichen Herrenhaus gepachtet hatte, liefen ihm die Angestellten davon, sodass er die Ernte nicht einbringen konnte. Er musste schließlich aufgeben und nach England ziehen, wo er 1897 starb. Aber sein Name blieb: Boycott ist der Namensgeber für den Begriff »boykottieren«.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es sogar eine Eisenbahnverbindung nach Achill, sie wurde 1894 eingeweiht. Der ers...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. Boomtown und Exodus
  8. Willkommen im O’Bama-Land
  9. Fleischer soll man nicht sehen
  10. Der wilde Highway am Atlantik
  11. Dreißig Meter über dem Meer
  12. Löcher im Rasen
  13. Vierbeiner und Heiratsvermittler
  14. Irlands nützliche Brasilianer
  15. Die Nacht des großen Windes
  16. Die versiegenden Zapfhähne
  17. Die Insel des Nobelpreisträgers
  18. Von den Ogoni lernen
  19. Entenrennen an der Grenze
  20. The Town I Loved So Well
  21. Orange ist Politik
  22. Eine Stadt und ihr Schiff
  23. Menschen im Goldfischglas
  24. Whiskey hinter Gittern
  25. »Wir kommen hier nie mehr weg«
  26. Dublins Antwort auf Père Lachaise
  27. Der Kopf des Großadmirals
  28. Der Herzog in Gummistiefeln
  29. Über das Buch
  30. Karte